Er wuchs zunächst in Aplerbeck auf. 1892 erfolgte ein Umzug nach Düsseldorf und im gleichen Jahr weiter nach Duisburg. In Duisburg arbeitete sein Vater zunächst als Oberingenieur und später als Vorstandsmitglied bei der Niederrheinischen Hütte, einem Hochofenwerk. Ab 1893 lebte er mit drei Geschwistern in einer Villa mit Park, Gärtnerei, Kutschenhaus und Tennisplatz. Er hatte Gouvernanten aus England und wurde mit einer Kutsche zur Schule gebracht.[1] Canaris besuchte das Steinbart-Gymnasium, wo er als Schüler ein Außenseiter war. Er wurde als stiller, schweigsamer, reservierter und verschlossener Schüler beschrieben. Bei den Schulausflügen, die im wilhelminischen Deutschland zu Manövern gerieten, assistierte Canaris bereits dem Direktor der Schule bei den Planungen. Seine Reifeprüfung legte er 1905 ab.[2] Schon als Kind experimentierte er mit unsichtbarer Tinte und legte sich falsche Namen zu.
Die Herkunft der Familie Canaris lässt sich bis ins 16. Jahrhundert zurückverfolgen und ist in die Gegend von Sala Comacina am Comer See einzuordnen. Von dort zogen Angehörige der Familie Canarisi in verschiedene Teile Europas, unter anderem nach Griechenland, Frankreich und Deutschland. Der entscheidende Familienzweig geht auf Thomas Canaris zurück, der am 13. Dezember 1659 in Sala Comacina geboren wurde. Er zog ins deutsche Gebiet des Heiligen Römischen Reichs und starb am 3. November 1735 in Bernkastel. Drei weitere Generationen väterlicherseits kamen aus Bernkastel. Wilhelms Urgroßvater, Franz Josef Ignaz Canaris (1791–1828), und sein Großvater Johann Martin Josef Canaris (1817–1894) wurden in Münstermaifeld geboren.[3]
Der Stammvater des griechischen Zweigs war Mikes Kanaris. Zu dessen Nachfahren gehört auch Konstantinos Kanaris (1790–1877), der als Seeheld und Staatsmann in die Geschichte Griechenlands einging. Er dürfte der Grund für die vermutete griechische Abstammung von Wilhelm Canaris sein. Eine Verwandtschaft dieses griechischen Zweigs mit Wilhelm Canaris kann nicht ganz ausgeschlossen werden. Ein weiterer Zweig der Familie lässt sich nach Korsika zurückführen; darunter waren angeblich auch Vorfahren von Napoleon Bonaparte.
Obwohl vorher niemals ein Mitglied der Familie Berufsoffizier war, wollte Wilhelm Canaris bereits früh diesen Beruf ausüben. Sein kaisertreuer und nationalliberaler Vater Carl war Oberleutnant der Reserve. Er wollte, dass sein Sohn zur Kavallerie ging, und schenkte ihm zu seinem 15. Geburtstag ein Pferd. Canaris hingegen wollte zur Kaiserlichen Marine. Seit einem Griechenland-Besuch 1902 war er vom griechischen Seehelden Konstantinos Kanaris begeistert. Canaris wurde ein begeisterter Reiter und ritt bis zum Lebensende. Um seinem Vater gerecht zu werden, meldete er sich als Offiziersanwärter beim Königlich Bayerischen 1. Schwere-Reiter-Regiment „Prinz Karl von Bayern“ in München an. Fast zeitgleich bemühte er sich 1904 um einen Platz bei der kaiserlichen Marine. Carl Canaris verstarb im September 1904 im Alter von 52 Jahren an einem Schlaganfall. 1905 wurde Canaris von der Seekadetten-Annahme-Kommission in Kiel akzeptiert, bevor er das Abitur bestanden hatte.[5]
Canaris trat am 1. April 1905 als Seekadett in die Kaiserliche Marine ein. Seine Mutter musste vorher den damals üblichen Verpflichtungsschein unterschreiben, in dem sie verbindlich zusagte, 4800 Mark für die ersten vier Jahre der Marinelaufbahn aufzubringen. Mit 50 anderen Seekadetten wurde Canaris auf der KreuzerfregatteStein ausgebildet. Nach einer etwa einjährigen Ausbildung an Bord der Stein und der Ernennung am 7. April 1906 zum Fähnrich zur See folgten 18 Monate Ausbildung an der Marineakademie. Ein dortiger Ausbilder bescheinigte Canaris in der Personalakte:[Höhne 1]
„Theoretisch sehr gut begabt, von eisernem Fleiße.“
„Er ist von kleiner Figur, sehr bescheiden und zurückhaltend, so daß man einige Zeit braucht, ihn kennen zu lernen. Sehr tüchtig und gewissenhaft. Er verspricht, ein guter Offizier zu werden, sobald er etwas mehr Zuversicht und Selbstvertrauen bekommen hat.“
1908 half Canaris dem Kommandanten der Bremen, ein V-Mann-System in Argentinien und Brasilien aufzubauen. Dabei kam ihm zugute, dass er sehr schnell die spanische Sprache erlernte. Neben Spanisch sprach Canaris auch gut Englisch, ferner leidlich Französisch und etwas Russisch. Die Bremen gehörte 1909 zur internationalen Blockadeflotte, welche die Küste Venezuelas blockierte. Canaris, der am 28. September 1908 zum Leutnant zur See ernannt wurde, wurde Adjutant der Bremen und bewährte sich bei den Verhandlungen derart, dass er vom venezolanischen Präsidenten und General Juan Vicente Gómez mit dem Bolivar-Orden V. Klasse ausgezeichnet wurde. Die Bremen nahm im September 1909 mit drei anderen deutschen Kriegsschiffen an der rund 1000 Schiffe umfassenden Parade zur 300-Jahr-Feier von New York auf dem Hudson River teil. Im Januar 1910 wurde Canaris Zweiter Wachoffizier auf dem TorpedobootV 162. Im Juni 1910 wurde er als Kompanie- und Wachoffizier auf das Torpedoboot S 145 versetzt. Wegen eines Lungenspitzenkatarrhs wurde er für ein halbes Jahr in Erholungsurlaub geschickt. Die Beförderung zum Oberleutnant zur See erfolgte am 29. August 1910. Nach der Rückkehr an Bord von S 145 urteilte sein Kommandant in der Personalakte:[Höhne 3]
„Für den Spezialdienst auf Torpedobooten hat er Geschick und sicheren Blick bewiesen, er eignet sich zur späteren Verwendung als Kommandant eines Bootes.“
Im Dezember 1911 wurde Canaris auf den Kleinen Kreuzer Dresden versetzt. Wegen des Zweiten Balkankrieges wurde die Dresden ins östliche Mittelmeer befohlen. Canaris erhielt den Spezialauftrag, an Land die Bauarbeiten an der Bagdadbahn zu beobachten. Im September 1913 wurde er Adjutant von Fregattenkapitän Fritz Lüdecke, dem Kommandanten der Dresden. Ende 1913 wurde die Dresden an die Ostküste Mexikos geschickt, um deutsche Bürger während des dortigen Bürgerkriegs zu schützen. Die Dresden nahm Deutsche und Bürger anderer Staaten an Bord, darunter zeitweise 2000 US-amerikanische Bürger. Am Ende des Bürgerkrieges im Juli 1914 brachte die Dresden den gestürzten Präsidenten und General Victoriano Huerta nach Jamaika. Canaris bewährte sich während dieser Zeit als Dolmetscher. Am 28. Juli 1914, vier Tage vor Ausbruch des Ersten Weltkrieges, erhielt die im Hafen von Port-au-Prince auf Haiti liegende Dresden die Order, einen Heimathafen anzulaufen. Drei Tage später kam der Befehl, einen Kreuzerkrieg im Atlantik zu führen.
Auf SMS „Dresden“ im Ersten Weltkrieg (1914–1915)
Die Dresden steuerte nach Ausbruch des Krieges die Gewässer vor Argentinien an, um Kreuzerkrieg zu führen, und brauchte dafür Kohle. Canaris kontaktierte per Funk Kaufleute in Argentinien und Brasilien, die er von früheren Fahrten her kannte, um Kohle zu organisieren. Am 10. August 1914 konnte die Dresden in einer Bucht bei Jericoacoara (Brasilien) 570 Tonnen Kohle vom deutschen FrachtschiffCorrientes übernehmen. Die Dresden versenkte vor Argentinien zwei britische Frachter und hielt drei weitere an. Die letzteren wurden freigegeben, da sie Ladung für neutrale Staaten an Bord hatten. Als V-Leute von Canaris meldeten, dass sich Kriegsschiffe der Royal Navy näherten, wich die Dresden in den Pazifik aus, um sich dort mit dem Geschwader von VizeadmiralMaximilian von Spee zu treffen. Canaris konnte diesem Geschwader über seine V-Leute in Chile und Argentinien einen feindlichen Flottenaufmarsch melden. Beim Seegefecht bei Coronel (Chile) konnte das deutsche Geschwader aus einem britischen Schiffsverband zwei von vier britischen Schiffen versenken. Es war die erste Seeschlacht des Ersten Weltkrieges und die erste Niederlage der Royal Navy nach der Schlacht bei Plattsburgh 1814 gegen die USA. Canaris wurde für seine Aufklärungsleistungen mit dem Eisernen Kreuz II. Klasse ausgezeichnet. Canaris schrieb seiner Mutter nach der Schlacht:[Höhne 4]
„Die Friedensaussichten sind wohl noch immer gering. Es wird wohl noch lange dauern, bis England erledigt ist.“
Das deutsche Geschwader steuerte die Falklandinseln an, um den Flottenstützpunkt Port Stanley zu zerstören. Dort kam es am 8. Dezember zum Seegefecht bei den Falklandinseln mit weit überlegenen britischen Verbänden. Vier deutsche Kriegsschiffe wurden versenkt, nur die Dresden konnte entkommen. Nach der Schlacht floh die SMS Dresden in den Pazifik. Sie versteckte sich vor fast der gesamten britischen Flotte im Südatlantik in einer unzugänglichen Bucht von Südchile, die nicht kartographiert war. Die von Canaris instruierten V-Leute lieferten ständig Berichte über britische Flottenbewegungen. Am 18. Januar 1915 konnte die Dresden Kohlen vom Frachter Sierra Cordoba übernehmen. Am 27. Februar versenkte die Dresden das britische Segelschiff Conway Castle. Am 8. März konnte sie noch einmal dem britischen PanzerkreuzerKent entkommen. Da die Kohle bis auf 80 Tonnen verbraucht und zudem die Munition verschossen war, fuhr die Dresden am 9. März in die Cumberland-Bucht der Robinson-Crusoe-Insel (damals Isla Más a Tierra), die zum neutralen Chile gehörte, um das Schiff internieren zu lassen. Am 14. März wurde die kampfunfähige Dresden von drei britischen Kriegsschiffen unter Verletzung der Neutralität Chiles beschossen. Canaris wurde mit einer Barkasse zum Kleinen Kreuzer Glasgow geschickt, um Zeit zu gewinnen, denn der Kommandant bereitete die Selbstversenkung vor.[Mueller 2]
