Josef Müller war der Sohn eines Bauern. Bereits in seiner Schulzeit, als er in den Ferien als Fuhrknecht arbeitete, erwarb er sich den Beinamen „Ochsensepp“. Er besuchte das Knabenseminar Ottonianum in Bamberg, leistete seit 1916 Kriegsdienst bei den Minenwerfern, war an der Westfront im Einsatz und wurde 1919 als Vizefeldwebel entlassen. Nach dem Krieg holte er das Abitur am Neuen Gymnasium in Bamberg nach, studierte Rechtswissenschaften und Volkswirtschaft in München, promovierte 1925 zum Dr. oec. publ. und war seit 1927 Rechtsanwalt in München. Seit seiner Studentenzeit war er Mitglied der Katholischen Studentenverbindungen K.St.V. Ottonia München und Isaria Freising im KV.[1]
Zeit des Nationalsozialismus
In den Jahren nach der NS-Machtübernahme 1933 war Müller Rechtsberater einer größeren Gruppe von „Ariseuren“, des Konsortiums Eidenschink. Diesem Konsortium half er unter anderem, sich Teile des Besitztums des Industriellen Ignatz Nacher, des Direktors der zweitgrößten Brauerei Deutschlands Engelhardt in Berlin, weit unter Wert anzueignen. Dabei hatte man Nacher ins Gefängnis werfen lassen, um ihn „weichzukochen“.[2] Andere Unternehmen waren das Kalbfutterwerk Feldafing, die Schuhfabrik Weihermann Burgkunstadt und viele andere.
Andererseits verteidigte Josef Müller als Rechtsanwalt NS-Gegner vor Gericht. Er pflegte Kontakte zu den Widerstandskämpfern Canaris, von Dohnanyi und Oster. Seit 1939, zuletzt im Rang eines Hauptmanns,[3] leitete Müller die Außenstelle Luft der Abwehrabteilung des Oberkommandos der Wehrmacht im Wehrkreis VII. Im Auftrag von Oster versuchte er 1939/40, über den Vatikan einen Verständigungsfrieden mit England herbeizuführen für den Fall, dass Hitler gestürzt wurde. Anfang April 1940 scheiterte der praktisch letzte Versuch, die Wehrmachtsführung doch noch zu einer Aktion gegen Hitler zu bringen. Der von Franz Halder an den Oberbefehlshaber des Heeres Brauchitsch herangetragene Bericht wurde von diesem empört als Aufruf zum Landesverrat abgelehnt. Anfang Mai 1940, kurz vor dem Beginn des deutschen Westfeldzugs, gab Müller Informationen über den bevorstehenden Angriff an seine Verbindungsleute in Rom weiter.
Müller musste seine Tätigkeit weitgehend einstellen, nachdem HeydrichsSD begonnen hatte, Ermittlungen über den ihm bekanntgewordenen Verratsfall anzustellen. Nach einem Schreiben des deutschen Diplomaten Fritz Menshausen, Botschaftsrat beim Heiligen Stuhl, an Kardinalstaatssekretär Luigi Maglione, wurde Prälat Ludwig Kaas als Drahtzieher einer möglichen Verschwörung identifiziert, die auch Müller und den Jesuitenpater und päpstlichen Vertrauten Robert Leiber einbezog.[4] Josef Müllers Geheimkontakte liefen in Rom über Professor Leiber, damals Privatsekretär von Pius XII. In den Privaträumen des Professors an der Gregoriana, Piazza della Pilotta 4, fanden stets die konspirativen Gespräche statt. Dabei gingen Müller und Leiber immer höchst vorsichtig zu Werke. Sobald Müller in Rom ankam, habe er sich telefonisch, ohne Namensnennung, mit: „Ich bin da“ gemeldet, worauf Leiber lediglich die Uhrzeit des Treffens zur Antwort gab. Von Pater Leiber aus führte der Kontakt direkt zum Papst und über diesen zu dem britischen Botschafter beim Heiligen Stuhl, Sir Francis d’Arcy Osborne.[5]
Gehre und Bonhoeffer wurden gemeinsam mit Wilhelm Canaris, Hans Oster, Karl Sack und Theodor Strünck am 9. April 1945 im KZ Flossenbürg, Rabenau am 14. oder 15. April ebenda, etliche andere Mitkämpfer an anderen Orten hingerichtet, Liedig und Müller überlebten.