Danach wurde Canaris mit den anderen Besatzungsmitgliedern auf der Insel Quiriquina bei der mittelchilenischen Stadt Concepción interniert. Am 3. August 1915 floh Canaris aus dem nur schlecht bewachten Internierungslager. Bei der Flucht Richtung Argentinien erhielt er Hilfe von Chilenen deutscher Abstammung. Mit einem Pferd überquerte er allein die Kordilleren. Von Buenos Aires fuhr er, als chilenischer Staatsbürger Reed Rosas getarnt, mit dem niederländischen Frachter Frisia nach Amsterdam, ohne bei der Kontrolle durch Abwehroffiziere der Royal Navy in der Zwischenstation Plymouth entdeckt zu werden. Am 4. Oktober 1915 erreichte er Hamburg und erstattete wenig später dem Admiralstab Bericht.[Mueller 3]
Als Gehilfe des Marineattachés in Spanien im Ersten Weltkrieg (1915–1916)
Canaris wurde am 30. November 1915 nach Spanien beordert. Er sollte dort eine Nachschuborganisation für die im westlichen Mittelmeer operierenden U-Boote aufbauen und über V-Leute Informationen über feindliche Schiffe beschaffen. In Spanien führte er unter seinem Tarnnamen Reed Rosas ein Agentenleben. Er baute in den spanischen Küstenstädten ein Netz von V-Leuten für den Marinenachrichtendienst auf, wobei ihm die deutschfreundliche Stimmung in Spanien zugutekam. Canaris konnte eine Nachschuborganisation mit spanischen Schiffen aufbauen, die ab Frühjahr 1916 deutsche U-Boote mit Nachschub versorgte. Canaris bat um die Versetzung zur Torpedowaffe. Am 21. Februar 1916 verließ er wieder als Chilene Reed Rosas getarnt Madrid, um über Frankreich und Italien in die Schweiz zu reisen. Kurz vor der Schweizer Grenze wurde er verhaftet, da der französische Geheimdienst Funksprüche entschlüsselt hatte. Anscheinend gelang Canaris in Genua die Flucht aus der Haft, wobei genaue Belege fehlen. Er kehrte nach Spanien zurück. Am 1. September wurde er bei Cartagena unter dramatischen Umständen vom deutschen U-Boot U 35 abgeholt. Canaris konnte mit zwei anderen Offizieren von einem kleinen Segelschiff auf U 35 überwechseln. Dies gelang, obwohl das französische U-Boot Opale und ein französischer Hilfskreuzer in der Bucht nach Canaris und dem U-Boot suchten. Ein französischer V-Mann in der deutschen Botschaft hatte die Information an den französischen Geheimdienst gemeldet. Am 16. November 1915 wurde er zum Kapitänleutnant befördert.[6]
U-Boot-Kommandant im Ersten Weltkrieg (1916–1918)
Am 24. Oktober 1916 wurde Wilhelm Canaris für seinen Einsatz in Spanien mit dem Eisernen Kreuz I. Klasse ausgezeichnet. Nach einem einmonatigen Kurs bei der Unterseebootsabteilung, blieb er aber bei der Torpedobootwaffe und war vom 29. November 1916 bis 1. Januar 1917 Kommandant des Torpedodivisionsbootes D 9.[7] Anschließend kam er bis 1. Juni 1917 zur Ausbildung an die U-Boots-Schule und wurde dann Kommandant von U 16.[7] Mitte September 1917 wurde er zur Verfügung des Führers der Unterseeboote im Mittelmeer gesetzt und war vom 1. Oktober 1917 bis 27. November 1917 Admiralstabsoffizier und Vertreter des Führers der Unterseeboote im Mittelmeer in Cattaro in der Adria.[7] Der Leiter der U-Boots-Schule, Korvettenkapitän Theodor Eschenburg, stellte im Gesamturteil fest:[Höhne 5]
„Eignet sich besonders gut als Kommandant eines großen U-Bootes bzw. U-Kreuzers.“
Er erhielt am 28. November 1917 das Kommando über das Minen-U-Boot UC 27,[7] welches in Pola lag und mit dem er eine erfolglose Fahrt unternahm.[8] Wenig später, am 14. März 1918, erhielt er stellvertretend das Kommando über U 34.[7]
Vom 18. Januar bis 13. März 1918 führte er das Kommando über U 34.[7] Am Abend des 28. Januar konnte er mit einem Torpedoangriff östlich von Algier mit dem französischen Transportschiff Djibouti sein erstes Schiff versenken. Am 30. Januar torpedierte er den britischen Kohletransporter Maizar nördlich von Oran. Das von der Besatzung verlassene Schiff wurde eine Stunde später mit Geschützbeschuss versenkt, nachdem man zunächst auf 50 Meter getaucht war und die Wasserbombenangriffe der Begleitschiffe überstanden hatte. Am 6. Februar erfolgte vor der spanische Ostküste die Versenkung des französischen Schiffes Ville de Verdun per Torpedo. Bei diesem Angriff gab es 10 Tote auf der Ville de Verdun.[Mueller 4] Canaris’ Vorgesetzter, Korvettenkapitän Rudolf Ackermann, meldete:[Höhne 6]
„Die Unternehmung ist sachgemäß und mit gutem Erfolg durchgeführt worden. Die Leistungen sind unter Berücksichtigung dessen, daß der Kommandant zum erstenmal ein großes Boot führt, besonders anzuerkennen.“
Vom 14. März 1918 bis 30. April 1918 war er als Admiralstabsoffizier im Stab des Führers der U-Boote Mittelmeer.[7]
Im Mai 1918 fuhr Canaris zur Baubelehrung nach Kiel, um dort UB 128 zu übernehmen. Der erste Überführungsversuch wurde abgebrochen, da ein Besatzungsmitglied wegen seines Blinddarms ins Krankenhaus musste. Auf der Rückfahrt nach Kiel gab es schwere technische Probleme, wobei einmal das U-Boot fast gesunken wäre. Bei einem zweiten Versuch wurde UB 128 zwischen der norwegischen Küste und der Einfahrt in den Atlantik von einem britischen Torpedo knapp verfehlt. Näheres über den Torpedo-Angriff auf UB 128 ist nicht bekannt. Am 21. August wurde der französische Kohlefrachter Champlain im Atlantik torpediert und danach mit dem U-Boot-Geschütz beschossen.[Mueller 5] Der französische Kapitän wurde gefangen genommen und der Frachter von einem Sprengkommando versenkt. Mit UB 128 erreichte Canaris am 4. September endlich Kotor.[Mueller 6]
Als der Verbündete Österreich-Ungarn als Staat im Oktober zusammenbrach, musste die deutsche U-Boot-Flottille ihren Stützpunkt in der Adria räumen. Zehn nicht einsatzfähige U-Boote wurden versenkt und die Anlagen in Pola und Cattaro gesprengt. UB 128 fuhr mit 15 anderen U-Booten Richtung Kiel. Am Abend des 8. November versuchte Canaris die Absperrung der Straße von Gibraltar durch amerikanische und britische Kriegsschiffe zu durchbrechen. Dabei wurde UB 128 von starken Scheinwerfern, die auf der spanischen Seite der Meerenge standen, erfasst und entdeckt. Das U-Boot wurde mit sieben Wasserbomben angegriffen. Die beiden Tiefenruder fielen aus, und UB 128 sackte 60 m tief ab. Das U-Boot konnte abgefangen werden und nach dem Davonfahren des Angreifers wieder auf Sehrohrtiefe gehen. Erst am nächsten Morgen konnte das U-Boot die Sperre doch noch überwinden. Am 12. November erreichte Canaris auf See ein Funkspruch über den tags zuvor geschlossenen Waffenstillstand des Deutschen Reichs.[Mueller 7]
Aktiver Kampf gegen die Republik (1918–1921)
Kurz nach der Ankunft der U-Boote in Kiel hielt der Sozialdemokrat und Gouverneur von Kiel, Gustav Noske, eine Rede, in der er die Marinesoldaten über die Lage im Deutschen Reich informierte. Danach erfolgte die Außerdienststellung der U-Boote. Canaris wurde von der Marine zum Verbindungsoffizier von Gouverneur Noske ernannt. Schon kurz nach der Ankunft hatte er sich einem Kreis von extrem rechten republikfeindlichen Marineoffizieren um Korvettenkapitän Wilfried von Loewenfeld angeschlossen. Canaris wurde bald einer der engsten Mitarbeiter von Loewenfelds.[Mueller 8] Formal war er vom 1. Dezember 1918 bis 14. Februar 1919 zur Verfügung der Inspektion des U-Bootwesens gesetzt.[7]
Beim Spartakusaufstand der Spartakisten befand sich Canaris in Berlin, wo Noske inzwischen im Rat der Volksbeauftragten für die Ressorts Heer und Marine saß. Noske erteilte Canaris den Auftrag, Kontakt zum Stab der Garde-Kavallerie-Schützen-Division, die zu den Freikorps gehörte, zu halten. Dieser Kontakt erfolgte mit Hauptmann Waldemar Pabst, Erster Generalstabsoffizier der Division. Bei den nun folgenden Kämpfen ab dem 11. Januar 1919 gegen die Spartakisten in Berlin befand sich Canaris an vorderster Front. Dabei erlangten die regulären Truppen rasch die Oberhand über die Spartakisten und brachten die Stadt unter Kontrolle. Am 15. Januar wurden Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht von Freikorpsmitgliedern auf Befehl von Pabst erschossen. Wo sich Canaris zum Zeitpunkt der Morde aufhielt, ist nicht feststellbar.[Mueller 9]
Am 3. Februar 1919 erreichte Canaris bei Noske die Genehmigung zur Aufstellung der 3. Marine-Brigade in Kiel. Canaris sorgte dafür, dass Loewenfeld deren Kommandeur wurde.[Mueller 10]
Als die Weimarer Nationalversammlung am 6. Februar die Beratungen aufnahm, befand sich Canaris dort, um für die Armee Einfluss zu nehmen. Dabei zeigte sich seine Anpassungsfähigkeit, da er sich situativ auf seine Gesprächspartner einstellen konnte. Als am 15. Februar das Reichsmarineamt, kurz darauf in Admiralität und 1920 in Marineleitung umbenannt, gegründet wurde, wurde Canaris dorthin kommandiert.
Im Mai 1919 wurde Canaris auf Veranlassung von Pabst zum Beisitzer des Kriegsgerichts, vor dem sich die der Ermordung von Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht angeklagten Freikorpsmitglieder verantworten sollten. Canaris probte vorher mit den Angeklagten im Moabiter Gefängnis den Prozess, um die Spuren zu höheren Verantwortlichen wie Pabst zu verschleiern. Ein Großteil der Beschuldigten wurde von diesem Gericht freigesprochen. Nur zwei Angeklagte wurden zu Freiheitsstrafen von 2 Jahren und 4 Monaten verurteilt. Am 17. Mai holte Canaris, als Oberleutnant Lindemann getarnt, den zu 2 Jahren und 4 Monaten verurteilten Oberleutnant Kurt Vogel aus dem Gefängnis und ermöglichte ihm die Flucht. Trotzdem wurde Canaris nur für vier Tage im Moabiter Gefängnis inhaftiert. Seine Haft wurde in eine Ehrenhaft im Berliner Schloss, dem Stabsquartier der 3. Marinebrigade, umgewandelt. Wenig später wurde er von Kriegsgerichtsräten der Garde-Kavallerie-Schützen-Division, also von der Division, die hinter den Morden steckte, freigesprochen. Angeblich sei Canaris zur Tatzeit gar nicht in Berlin gewesen.
Reichswehrminister Noske versetzte Canaris nun in seinen persönlichen Stab. Nach Chefadjutant Oberst Erich von Gilsa war Canaris der zweitwichtigste Mitarbeiter von Noske. Canaris bearbeitete dort als Marineoffizier Fragen zu den Marinebrigaden. Als 1920 die Freikorps aufgelöst werden sollten, planten rechte Kreise um den Generallandschaftsdirektor Wolfgang Kapp den Kapp-Putsch. Am Vorabend des Putsches am 12. März wurde VizeadmiralAdolf von Trotha mit Canaris ins Lager der Marinebrigade in Dallgow-Döberitz zu deren Kommandanten Hermann Ehrhardt geschickt, um diesen vom Putsch abzuhalten. Obwohl beide die Marinebrigade abmarschbereit antrafen, meldete Canaris Noske „keinerlei Anzeichen für Putschabsichten“. Schon kurz nach Mitternacht begann der Putsch. Canaris schlug sich wie die meisten Marineoffiziere sofort auf die Seite der Putschisten, während sein Vorgesetzter Noske zusammen mit dem Chefadjutanten Gilsa floh. Canaris rechtfertigte dies später damit, dass er vor der Wahl gestanden habe, Noske oder der Truppe zu folgen. Durch einen Generalstreik brach der Putsch schnell zusammen. Wenige Tage lang befand sich Canaris in einer Zelle des Berliner Polizeipräsidiums. Als eine Expertenkommission im Reichswehrministerium den Putsch untersuchte, blieb Canaris ungeschoren, da eine Teilnahme an den Vorbereitungen des Putsches nicht nachweisbar war. Der neue Reichswehrminister Otto Geßler ließ Canaris und die meisten anderen Offiziere aus der früheren Umgebung von Noske versetzen.
Am 24. Juni 1920 wurde Canaris erst Zweiter und wenig später Erster Admiralstabsoffizier beim Kommando der Marinestation der Ostsee.[Mueller 11] Canaris beschaffte Material und Waffen aus versteckten Lagern für die Ausstattung der neuen Marine. Um Geld zu beschaffen, fädelte er den Verkauf überzähliger Waffen und Geräte über Dänemark ein. Canaris war Verbindungsmann zur rechtsradikalen TerrororganisationOrganisation Consul (O.C.), die vom wegen Hochverrats gesuchten untergetauchten Ehrhardt geführt wurde. Die Mitglieder der O.C. erhielten Gelder aus den illegalen Waffengeschäften sowie Waffen und Ausrüstung. Auch als die O.C. immer mehr politische Morde an Politikern des Reichs, darunter dem ReichsaußenministerWalther Rathenau und dem ehemaligen Reichsfinanzminister und deutschem Erstunterzeichner des Waffenstillstands von Compiègne, Matthias Erzberger, beging, setzte Canaris die Zusammenarbeit fort.
Militärpolitische Geheimoperationen (1921–1929)
1921 wurde Wilhelm Canaris von seinem Vorgesetzten Korvettenkapitän Ernst Meusel wie folgt beurteilt:[Mueller 12]
„Mit zielbewußter unermüdlicher Arbeitskraft, umsichtigem und klarem Urteil, energischem und doch bescheidenem Auftreten, sicherer und vorausschauender Organisationsgabe hat er unter den schwierigen Verhältnissen an den Erfolgen im Wiederaufbau der Manneszucht und der Lösung aller militärischen Aufgaben und Bestrebungen des Stationskommandos hervorragenden Anteil.“
Im Juni 1923 wurde Canaris Erster Offizier auf dem Kleinen Kreuzer Berlin unter dem Kommando von Wilfried von Loewenfeld. An Bord der Berlin lernte er den Seekadetten Reinhard Heydrich kennen, der von Juli 1923 bis März 1924 an Bord der Berlin war. Canaris hatte ein Faible für Einzelgänger, und er fand Gefallen an dem bei anderen Marinesoldaten unbeliebten Heydrich, da dieser ein arrogantes und selbstgefälliges Auftreten hatte. Bald verbrachte Heydrich viel Zeit im Hause von Canaris und musizierte mit Erika Canaris, während Canaris kochte.
Im Mai 1924 wurde er in geheimer Mission nach Osaka in Japan entsandt. Dort sollte er sich über den Stand des dortigen, von deutschen Experten geplanten und durchgeführten U-Boot-Baus informieren. Der am 1. Januar 1924[6] zum Korvettenkapitän ernannte Canaris war in der Reichsmarine so unzufrieden, dass er am 15. Januar 1925 den Dienst quittieren wollte. Er legte seinem Entlassungsgesuch auch ein marineärztliches Gutachten bei, das ihm eine Dienstuntauglichkeit attestierte. Der Stationschef der Marinestation der Ostsee, Kapitän zur See Ernst Freiherr von Gagern, schrieb Canaris einen fünf Seiten langen, sehr persönlichen Brief, um ihn umzustimmen.[Mueller 13] Canaris zog sein Gesuch zurück.
Am 4. Oktober übernahm er bei der Marineleitung in Berlin als Leiter das Dezernat für Mobilmachungsvorarbeiten. Die Schreibtischarbeit scheint Canaris nicht behagt zu haben, seine Stärke war der persönliche Kontakt zu Menschen. Sein Vorgesetzter Kapitän zur See Arno Spindler notierte in der Personalakte:[Höhne 7]
„Ich hatte den Eindruck, daß ihm diese Art reiner Schreibtischarbeit, die zu einem großen Teil im Sichten und Zusammenfügen besteht, nicht liegt.“
Als im Januar 1925 in Spanien Verhandlungen über den Bau von U-Booten nach deutschen Plänen anstanden, reiste Canaris mit dorthin. Er sollte in Spanien auch ein neues Netz von V-Männern aufbauen. Dabei reaktivierte er teilweise seine V-Leute aus dem Ersten Weltkrieg. In den nächsten Jahren reiste er wiederholt wegen der geheimen Rüstungszusammenarbeit und zum Aufbau eines Agentennetzes nach Spanien. Dabei kam es zu Kontakten bis in höchste Staatskreise; unter anderem traf er mit König Alfonso XIII. zusammen. Er vermittelte auch Kredite für eine spanische Werft, die in die U-Boot-Baupläne involviert war. Canaris fungierte als eine Art inoffizieller Marineattaché. Dabei kamen ihm seine hervorragenden Spanischkenntnisse und seine Vorliebe zur spanischen bzw. iberospanischen Kultur zugute.
„Die Flotte war innerlich gesund. Der Keim des Aufruhrs wurde von außen hineingetragen.“
Canaris wiederholte zahlreiche weitere Lügen der deutschen rechtsradikalen Marinekreise und wurde dabei mehrmals durch Gelächter und Zwischenrufe unterbrochen. Nach der Aussage rückte er wie im Mai 1919 in den Blickpunkt der linken und militärkritischen Presse. Zeitweise war er Feindbild Nr. 1 für die linke Presse. Insbesondere Die Weltbühne berichtete über Canaris in Artikeln mit Überschriften wie Das Geheimnis um Canaris, Canaris an der Ostsee, Canarisfilm und Völkerbundtheater und Das Märchen von den Canarischen Inseln. Im September 1927 war in der Weltbühne zu lesen:[Höhne 8]
„Wir haben gezeigt, daß es immer ein Mann war, der die Verbindung aufrechterhielt und der vor allen Dingen die Auszahlung von Staatsgeldern an rechtsradikale Organisationen veranlaßte: der Korvettenkapitän Canaris.“
Reichswehrminister Geßler bzw. das Reichswehrministerium dementierte bis zu seinem Sturz mehrfach die Beteiligung von Canaris an der Befreiung von Kurt Vogel und an der geheimen Unterstützung der Organisation Consul mit Geld und Waffen. Als Geßler wegen des Skandals um die geheimen Rüstungsgeschäfte 1928 zurücktreten musste, kam auch die Beteiligung von Canaris an diesen Geschäften zur Sprache.
Canaris war bis Ende 1927 im Fokus der Presse. Seine Laufbahn und Arbeit scheint aber deswegen nicht gestört worden zu sein. Am 1. Oktober 1926 wurde er Referent beim Stab des Chefs der Marineleitung. Die meiste Zeit verbrachte er in Spanien, um die geheime Rüstungszusammenarbeit zu verstärken. Trotz jahrelanger intensiver Bemühungen wurde aber wegen politischer und industriepolitischer Verwicklungen nur ein U-Boot in Spanien gebaut. Die spanische Marine stellte der deutschen Marine immerhin eigene U-Boote für Versuche und Manöver zur Verfügung. Anfang 1928 handelte Canaris mit General Jesus Bazan, dem Chef der spanischen Sicherheitspolizei Jefe de la Seguridad, ein Geheimabkommen über die Zusammenarbeit der Polizei in beiden Staaten aus, das am 17. Februar 1928 unterschrieben wurde. Im Mai war er in Argentinien wegen Gesprächen über eine Rüstungszusammenarbeit von Argentinien mit Spanien und dem Reich im Hintergrund tätig. Erst als im April 1931 die Zweite Spanische Republik ausgerufen wurde, fand die Zusammenarbeit mit Spanien vorerst ihr Ende.
An Bord der „Schlesien“ (1929–1934)
Um Wilhelm Canaris aus der politischen Schusslinie zu nehmen, wurde er am 22. Juni 1928 Erster Offizier auf dem LinienschiffSchlesien. Anfangs durfte er noch weiter geheime Kontakte nach Spanien pflegen. Als dann durch schwere Fehler bei der Geheimhaltung die Zusammenarbeit mit Spanien von der Presse aufgedeckt wurde, verbot der neue Marinechef Admiral Erich Raeder im Mai 1929 jede weitere politische Sonderaufgabe für Canaris. Sein Vorgänger Admiral Hans Zenker hatte wegen der Lohmann-Affäre, in die auch Canaris verwickelt gewesen war, zurücktreten müssen. Trotzdem erfolgte die Beförderung von Canaris zum Fregattenkapitän am 1. Juni 1929.[6]
Am 29. September 1930 wurde er zum Chef des Stabes beim Kommando der Marinestation der Nordsee ernannt. 1931 kam im Gerichtsverfahren wegen Landesverrats gegen den Journalisten Berthold Jacob aufgrund dessen Artikel über Reichswehr und rechtsradikale Organisationen erneut die Beteiligung von Canaris an der Flucht des Luxemburg-Mörders Vogel zur Sprache. Wieder konnten die Tatsachen vertuscht werden, und das Reichswehrministerium gab zum wiederholten Male eine Ehrenerklärung für Canaris ab. In Kiel erfolgte am 1. Oktober 1931[9] die Beförderung zum Kapitän zur See. Am 29. September 1932 wurde er Kommandant des Linienschiffes Schlesien.
Ab 1932 scheint Canaris immer mehr von Adolf Hitler und seinen Ideen angezogen worden zu sein. Er galt als begeisterter Nationalsozialist. Diese Einschätzung beruht hauptsächlich auf Nachkriegsäußerungen von Conrad Patzig, dem Vorgänger von Canaris als Abwehrchef, und Werner Best, später zeitweise Chef der Hauptabteilung I (Recht, Personal, Verwaltung) im Reichssicherheitshauptamt. Überliefert ist ferner ein Bericht vom Befehlshaber der deutschen Linienschiffe Max Bastian vom 1. November 1934:[Höhne 9]
„Hervorheben muß ich das unermüdliche Bestreben des Kapitän z.S. Canaris, im zweiten Jahr durch persönliche Vorträge seine Besatzung mit dem Gedankengut der nationalen Bewegung und den Grundsätzen des staatlichen Aufbaus des neuen Reiches vertraut zu machen.“
Im Banne Hitlers (1934–1937)
Am 29. September 1934 erfolgte die Versetzung nach Swinemünde als Festungskommandant. Mit diesem Posten war Wilhelm Canaris laut den meisten Biografien und Arbeiten, die sich mit ihm beschäftigen, in einer Karrieresackgasse gelandet, unter anderem weil der Marinechef Erich Raeder seit ihrer gemeinsamen Zeit bei Reichswehrminister Noske ein Gegner von Canaris gewesen sein soll. Die Biografie von Michael Mueller aus dem Jahr 2006 widerspricht dieser Sichtweise.[Mueller 15] Mueller zitiert einen persönlichen und in vertraulichem Ton gehaltenen Brief von Raeder an Canaris vom 11. Oktober 1934, in dem Raeder u. a. schreibt:[Mueller 16]
„Ich habe immer den Plan gehabt, Sie wenn irgend möglich in die Stellung als Chef der Abwehrabteilung zu bringen. Leider waren die Verhältnisse bei dieser vor dem 1.10[.] noch nicht klar zu übersehen. Nun haben sie sich aber so entwickelt, daß ein Wechsel in der Leitung noch im Laufe dieses Winterhalbjahres, voraussichtlich um den 1. Januar herum, vom Minister verfügt ist. Der Minister hat meinen Vorschlag, daß Sie die Stellung übernehmen, gebilligt.“
Am 2. Januar 1935 wurde Canaris zum Nachfolger von Kapitän zur See Conrad Patzig als Chef der deutschen Abwehr bestimmt. Die auf Nachkriegsäußerungen von Patzig zurückgehende Behauptung, dies sei auf Patzigs eigenen Vorschlag hin geschehen, scheint damit widerlegt; zumindest aber überschätzte Patzig seinen Einfluss auf die Ernennung. Schon in seinen Beurteilungen 1933 und 1934 hatte sein Vorgesetzter Max Bastian in der Rubrik „Für welche besonderen Stellen geeignet“ erstens Marineattaché und zweitens Reichswehrministerium (zunächst als Abteilungsleiter – Abwehrabteilung) geschrieben. Bei der Amtsübernahme warnte Patzig Canaris eindringlich vor der SS. Dieser soll geantwortet haben:[Höhne 10]
„Seien Sie ganz beruhigt, mit diesen Jungens werde ich schon fertig.“
Anfangs hatte es Canaris schwer, sich in der Abwehr und der gesamten Wehrmacht Geltung zu verschaffen. Dabei dürfte seine Größe von etwa 1,60 m, sein unmilitärisches Auftreten, seine zurückhaltende Art, sein leichtes Lispeln und sein müder Blick eine Rolle gespielt haben.
Von Anfang an gab es Probleme mit der SS, genauer mit SS-ObergruppenführerReinhard Heydrich, dem Leiter des Geheimen Staatspolizeiamtes und des Sicherheitsdienstes (SD). Die SS wollte von Beginn der nationalsozialistischen Herrschaft eine einheitliche Organisation, die Geheimpolizei und Geheimdienst unter der Führung der SS vereinigte. Canaris und Heydrich wohnten in Berlin-Steglitz beide zunächst in der Döllestraße.[10] Die beiden hatten sich zwölf Jahre nicht gesehen. Ihre Familien pflegten in den nächsten Jahren engen gesellschaftlichen Umgang. Später in Berlin-Schlachtensee grenzten beider Grundstücke aneinander. Im Hause Heydrich spielten in einem Streichquartett Heydrich Erste und Erika Canaris Zweite Geige. Lina Heydrich hörte zu, Canaris war hingegen meist abwesend oder kochte. Beide waren Einzelgänger, denen menschliche Beziehungslosigkeit, ja unüberwindbare Distanz zur Umwelt nachgesagt wurde. Ab 1936 kam es morgens häufig zu gemeinsamen Ausritten im Berliner Tiergarten, an denen auch häufig der SS-Führer Werner Best, der im Frühjahr 1940 durch Walter Schellenberg ersetzt wurde, teilnahm. Trotz des engen Umgangs miteinander scheinen sich beide regelrecht belauert zu haben. Beide Geheimdienstchefs hatten Informanten im anderen Dienst. Typisch für Heydrich scheint der folgende Ausspruch über Canaris gegenüber SS-Kameraden gewesen zu sein:[Höhne 11]
„Der spioniert, der schnüffelt überall herum!“
Schellenberg behauptete nach dem Krieg, dass beide sich gegenseitig mit Belastungsmaterial völlig in der Hand gehabt hätten. So konnte keiner etwas gegen den anderen unternehmen, da er sich sonst selbst in Gefahr gebracht hätte.[11] So soll Canaris Akten über eine nichtarische Großmutter des Rivalen gehabt haben, während Heydrich Material über Widerständler in der Abwehr sammelte. Der familiäre Kontakt beider Familien riss nie ab. So verbrachten die Familien von Canaris und Heydrich noch die Jahreswende 1941/42 zusammen auf Heydrichs Jagdgut Stolpshof.
Der Kontakt von Canaris zu anderen SS-Mitarbeitern, insbesondere zu Best, war anfangs sehr eng. Mit Best traf sich Canaris bis Ende 1939 zeitweise täglich. SD und Abwehr luden sich gegenseitig zu ihren Tagungen ein.
In einer Vereinbarung vom 17. Januar 1936 zwischen Wehrmacht und SS wurde die militärische Spionage und Gegenspionage auf Betreiben von Canaris vorerst geregelt. Die Vereinbarung wurde von Canaris und Best unterzeichnet. Die Zuständigkeit von Spionage und Gegenspionage blieb bei der Abwehr der Wehrmacht. Die Abwehr erhielt auch die Zuständigkeit für die Spionageabwehr in der SS-Verfügungstruppe, deren Abwehrabteilung wurde der Abwehr unterstellt.
Am 1. Mai 1935 erfolgte die Ernennung zum Konteradmiral.[9] Canaris begann einen gewaltigen personellen Aufbau der Abwehr. Unter den neuen Mitarbeitern waren viele ehemalige Freikorpsmitglieder bzw. Mitglieder der Terrororganisation O.C. Viele neue Mitarbeiter kannte Canaris persönlich aus seiner Zeit in Berlin. Es wurden sowohl Nationalsozialisten als auch Gegner derselben rekrutiert. Personen, die der SPD oder weiter links stehenden Parteien nahestanden, wurden nicht angeworben. Höchstens 50 der 13.000 Offiziere, Beamten und Angestellten der Abwehr leisteten später aktiv Widerstand gegen die Nazis.[Mueller 17]
Durch die sehr unterschiedliche Zusammensetzung entstand nie ein richtiger Korpsgeist in der Abwehr. Es wurden zahlreiche V-Männer in Botschaften, Hotels usw. geworben. In Rüstungsbetrieben wurden Abwehrbeauftragte ernannt. Canaris setzte sich persönlich für das Säubern von Rüstungsbetrieben von politisch unzuverlässigen, also politisch links stehenden Personen ein. Geheimnisträger in den Betrieben sollten schärfer kontrolliert werden und deren Aktentaschen bei Verlassen der Arbeitsstelle untersucht werden, ferner sollten private Telefongespräche verboten sein. Bis Ende der 30er Jahre forderte die Abwehr bzw. Canaris immer schärfere Überwachungsmaßnahmen in Grenznähe und in Rüstungsbetrieben. Diese gingen anfangs über Forderungen und Maßnahmen der SS bzw. Gestapo hinaus.
Canaris verstärkte die Zusammenarbeit mit Geheimdiensten in Italien und in anderen Ländern, deren Regierungen politisch rechts einzuordnen waren. Ab Dezember 1936 bekam er die Zuständigkeit auf Seiten der Wehrmacht für alle Fragen der deutsch-japanischen militärischen Zusammenarbeit. Schon vorher hatte er eng mit dem japanischen Militärattaché Generalmajor Hiroshi Oshima zusammengearbeitet. Am 17. Mai 1937 unterzeichnete er ein geheimes deutsch-japanisches Militärabkommen mit Militärattaché Oshima, in dem es um den Nachrichtenaustausch der militärischen Geheimdienste und um einen Zersetzungsplan gegenüber der Sowjetunion ging, der als Vorbereitung eines Krieges gegen die Sowjetunion zu sehen war.[12] Eine der Folgen dieses Abkommens war der gezielte Aufbau der Abwehr-Abteilung II, die für Sabotage- und Zersetzung mit Hilfe ausländischer Minderheiten konzipiert war.
Canaris gehörte im Reich anscheinend immer zu den Personen, die eine enge Zusammenarbeit mit Japan förderten. Das Außenministerium, das Reichskriegsministerium und die Rüstungsindustrie hatten traditionell immer auf eine Zusammenarbeit mit China gesetzt. Die Zusammenarbeit mit dem japanischen Geheimdienst wurde so eng, dass Abwehrmitarbeiter 1938 an der Vernehmung des übergelaufenen sowjetischen NKWD-Chefs für den Osten, General Genrich Ljuschkow, teilnehmen durften.
Der Kontakt mit Hitler war anfangs sehr intensiv, wie beispielsweise 17 Besprechungen von Dezember 1935 bis März 1936 zeigen. Canaris stand zu dieser Zeit voll hinter Hitler und der Regierung, wie die zwei folgenden Aussprüche über Hitler zeigen:[Höhne 12]
„Er ist ansprechbar und sieht etwas ein, wenn man es ihm nur richtig vorträgt.“
„Wer ein wirklich guter Soldat ist, der wird auch ein guter Nationalsozialist sein.“
Nach der Ernennung zum Abwehrchef 1935 nutzte Canaris seine exzellenten Spanischkenntnisse und baute teils persönlich in Spanien ein Spionagenetzwerk auf. Canaris gilt als Hintermann der deutschen militärischen Unterstützung Francos im Spanischen Bürgerkrieg. Als am 17. Juli 1936 der Bürgerkrieg begann, lag der Hauptteil der putschenden Truppen in Spanisch-Marokko. Da die spanische Marine republiktreu war, bat Franco das Reich um zehn Transportflugzeuge, um Truppen nach Spanien zu fliegen. Canaris erreichte nach intensiven Gesprächen vom 25. bis 26. Juli mit Hitler, Hermann Göring und Werner von Blomberg, dass am 28. Juli zwanzig Ju 52 der Lufthansa nach Tétouan in Spanisch-Marokko entsandt wurden. Später war Canaris mit dafür verantwortlich, dass deutsche Kampfverbände in Form der Legion Condor nach Spanien zogen.
Da die aufständischen Truppen unter Franco im Süden und Nordwesten von Spanien getrennt waren und über unzureichende Funkanlagen verfügten, liefen Meldungen anfangs über Canaris bzw. die Abwehr. Canaris nahm zur Unterstützung der Aufständischen Kontakte zum italienischen Geheimdienstchef Mario Roatta auf und traf sich Ende Oktober mit Franco in Salamanca, um über die weitere Zusammenarbeit zu sprechen. Am 6. Dezember 1936 war Canaris in Rom bei der Konferenz der Stabschefs der italienischen Streitkräfte dabei, wobei die Entsendung einer Division nach Spanien beschlossen wurde.
Canaris war wiederholt in Spanien, um Konflikte zwischen Spaniern, Deutschen und Italienern zu schlichten. Er sorgte persönlich für Ablösung des deutschen Botschafters Wilhelm Faupel und des Kommandeurs der Legion Condor Generalmajor Hugo Sperrle, da beide mit ihrer Art die Spanier vor den Kopf stießen. Die Bombardierung von Guernica soll Canaris erschüttert haben.
Die Abwehr übernahm die Gegenspionage der Legion Condor. Als Teil der Abwehr wurde die Geheime Feldpolizei (GFP) mit Beamten der Gestapo aufgestellt. In Spanien wurde eine Einheit der GFP mit 30 Mann und der Bezeichnung „S/88/Ic“ eingesetzt. Diese Einheit arbeitete eng mit dem Geheimdienst der Franco-Truppen (Servicio Informacion Policia Militar) zusammen. Einer der Schwerpunkte der Arbeit in Spanien war die Verfolgung von Deutschen, die in der Internationalen Brigade kämpften. Eine Vereinbarung mit Franco regelte die Übergabe gefangener deutscher Kämpfer der Internationalen Brigade an die GFP. Einige unter ihnen wurden bereits in Spanien ermordet, die meisten wurden mit Einverständnis Spaniens ins Deutsche Reich verschleppt, um dort entweder vor den Volksgerichtshof gestellt zu werden oder sofort im KZ zu landen. Inwieweit Canaris in die Arbeit der GFP in Spanien involviert war, ist unklar, da die GFP dem lokalen Kommandanten des Ic-Bereiches unterstand, der – wenn überhaupt – lediglich Meldungen an sein vorgesetztes Kommando – häufig nur über Funk – erstattete.
Im Winter 1936/1937 besuchten auf Antrag von Canaris bei Heinrich Himmler einige Offiziere der Abwehr und ausgesuchte Offiziere des Oberkommandos der Wehrmacht (OKW) das KZ Sachsenhausen.[Mueller 18] Sie wurden dabei von Theodor Eicke, dem Inspekteur der Konzentrationslager, begrüßt. Die Besucher sahen u. a. gerade „zur Begrüßung“ ausgepeitschte Häftlinge. Der Lagerkommandant und weitere SS-Führer gaben freimütig Auskunft über weitere Folterungen. Laut dem Besuchsteilnehmer Friedrich Wilhelm Heinz wollte Canaris den Teilnehmern die Unmenschlichkeit der Nationalsozialisten vor Augen führen. Spätestens 1937 scheint sich Canaris immer mehr von Hitler bzw. vom Nationalsozialismus abgewandt zu haben. Im Herbst 1937 sagte Canaris seinem Amtsvorgänger Patzig, „von oben bis unten seien sie alle Verbrecher, die Deutschland zugrunde richteten“. Auf die Frage, wie Canaris dann weiter Chef der Abwehr bleiben könne, antwortete Canaris:[Höhne 13]
„Es ist mein Schicksal geworden. Wenn ich gehe, kommt Heydrich, und dann ist alles verloren. Ich muß mich opfern.“
Helfer und Gegner Hitlers zugleich (1938–1944)
Zu Jahresbeginn 1938 kam es zur Blomberg-Fritsch-Krise, die zur Entlassung des Reichskriegsministers und Oberbefehlshabers der Wehrmacht, Werner von Blomberg, und des Oberbefehlshabers des Heeres, Werner von Fritsch, führte. Blomberg hatte im Januar 1938 eine Frau geheiratet, die seit 1932 in Polizeiakten als Prostituierte geführt wurde. Fritsch wurde fälschlicherweise als Homosexueller denunziert. Beide Offiziere wurden daraufhin zum Rücktritt gezwungen. Hitler ergriff dabei die Chance, unliebsame, fachlich kompetente Kritiker seiner Kriegspläne loszuwerden. Canaris war einer von ganz wenigen hohen Militärs, die sich aktiv für Fritsch einsetzten und bei der Aufklärung der falschen Anschuldigungen gegen Fritsch halfen. Der Generalstabschef des Heeres Ludwig Beck hingegen erteilte ein striktes Verbot, überhaupt über die Affäre zu reden. Bei der Aufklärung kam unter anderem heraus, dass die Gestapo frühzeitig die Verwechslung von Fritsch mit einem namensgleichen Mann bemerkt und diese Information nicht weitergegeben hatte. Die Blomberg-Fritsch-Krise scheint der endgültige Wendepunkt von Canaris im Verhältnis zur Regierung, insbesondere zu SS und Gestapo, gewesen zu sein und führte zur Hinwendung zu Widerstandskreisen gegen Hitler im Militär. Canaris ließ nun von der Abwehr Anti-Gestapo-Material sammeln und gab dieses an führende Offiziere der Wehrmacht weiter.
Am 4. Februar 1938 wurden 16 Generäle zwangspensioniert und 44 weitere versetzt. Das Kriegsministerium wurde in Oberkommando der Wehrmacht (OKW) unter Generalleutnant Wilhelm Keitel umbenannt. Canaris wurde am 7. Februar Chef der Amtsgruppe Allgemeine Wehrmachtangelegenheiten (AWA) im OKW, unter Beibehaltung der Funktion als Chef der Abwehr. Er war nun auch kurzzeitig für Beziehungen des OKW zu Partei, Polizei, Presse und Öffentlichkeit zuständig.
Keitel erteilte am 13. Februar 1938 Canaris den Befehl, falsche, aber glaubwürdige Nachrichten über Kriegsvorbereitungen gegen Österreich zu verbreiten, um auf Befehl von Hitler Druck auf die Regierung Österreichs aufzubauen (Mitte März kam es zum Anschluss Österreichs). Diese Täuschungsaktionen wurden vom Geheimdienst Österreichs sofort durchschaut. Erstmals kam es zu einem doppelbödigen Lavieren von Canaris, als er sowohl für die nationalsozialistische Regierung arbeiten ließ als auch gleichzeitig mit dem Leiter der Zentralabteilung der Abwehr (Hans Oster) gegen die Regierung arbeitete. Canaris und Oberst Friedrich Hoßbach, Hitlers Wehrmacht-Adjutant, formulierten Forderungen, die Generaloberst Walther von Brauchitsch, der neue Oberbefehlshaber des Heeres, Hitler vorlegen sollte. Unter anderem forderte das Papier wesentliche Änderungen in der Führerstellenbesetzung der Gestapo. Von Brauchitsch legte Hitler dieses Papier jedoch niemals vor. Am 1. April 1938 erfolgte die Beförderung von Canaris zum Vizeadmiral.[9]
Nach dem Anschluss Österreichs flog Canaris am 11. März nach Wien. Er beschlagnahmte beim dortigen Geheimdienst persönlich Akten über Hitler, Göring, Himmler und Heydrich und kam dabei Schellenberg zuvor. Den dortigen führenden Mitarbeitern Max Ronge und Erwin von Lahousen machte Canaris sofort das Angebot, zur Abwehr zu wechseln, und kam auch dabei Schellenberg zuvor. Er sagte zu Lahousen:
„Bringen Sie, besonders in die Zentrale nach Berlin, keine Nazis mit, bringen Sie Österreicher, keine Ostmärker.“
Lahousen wurde tatsächlich Mitarbeiter der Abwehr und bald auch ein enger Mitarbeiter von Canaris. Ronge hingegen wurde von der SS verhaftet, kam später aber auf Betreiben von Canaris frei.
Die Abwehr wurde am 1. Juni in vier Abteilungen umorganisiert. Sie war nun auch für die Führung von Waffenattachés an Botschaften im Ausland und die Betreuung der ausländischen Militärattachés in Berlin zuständig. Canaris verlor gleichzeitig die Führung der Amtsgruppe Allgemeine Wehrmachtangelegenheiten.
Canaris und die Abwehr waren ab dem 30. Mai 1938 auf Befehl von Hitler mit Kriegsvorbereitungen gegen die Tschechoslowakei beschäftigt. (Nach der von deutscher Seite provozierten Sudetenkrise musste die Tschechoslowakei am 29. September 1938 laut dem Münchner Abkommen das Sudetenland abtreten. Am 15./16. März 1939 wurde die „Zerschlagung der Rest-Tschechei“ in die Tat umgesetzt.) Die Abwehr arbeitete aber schon seit 1934 mit dem Führer der Sudetendeutschen Konrad Henlein zusammen. Bereits im Laufe des Jahres 1937 hatte die Abwehr damit begonnen, durch Helmuth Groscurth auf tschechoslowakischem Staatsgebiet Munitionslager vorzubereiten und V-Leute anzuwerben. Die Abwehr ließ getarnte Kampf- und Sabotageverbände über die Grenze sickern, die bei Kriegsbeginn für Sabotage- und Terroraktionen bereitstehen sollten, und stellte auch das Sudetendeutsche Freikorps (SFK) auf. Canaris war zu dieser Zeit, wie in den nächsten Jahren auch, gleichzeitig Wegbereiter und Möchtegern-Verhinderer von Hitlers Eroberungskriegen. Oster und Canaris versuchten, den Generalstabschef Generaloberst Beck zu Aktionen gegen einen Krieg zu drängen. Beck schrieb aber lieber Denkschriften gegen einen Krieg, statt zu handeln, und trat schließlich zurück. Mit Becks Nachfolger, Generaloberst Franz Halder, bereitete Canaris einen Putsch vor, bei dem von Brauchitsch mitmachen sollte. Bei diesen Planungen schlug Hans von Dohnanyi mutmaßlich zum ersten Mal in konservativen Widerstandskreisen vor, ein Attentat auf Hitler durch Männer in dessen Umgebung durchzuführen. Canaris konnte sich hingegen bis 1944 nur eine Verhaftung, aber keine Tötung Hitlers vorstellen. Trotzdem gab es schon 1938 konkrete Planungen von Oster, Friedrich Wilhelm Heinz und Hans Bernd Gisevius, Hitler bei einer geplanten Festnahme zu töten.
Anfang Mai 1939 begannen Luftaufklärungen mit speziellen Höhenaufklärungsflugzeugen über Polen, wobei Canaris und die Abwehr an den Planungen mitwirkten. Gleichzeitig begannen Einschleusungen von Abwehrmännern in Polen, um die Sprengung wichtiger Anlagen, insbesondere von Brücken, durch die Polen bei Kriegsbeginn zu verhindern. Bis Kriegsausbruch wurden 1300 Agenten der Abwehr in Polen eingeschleust.
Am 22. August kam es im Berghof vor 50 wichtigen Offizieren des Reichs, darunter auch Canaris, zur Ansprache Hitlers vor den Oberbefehlshabern über den bevorstehenden Krieg gegen Polen. Trotz Verbot schrieb Canaris Stichworte auf. Nach der Rede schwiegen sämtliche Offiziere, auch untereinander kam es zu keinem Gespräch über die Rede. Canaris informierte am nächsten Tag die Abteilungs- und Gruppenleiter der Abwehr über die Rede und den voraussichtlichen Angriffstermin. Später las er engsten Vertrauten aus seiner Mitschrift vor. Eine überarbeitete und in Aussagen verschärfte Version der Mitschrift übergab der WiderstandskämpferHermann Maaß dem amerikanischen Journalisten Louis Paul Lochner. Am 25. August gab dieser das Manuskript an den britischen Botschaftsrat George Ogilvie-Forbes weiter, der den Bericht am gleichen Tag nach London weitersendete. Zuvor hatte Alexander Comstock Kirk, Geschäftsträger der US-Botschaft, kein Interesse am Text gezeigt. Es wird vermutet, dass Oster den Text überarbeitete und für die Weitergabe sorgte.[Mueller 19] Der Text der Rede von Canaris und auch die an Oster übergebene Kopie sind bis heute verschollen. Lochner übergab persönlich den Text dem Internationalen Militärgerichtshof in Nürnberg. Die Lochner-Version wurde dort als „L-3“ bezeichnet. Sie wurde nicht als Beweisstück im Prozess verwendet, hingegen wurden zwei andere Texte zur Rede als Beweismittel angenommen. Der Historiker Norman Domeier vermutet, dass die Lochner-Version aus prozesstaktischen Gründen nicht aufgenommen wurde. Domeier vermutet, dass es sich bei der Lochner-Version um den Originaltext von Canaris handelt und es nur Kürzungen gab.[13] Widerstandskreise in der Wehrmacht erwogen nun mehrfach einen Putsch gegen Hitler, ließen den Plan jedoch fallen, da es keinen Rückhalt bei den Kommandeuren der Wehrmacht gab.
Beim Überfall auf Polen hielt Canaris eine kurze, markige Ansprache an seine Offiziere. Es kam zur Einnahme wichtiger Industriebetriebe durch die Abwehr im polnischen Teil Oberschlesiens, die bis zu dem Eintreffen der Wehrmacht gehalten werden konnten. Die Abwehr begann die Zusammenarbeit mit Feinden der Kriegsgegner. Sie nahm Kontakte zur IRA sowie zu Indern und Ukrainern auf. In Afghanistan plante die Abwehr, den deutschfreundlichen Ex-König wieder an die Macht zu bringen.
Canaris verhalf einzelnen Polen, z. B. Halina Szymańska, der Frau des Militärattachés Polens in Berlin, zur Flucht in die Schweiz. Er ließ die Abwehr Daten über Verbrechen der SS und der Gestapo in Polen sammeln und befahl seinen Abteilungsleitern auch das Anlegen von Diensttagebüchern, in die beispielsweise die der Abwehr erteilten, aber nicht durchgeführten Mordaktionen eingetragen wurden. Aufgrund seines Diensttagebuches sagte etwa Lahousen als Kronzeuge beim Nürnberger Prozess gegen die Hauptkriegsverbrecher aus und unterstützte die Anklage durch sein Beweismaterial und seine persönlichen Wahrnehmungen. Canaris nutzte dieses Material auch, um einige regimekritische kommandierende Generäle der Wehrmacht gegen Einsatzgruppen, Gestapo, SS usw. aufzustacheln. Er sorgte dafür, dass Berichte von Generaloberst Johannes Blaskowitz über Verbrechen in Polen an die Kommandeure der drei Heeresgruppen im Westen kamen:
Canaris selbst protestierte nur einmal persönlich, am 14. September bei Wilhelm Keitel, wegen der Morde in Polen. Sein Mitarbeiter Lahousen schreibt in einem Aktenvermerk, den er auf Anordnung von Canaris verfasst:[Höhne 14]
„Ich (Canaris) machte Gen.Oberst Keitel darauf aufmerksam, dass ich davon Kenntnis erhalten habe, dass umfangreiche Füsilierungen in Polen geplant seien und dass insbesondere der Adel und die Geistlichkeit ausgerottet werden sollen. Für diese Methoden werde die Welt schließlich doch auch die Wehrmacht verantwortlich machen, unter deren Augen diese Dinge geschähen.“
Keitel sagte unter anderem, da die Wehrmacht hiermit nichts zu tun haben wolle, fiele die „volkstümliche Ausrottung“ in die Verantwortung der jeweiligen Zivil-Befehlshaber. Auch der Protest von Canaris gegen die Bombardierung von Warschau (siehe Schlacht um Warschau (1939)) blieb ohne jede Wirkung.[15] Er unternahm aber nichts in Bezug auf die ihm unterstehende Geheime Feldpolizei (GFP), die an Verbrechen gegenüber Polen mitwirkte. Die Dienstvorschriften der GFP, die zur Abwehr gehörte und aus eingezogenen Beamten und Angestellten der Gestapo bestand, regelten, dass sie ähnliche Aufgaben wie die Einsatzgruppen der SS hatte. Die GFP wuchs als Teil der Abteilung Abwehr III auf 500–600 Mann. Kommandant der GFP war Oberst Wilhelm Krichbaum, der vorher SS-Standartenführer im SD-Hauptamt gewesen war. Die GFP und andere Dienststellen der Abwehr übergaben Verhaftete an Einsatzgruppen zur Liquidierung. Diese Praxis führte zu einem Schreiben von Heydrich an Canaris. Heydrich forderte, die GFP anzuweisen, ihre Erschießungen selbst durchzuführen.[Höhne 15] Von 764 Erschießungen mit etwa 20.000 Toten, die vom 1. September bis zum 26. Oktober im besetzten Polen durchgeführt wurden, wurden 311 von der Wehrmacht durchgeführt.[Mueller 20] Welchen Anteil daran die GFP hatte, scheint unklar. Canaris äußert nach dem Überfall auf Polen gegenüber seinem Bekannten aus Freikorpszeiten, Ehrhardt:[Höhne 16]
„Der Krieg ist verloren, ganz gleich, wie viel Siege wir noch machen; aber er ist verloren.“
Am 1. Januar 1940 erfolgte die Beförderung von Canaris zum Admiral.[9]
Die Abwehr konnte 1940 während der Vorbereitungen zum Westfeldzug kaum geheime Daten zu Frankreich liefern, was beim Generalstab des Heeres erstmals für Verstimmungen über die Abwehr und Canaris sorgte. Hans Oster erarbeitete in der Abwehrzentrale in Berlin genauere Putschpläne, da man den geplanten Westfeldzug für Irrsinn hielt. Canaris reiste zu Befehlshabern an die Westfront, um diese für einen Umsturz zu gewinnen. Nur Wilhelm Ritter von Leeb, Kommandant der Heeresgruppe C, war bereit mitzumachen.
Die Abwehr nahm über die Abwehroffiziere Josef Müller und Wilhelm Schmidhuber Kontakt zu PapstPius XII. auf, der indirekten Kontakt zu den Westmächten herstellen sollte. Diese Kontaktaufnahme zum Papst, natürlich ohne die eigentlichen Hintergründe, teilte Canaris auch Heydrich mit. Er bat Heydrich um Spielmaterial über die innenpolitische Lage. Heydrich wich mit dem Argument aus, dass er erst Himmler fragen müsste, dies aber nicht wolle. Canaris neutralisierte so geschickt Heydrich und den SD.
Nach der Kontaktaufnahme erklärte der Papst sich bereit, Nachrichten des Widerstands an die britische Regierung weiterzuleiten. Der Vatikan gab Nachrichten an den Gesandten der britischen Botschaft in Rom weiter. Der Gesandte reagierte wie die britische Regierung sehr reserviert auf das Verhandlungsangebot. Trotzdem machte Müller daraus in seiner Meldung an Canaris ein Angebot der Briten zu einer Art Gentlemen’s Agreement zwischen Widerstand und britischer Regierung. In der Abwehr wurde diese Nachricht Müllers zum sogenannten X-Bericht, der über Generalleutnant Georg Thomas zu Halder weitergereicht wurde. Da Halder als Generalstabschef keine Befehlsgewalt hatte, brauchte er von Brauchitsch für konkrete Maßnahmen. Über Halder kam der X-Bericht zu von Brauchitsch. Schon Halder misstraute dem Bericht wegen dessen unklarer Herkunft und inhaltlicher Widersprüche. Von Brauchitsch bezeichnete den Bericht gar als Landesverrat und verlangte die Verhaftung der Urheber. Halder konnte dies aber verhindern. Von Brauchitsch und weitere Generäle weigerten sich auch später, bei Aktionen gegen Hitler mitzumachen.
Als Hitler am 5. November 1940 gegenüber von Brauchitsch und Halder davon sprach, den „Geist von Zossen“ (Sitz des OKH) auszulöschen, geriet Halder in Panik. Er gab Carl-Heinrich von Stülpnagel den Befehl, alle Putschunterlagen vernichten zu lassen. Stülpnagel gab diesen Befehl an Groscurth von der Abwehr weiter. Nun forderte Groscurth, dass eine Aktion gegen Hitler her müsse. Halder forderte von Canaris, dieser selbst solle Hitler abservieren. Nach Lage der Dinge, ohne Putschtruppen, kam nun nur ein Attentat gegen Hitler in Frage. Canaris wollte kein Meuchelmörder sein und lehnte ein Attentat ab. Seit dieser Zeit machte er auf Besucher einen resignierten, abgekämpften und müden Eindruck. Er untersagte Oster nun auch jede weitere konspirative Tätigkeit. Von nun an beteiligte sich Canaris nicht mehr aktiv an Putschplänen, er deckte aber weiter Verschwörer in der Abwehr.
Die Abwehr führte 1941 Täuschungsaktionen durch, um die Kriegsvorbereitungen vor den Geheimdiensten der Sowjetunion zu verschleiern. Über die Folgen eines Angriffs auf die Sowjetunion scheint sich Canaris, anders als fast alle anderen hohen Militärs, klar gewesen zu sein. Bei einer sogenannten Barbarossa-Konferenz der Abwehr zur Vorbereitung des Angriffs sagte er:[Höhne 17]
„Die deutschen Armeen werden auf den eisigen Ebenen Rußlands verbluten, und wir werden nach zwei Jahren nichts mehr von ihnen wiederfinden.“
Die Spezialeinheit Brandenburg war beim Überfall auf die Sowjetunion, insbesondere im Baltikum, wieder erfolgreich dabei. Dabei fielen etwa 400 Soldaten der „Brandenburger“, darunter Hans-Wolfram Knaak. Am 8. Juli reiste Canaris zur 1. Armee an die Ostfront. Dort wurde er auch über ein Massaker der rumänischen Geheimpolizei informiert, bei dem 5000 Juden ermordet worden waren. Mitarbeiter der Abwehr in Bukarest waren an der Planung des Massakers beteiligt. Canaris schickte ein Schreiben, verfasst von Helmuth James Graf von Moltke, an Keitel, in dem die Behandlung der Kriegsgefangenen nach den Grundsätzen des Völkerrechts angemahnt wurde. Ende Juli ließ Canaris einen Bericht anfertigen, in dem alles Material zusammengestellt war, das die Abwehr über Stärke und Kampfkraft der Roten Armee vor dem Angriff lieferte, denn Canaris wollte nicht dafür verantwortlich gemacht werden, dass der Angriff nicht so lief wie erwartet. Die Abwehrzentrale wurde über die Abwehrkommandos bzw. Abwehrtrupps bei den Heeresgruppen und Armeen genau über Verbrechen an Kriegsgefangenen und Juden informiert. Dohnanyi sammelte Abschriften der Meldungen in seiner sogenannten Raritäten-Mappe, in der er Dokumente zu Verbrechen des NS-Regimes sammelte. Lahousen schrieb am 23. Oktober einen Bericht „Auf einer Fahrt in das Operationsgebiet im Osten gemachte Beobachtungen und Feststellungen“, in dem auch Verbrechen dokumentiert wurden. In der gleichen Zeit erstellte ein Dolmetscher der Abwehr, Oberwachtmeister Soennecken, einen Augenzeugenbericht über ein Massaker an 7000 bis 8000 Juden in Borissow. Die der Abwehr unterstehende GFP beteiligte sich wieder aktiv an den Verbrechen. So forderte die GFP in Kodyma die im Gebiet zuständige Einsatzgruppe der SS an, um gemeinsam eine Erschießungsaktion durchzuführen.
Ende Oktober 1942 reiste Canaris mit Mitarbeitern zu den Heeresgruppen an die Ostfront. Beim Besuch der spanischen Division erlebte er einen heftigen Angriff der Roten Armee. Sein Begleiter Lahousen schrieb auf, dass die Spanier „keine Gefangenen machten“. Wegen Partisanengefahr fuhr man mit entsicherten Pistolen weiter. Bei der Heeresgruppe Mitte kam man auch an Gefangenenzügen vorbei. Laut Tagebuch von Lahousen wurde während des Frontbesuchs auch über das Massaker von Borissow (20./21. Oktober 1941) gesprochen. Bei der Rückkehr nach Rastenburg las Canaris Hitler Augenzeugenberichte über Massenerschießungen in Riga vor. Hitler antwortete:[Mueller 21]
„Sie wollen wohl weich werden. Ich muss das tun. Nach mir tut es kein anderer.“
Am 7. März 1943 transportierte das Flugzeug, das Canaris, Lahousen und Dohnanyi ins Hauptquartier der Heeresgruppe Mitte in Smolensk brachte, auch Sprengstoff für das Abwehr-II-Kommando. Dieser Sprengstoff war für einen Anschlag gegen Hitler bei einem Truppenbesuch bestimmt. Ob Canaris über den Grund dieser Sprengstofflieferung informiert war, ist unklar. Eine Bombe mit diesem Sprengstoff, die Fabian von Schlabrendorff vorbereitet hatte, zündete am 13. März beim Rückflug in Hitlers Flugzeug nicht.
Wenige Wochen später suchte Canaris in Istanbul den amerikanischen Diplomaten George H. Earle, einen Freund des US-Präsidenten Franklin D. Roosevelt, auf. Er unterrichtete Earle von den Plänen des deutschen Widerstandes, Hitler zu beseitigen. Nach dessen Sturz wollten die Führer des Widerstandes sofort einen Waffenstillstand im Westen schließen. Earle schickte über das Treffen einen Bericht an das Weiße Haus, doch bekam er keine Antwort.[16]
Mit Hilfe des Mitverschwörers Adam von Trott zu Solz aus dem Auswärtigen Amt gelang es Canaris, Kontakt zum Chef des amerikanischen Geheimdienstes OSS, General William J. Donovan, zu knüpfen. Unter strengster Geheimhaltung wurde ein Treffen in der nordspanischen Hafenstadt Santander arrangiert; dazu eingeladen wurde der Direktor des britischen Geheimdienstes SIS, General Stewart Menzies. Canaris wiederholte ihnen gegenüber den Plan für einen Waffenstillstand im Westen. Doch wurden seine Gesprächspartner von ihren Regierungen in Washington und London angewiesen, den Kontakt abzubrechen.[17]
Sturz
Am 11. Februar 1944 wurde Wilhelm Canaris als Abwehrchef entlassen, nachdem eine Reihe von Fehlern der Abwehr, zum Teil sogar beabsichtigtes Fehlverhalten, bekannt geworden war. Klagen über eine schlechte Arbeit der Abwehr hatten sich ab 1943 mit den zunehmenden Niederlagen der Wehrmacht gehäuft. So hatte die Abwehr die Vorbereitungen zur Operation Shingle (Landung alliierter Truppen bei Anzio in Italien) nicht erkannt. Am 5. Februar wurde Hitler das Überlaufen des Abwehr-Mitarbeiters Erich Vermehren in Istanbul zu den Briten gemeldet. Nach einem Sprengstoffanschlag am 11. Februar auf einen britischen Frachter für Apfelsinen in Cartagena in Spanien durch von der Abwehr mit Sprengstoff versorgte Franco-Gegner tobte Hitler. Nun schlug SS-Brigadeführer Hermann Fegelein, Verbindungsoffizier der Waffen-SS im Führerhauptquartier, vor, die Abwehr dem Reichsführer SS Himmler zu übergeben – nachdem Himmler zwei frühere Gelegenheiten, Canaris als Abwehrchef abzulösen, nicht genutzt hatte. Hitler bestellte Himmler zu sich und beauftragte ihn, einen vereinigten Geheimdienst zu schaffen. Himmler entwarf einen Befehl, dem Wilhelm Keitel und Jodl für die Wehrmacht zustimmten und der von Hitler am 13. Februar unterzeichnet wurde. Jodl und Keitel überbrachten Canaris in der Abwehrzentrale Zossen die Nachricht, dass Abwehr und SD zusammengefasst würden. Canaris sollte sich auf die Burg Lauenstein im Frankenwald begeben. Dort befand sich eine Dienststelle der Abwehr mit Forschungsstelle für Fälschung von Pässen, Geheimtinten, Mikrokameras usw. Hitler würde später über die weitere Verwendung von Canaris entscheiden. Canaris wurde damit unter Hausarrest gestellt. Dazu wurden Dankesworte Hitlers überbracht und die Nachricht von der Verleihung des Deutschen Kreuzes in Silber an Canaris.
Canaris fuhr mit Fahrer und seinen beiden Dackeln zur Burg. Am 10. März wurde seine Entlassung aus dem Wehrdienst zum 30. Juni verfügt. Die Abwehr wurde am 1. Juni aufgelöst. Schellenberg reiste kurz darauf zu Canaris, um ihn darüber zu informieren. Im Juni wurde Canaris wieder zum Wehrdienst als Admiral z. V. (zur Verfügung) einberufen, und er wurde zum 1. Juli Chef des OKW-Sonderstabs für Handelskrieg und wirtschaftliche Kampfmaßnahmen (HWK) in Eiche bei Potsdam. Er hatte einen Adjutanten, einige nicht frontfähige Offiziere und einige kriegsverpflichtete Zivilisten zu seiner Verfügung. Sie sollten den Handelskrieg und den Kampf gegen die alliierte Wirtschaftsblockade steuern. 1944 war diese Dienststelle wegen der Kriegslage praktisch ohne Aufgabe. Canaris lebte mit einem algerischen Diener und einer polnischen Köchin in seinem Haus. Seine Frau lebte wegen der anhaltenden Bombenangriffe bereits seit längerem in Riederau am Ammersee. Canaris nahm russischen Sprachunterricht, und sein Nachbar Helmut Maurer, ein Pianist, spielte für ihn zu Hause Klavier.
Verhaftung und Haft
Erst in der ersten Julihälfte 1944 erfuhr Canaris von den beiden Oberstleutnanten der Abwehr Wessel Freytag von Loringhoven und Werner Schrader vom bevorstehenden Attentat auf Hitler durch Claus Schenk von Stauffenberg.[Mueller 22] Wie er auf diese Mitteilung reagierte, ist nicht überliefert. Sicher ist, dass er in früheren Jahren eine Ermordung Hitlers immer abgelehnt hatte. Wie er am 20. Juli vom Attentat erfuhr, ist unklar; es gibt dazu zwei Versionen. Nach der ersten Version wurde er am 20. Juli um 17 Uhr von Generalstabsrichter Karl Sack, einem der Verschwörer des 20. Juli 1944, über den Anschlag unterrichtet. Nach der zweiten Version soll Stauffenberg persönlich Canaris in Anwesenheit von Sack und zwei weiteren Freunden am Nachmittag des 20. Juli angerufen haben.[Mueller 22] Allerdings hatten Stauffenberg und Canaris ein schlechtes persönliches Verhältnis zueinander. Im sogenannten Kaltenbrunner-Bericht der SS über die Untersuchung des Attentats ist jedenfalls kein Hinweis enthalten, obwohl die Anwesenheit von Sack bei Canaris dort vermerkt ist. Trotzdem soll Stauffenberg bei seinem Anruf Canaris ohne Umschweife erklärt haben, der Führer sei durch eine Bombe getötet worden. Canaris, dem bekannt war, dass er abgehört wurde, soll geantwortet haben:[Höhne 18]
„Tot? Um Gottes willen, wer war es denn? Die Russen?“
Canaris sendete von seiner Dienststelle in Eiche sofort eine Ergebenheitsadresse an das Führerhauptquartier Wolfsschanze, in der er Hitler zur wundersamen Rettung beglückwünschte.
Der Chef des Amtes M (auch Amt Mil oder Militärisches Amt, Name der ehemaligen Abwehr im SD), Oberst Georg Hansen, gestand am 22. Juli vor Gestapochef Heinrich Müller seine Teilnahme am Umsturzversuch und nannte Canaris als „geistigen Treiber der Umsturzbewegung“. Am 23. Juli wurde Canaris beim Kaffeetrinken mit zwei Freunden von SD-Chef Schellenberg persönlich verhaftet. Die folgenden Einzelheiten der Festnahme sind nur durch Aussagen von Schellenberg überliefert. Canaris soll Schellenberg gebeten haben, ihm innerhalb von drei Tagen eine Unterredung mit Himmler zu verschaffen. Schellenberg soll ferner Canaris angeboten haben, eine Stunde im Wohnraum zu warten, worauf Canaris gesagt haben soll, weder denke er an Flucht noch wolle er sich erschießen.
Canaris wurde zur Sicherheitspolizeischule Drögen in Fürstenberg/Havel gebracht. Dort befanden sich weitere 20 Offiziere, die von der Gestapo verdächtigt wurden, in das Attentat vom 20. Juli verwickelt gewesen zu sein. Die Ermittlungen wurden von SS-Sturmbannführer Walter Huppenkothen und Kriminalkommissar Sonderegger geführt. Canaris wurde wenig später ins Gefängnis des RSHA überführt. Er wurde in einer eineinhalb mal zweieinhalb Meter großen Zelle untergebracht und hatte keinen Hofgang. Der Kontakt zu anderen Häftlingen war verboten. Nur morgens beim Duschen waren Gespräche möglich. Als Verpflegung gab es nur Hungerrationen; während andere Häftlinge Besuch und Esspakete bekamen, fehlte beides bei Canaris.
Bei Vernehmungen sagte Friedrich Wilhelm Heinz, Kommandeur des 4. Jägerregiments „Brandenburg“, aus, dass die gleichnamige Division, die Canaris unterstand, für Umsturzpläne vorgesehen war. Deren Kommandeur Generalmajor Alexander von Pfuhlstein bestätigte dies. Oster bezichtigte Canaris wenig später nach Vorlage der Aussage Pfuhlsteins der Mitwisserschaft für Umsturzpläne. Canaris bestätigte nur Gespräche über „Änderung der Kriegsführung“, er habe diesen theoretischen Gesprächen keinen Wert beigemessen. Auch bei einer Gegenüberstellung blieb Canaris bei seiner Linie.
Am 19. September wurde ein von Karl Dönitz, dem Oberbefehlshaber der deutschen Kriegsmarine, unterschriebenes Schreiben aufgesetzt, nach dem Canaris mit Wirkung vom 25. Juli entlassen sei. Am 21. September schrieb Canaris eine Erklärung im Sinn des Regimes. Am gleichen Tag meldete ein Fahrer, dass er früher Geheimakten der Abwehr ins Lager des Bunkers Zeppelin in Zossen-Wünsdorf gefahren hatte. Am 22. September fand die Gestapo das Geheimarchiv der Umsturzversuche von 1938–1940 und auch einige Durchschläge von Canaris’ Tagebuch. Dohnanyi hatte dieses Archiv entgegen seinem Befehl nicht vernichtet. Oster verriet nach Aktenfund alles über seine Umsturzpläne an die Gestapo. Canaris hingegen spielte noch immer alles herunter, als habe er nur formal an Komplottgesprächen teilgenommen. Für jeden Vorwurf und jeden Verdacht hielt Canaris eine plausible Erklärung bereit. Die Essensrationen für Canaris wurden auf ein Drittel der normalen Gefängnisration reduziert. Ferner war er Schlafentzug durch ständige Kontrollen ausgesetzt und musste nun die Flure schrubben.
Im KZ Flossenbürg und Hinrichtung
Am 5. Februar 1945 wurde Wilhelm Canaris mit anderen Häftlingen ins KZ Flossenbürg transportiert. Im Sondertrakt des KZs hatte er über Klopfzeichen Kontakt zum Mithäftling Hans Mathiesen Lunding, einem dänischen Geheimdienstoffizier. Anfang April 1945 entdeckte Walter Buhle, General der Infanterie, oder einer seiner Offiziere in einem Panzerschrank in Zossen das seit langem von der Gestapo gesuchte Tagebuch von Canaris. Der nationalsozialistisch eingestellte Buhle ließ dies sofort an die Gestapo übergeben. Am 5. April wurde es von Ernst Kaltenbrunner, dem Chef der Sicherheitspolizei und des SD, Hitler persönlich vorgelegt. Hitler befahl die „sofortige Vernichtung der Verschwörer“. Kaltenbrunner ordnete nun ein SS-Standgericht an. Über das im KZ durchgeführte SS-Gericht gibt es nur Darstellungen von SS-Richter Otto Thorbeck und dem Ankläger Walter Huppenkothen.
Oster bekannte sich vor dem SS-Standgericht zum Widerstand. Canaris hingegen bestritt alle Vorwürfe. Oster bestätigte auch bei einer Gegenüberstellung mit Canaris alle Vorwürfe. Nun antwortete Canaris auf die Frage, ob sein ehemaliger Stabschef lüge, mit Nein. Die Angeklagten, neben Canaris Dietrich Bonhoeffer, Ludwig Gehre, Hans Oster und Karl Sack, wurden zum Tode verurteilt. Canaris klopfte zur Nachbarzelle eine letzte Nachricht:[Höhne 19]
„Bei letzter Vernehmung Nase gebrochen. Meine Zeit ist um. War kein Landesverräter. Habe als Deutscher meine Pflicht getan. Sollten Sie weiterleben, grüßen Sie meine Frau.“
Canaris, Bonhoeffer, Gehre, Oster, Sack und Theodor Strünck mussten sich wenig später nackt ausziehen und wurden gehängt. Ein SS-Mann sagte später als Zeuge:[Höhne 20]
„Bei dem kleinen Admiral hat es sehr lange gedauert. Er ist ein paar Mal rauf und runter gezogen worden.“
Die Toten wurden im Krematorium verbrannt und ihre Asche verstreut.
Der Vorsitzende des Standgerichts, Otto Thorbeck, und der Ankläger Walter Huppenkothen wurden nach dem Ende des NS-Regimes in der Bundesrepublik Deutschland wegen Beihilfe zum Mord angeklagt. Er wurde vom Bundesgerichtshof 1956 freigesprochen, obwohl es sich um einen reinen Schauprozess gehandelt hatte. Selbst nach den Gesetzen des NS-Staates war dieses SS-Standgericht rechtswidrig. Nach der Kriegsstrafverfahrensordnung (KStVO) war für die Angeklagten ein Kriegsgericht zuständig, da es sich nicht um SS-Angehörige handelte. Ebenso war kein Standgericht möglich, da dieses nur für eben begangene Straftaten zuständig war, deren sofortige Aburteilung zur Aufrechterhaltung von Ordnung und Sicherheit der Truppe notwendig gewesen wäre. Ferner lagen noch die folgenden Verfahrensfehler vor: keine militärischen Richter, falscher Gerichtsort, keine Verteidiger, keine Bestätigung und Überprüfung der Urteile.
Haltung gegenüber Juden
Sein Biograf Heinz Höhne behauptet, dass Wilhelm Canaris in einer Atmosphäre eines gemäßigten Antisemitismus des Ruhr-Bürgertums und der Marine aufgewachsen sei. Canaris glaubte offenbar an ein „Judenproblem“ im Deutschen Reich.
Teile der Abwehr, insbesondere die Abteilung III und GFP, waren direkt am Holocaust und an anderen Kriegsverbrechen beteiligt. Die GFP half etwa im Juli 1941 in Minsk den Einsatzgruppen beim Aufbau des Ghettos. Die dort stationierten Offiziere der Abwehr Abteilung III (Spionageabwehr) erstellten Listen und Unterlagen von durch die Einsatzgruppen zu Liquidierenden. Die Abwehr und GFP übergaben routinemäßig gefangene Juden den Einsatzgruppen.[Höhne 21] Es ist nicht bekannt, dass Canaris z. B. durch Befehle aktiv versucht hätte, die Beteiligung von Mitarbeitern der Abwehr an Kriegsverbrechen zu verhindern. Andererseits war Canaris aktiv an der Rettung von Juden beteiligt (so auch dem Unternehmen Sieben) und setzte dabei sein Kommando aufs Spiel. Drei der wichtigsten Agenten, nämlich Edgar Klaus, Ivar Lissner und Richard Klatt, waren Juden bzw. sogenannte Halbjuden. Canaris hatte früher erreicht, dass „Halbjuden“, die als V-Leute für die Abwehr arbeiteten, „deutschblütigen“ Personen gleichgestellt wurden. Himmler teilte Hitler im Februar 1942 etwas über einen „Volljuden“ mit, der für die Abwehr in Tanger (Marokko) arbeitete. Nach einem Wutanfall von Hitler wurde Canaris vom Dienst suspendiert. Canaris flog sofort ins Führerhauptquartier. Nach Aussprache mit Hitler kehrte Canaris in den Dienst zurück. Über die Unterredung mit Hitler unter vier Augen wurde nichts Näheres bekannt. Am 30. Juni 1942 war Canaris nach dem Scheitern des Unternehmens Pastorius wieder bei Hitler. Bei der Operation waren acht Agenten der Abwehr bereits kurz nach der Anlandung durch ein U-Boot in den USA gefasst worden. Nach Vorwürfen von Hitler erklärte Canaris, alle Agenten seien Parteimitglieder und der Organisator sogar Blutordensträger der NSDAP. Darauf äußerte Hitler: „Dann nehmen Sie Verbrecher und Juden“. Nun schickte Canaris ganz offiziell Juden mit vorgeblichen Agentenaufträgen ins Ausland und rettete sie damit. In einer Geheimoperation unter Major Walter Schulze-Bernett wurden 500 Juden als V-Männer nach Südamerika geschickt. Canaris beschaffte Devisen für die Rettungsaktion.[Höhne 22]
Rezeption in der Gegenwart
Wilhelm Canaris ist einer der wenigen Widerstandskämpfer gegen Hitler, deren Einordnung in die Geschichte noch Anfang des 21. Jahrhunderts umstritten ist. Seine Einordnung wird dadurch erschwert, dass praktisch keine eigenen schriftlichen Hinterlassenschaften vorliegen. Es gibt nur wenige persönliche Briefe und winzige Fragmente des Diensttagebuchs. Der Verbleib seiner Tagebücher ist ungeklärt.[20]
Direkt nach dem Krieg wurde er von rechten Kreisen vor allem als Verräter gesehen. Seine Frau Erika und Tochter Brigitte lebten deshalb lange in Spanien, um Anfeindungen zu entgehen. In konservativen Kreisen wurde ab den 1950er Jahren sein Widerstand gegen Hitler hervorgehoben. In eher linken Kreisen wurde der Blick auch auf seine Beteiligung am Prozess gegen die Mörder von Luxemburg und Liebknecht gelenkt. Seit der Biografie von Heinz Höhne mit dem Untertitel Patriot im Zwielicht von 1976 ist die ganze Widersprüchlichkeit seines Verhaltens offenbar. Dabei kam auch die Mitverantwortung an Verbrechen der Geheimen Feldpolizei im Krieg zu Tage, da diese Teil der Abwehr war.
Nach Canaris wurde, anders als nach vielen anderen hohen Offizieren des Widerstands gegen Hitler, keine militärische Einrichtung benannt. Es gibt in seinem Geburtsort im heutigen Dortmund-Aplerbeck eine Canarisstraße, ferner in Duisburg-Walsum. In Wesel und Lüdinghausen gibt es je eine Wilhelm-Canaris-Straße, und in Hannover-Mühlenberg, wo auch viele andere Straßen die Namen von Widerstandskämpfern tragen, existiert der Canarisweg.
Richard Bassett: Hitlers Meisterspion: Das Rätsel Wilhelm Canaris. Böhlau, Wien 2007. ISBN 978-3-205-77625-3.
Hans H. Hildebrand, Ernest Henriot: Deutschlands Admirale 1849–1945. Band 1: A–G (Ackermann bis Gygas). Osnabrück 1988, ISBN 3-7648-2480-8, S. 199–200.
Heinz Höhne: Admiral Wilhelm Canaris. In: Gerd Ueberschär (Hrsg.): Hitlers militärische Elite. 68 Lebensläufe. Wissenschaftliche Buchgesellschaft, Darmstadt 2011, ISBN 978-3-534-23980-1, S. 53–60.
Guido Knopp, Christian Deick: Der Verschwörer. In: Guido Knopp: Hitlers Krieger. Bertelsmann, München 1998, ISBN 3-570-00265-9, S. 335–403.
Michael Mueller: Canaris – Hitlers Abwehrchef. Propyläen, Berlin 2006, ISBN 978-3-549-07202-8.
Heiko Suhr: Wilhelm Canaris. Lehrjahre eines Geheimdienstchefs (1905–1934). Wachholtz Verlag, Kiel/Hamburg 2020 (Quellen und Forschungen zur Geschichte Schleswig-Holsteins; 130), ISBN 978-3-529-02224-1.
Weitere Literatur
Karl Heinz Abshagen: Canaris. Patriot und Weltbürger. Union Deutsche Verlagsgesellschaft, Stuttgart 1954.
Michael Bertram: Das Bild der NS-Herrschaft in den Memoiren führender Generäle des Dritten Reiches. Eine kritische Untersuchung. Ibidem-Verlag, Stuttgart 2009, ISBN 978-3-8382-0034-7.
Klaus Benzing: Der Admiral. Leben und Wirken. Selbstverlag, Nördlingen 1973.
Karl Glaubauf, Stefanie Lahousen: Generalmajor Erwin Lahousen, Edler von Vivremont – Ein Linzer Abwehroffizier im militärischen Widerstand. Lit Verlag, Münster 2005, ISBN 978-3-8258-7259-5.
↑Harald Bendert: Die UC-Boote der Kaiserlichen Marine 1914–1918. Minenkrieg mit U-Booten. E. S. Mittler, Hamburg, Berlin, Bonn 2001, ISBN 978-3-8132-0758-3, S.108.
↑Hiroaki Kuromiya, Georges Mamoulia: The Eurasian Triangle – Russia, The Caucasus and Japan, 1904–1945. DeGruyter, 2016, ISBN 978-3-11-046951-6, S.153 (mit vollem Text des Abkommens im Anhang).
↑Norman Domeier: Weltherrschaft und Völkermorden Zeitschrift für Geschichtswissenschaft 70 (2022) 6, S. 542–567
↑Fedor von Bock: Zwischen Pflicht und Verweigerung. das Kriegstagebuch. Hrsg.: Klaus Gerbet. Herbig, München/Berlin 1995, DNB946141746, S.78 (Im November 1939 erfuhr er von „Vorgängen der „Kolonisierung“ des Ostens“, die ihn zutiefst erschreckten. Er kommentierte diese in seinen Aufzeichnungen: „Macht man dort weiter so, so werden diese Methoden sich einmal gegen uns kehren!“).
↑The Trial of German Major War Criminals Sitting at Nuremberg, Germany November 20 to December 1, 1945. S.275 (archive.org).
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