Nach dem Krieg gründete er mit dem Unterfranken Adam Stegerwald die CSU in Bayern. Er sprach sich für die Gründung einer liberalen und christlichen Partei aus, die, wie die CDU in den anderen deutschen Ländern und im Gegensatz zur Zentrumspartei und Bayerischen Volkspartei, nicht nur katholische Christen ansprechen sollte.
Es war Müllers Verdienst als CSU-Vorsitzender, dass er sich in der unübersichtlichen ersten Phase gegen die Traditionalisten durchsetzte, die aus der CSU eine Partei im Sinne der alten Bayerischen Volkspartei machen wollten.
Müller, dessen Partei eine absolute Mehrheit im Landtag 1947 hatte, war der einzige Vorschlag in der ersten Ministerpräsidentschaftswahl. SPD und WAV kündigten allerdings an, aufgrund seiner Vergangenheit mit einer von Müller geführten Regierung nicht zusammenarbeiten zu wollen. Von 175 Abgeordneten stimmten nur 73 für Müller, 33 dagegen für Hans Ehard und 69 für "Nein". Den zweiten Wahlgang, bei dem die CSU dann offiziell Ehard vorschlug, konnte dieser dann für sich entscheiden.[8]
Lange konnte sich Müller dann als Vorsitzender auch nicht halten, denn die Flügelkämpfe in der neuen Partei waren noch nicht ausgestanden: Im Mai 1949 unterlag er bei der Wahl zum CSU-Vorsitzenden klar Ehard. Von 1952 bis 1960 war er Chef der Münchner CSU.
Müller war zuvor bis 1952 als Justizminister im Kabinett Ehard. In seiner Eigenschaft als bayerischer Justizminister setzte er sich in der Wiedergutmachungsdebatte gegen die im Entwurf des alliierten Entschädigungsgesetzes vorgesehene „zivilrechtliche Wiedergutmachungspflicht“ ein, nach der nicht nur der Staat, sondern auch die individuellen Profiteure von „Arisierungen“ sowie Denunzianten u. a. zu Entschädigungsleistungen hätten herangezogen werden können. Müller hatte selbst als Rechtsanwalt an „Arisierungen“ im Dritten Reich mitgewirkt.[9]
Auerbach-Affäre
Als Justizminister war Müller maßgeblich an der Auerbach-Affäre beteiligt, bei der von nationalkonservativer Seite versucht wurde, den „Staatskommissar für rassisch, religiös und politisch Verfolgte“ zu Fall zu bringen, weil der zu selbstbewusst auf die Verbrechen der Deutschen im Zweiten Weltkrieg hinwies. Bereits 1949 hatte Müller einen Staatsanwalt eigens dafür abgestellt, Belastungsmaterial gegen Philipp Auerbach zu sammeln, der in der Zeit von 1946 bis zu seiner Verhaftung 1951 amtierte. 1951 wurde ein Prozess gegen Auerbach geführt. Am Ende war von den schwerwiegenden Vorwürfen kaum etwas übrig geblieben. Trotzdem beging Auerbach in der Nacht nach der Urteilsverkündung Suizid, weil er eine Verurteilung nicht ertragen konnte.[10][11] Ein Landtagsuntersuchungsausschuss rehabilitierte Auerbach 1954.[12]
1951 wurde Josef Müller verdächtigt, von einer jüdischen Wiedergutmachungsinstitution Geld erhalten zu haben. Er gab daraufhin zu, im ersten Halbjahr 1950 vom Landesrabbiner Aaron Ohrenstein 20.000 DM bekommen zu haben. Da er in dem im Sommer 1952 zur Auerbach-Affäre tagenden Landtagsuntersuchungsausschuss[13] unter anderem die Verwendung des Geldes nicht belegen konnte, musste er sein Amt als Justizminister aufgeben.[14][15][16]
Nachdem er 1960 die Wahl des Münchner Oberbürgermeisters gegen Hans-Jochen Vogel verloren hatte, zog er sich aus der aktiven Politik zurück. In den 1960er Jahren gehörte die Apparatebau Gauting GmbH zu zehn Prozent ihrem Direktor Rudolf Höfling, zu 90 Prozent Müller und dessen Tochter Christine-Marianne.[17]
Bis zur letzten Konsequenz. Ein Leben für Frieden und Freiheit. Süddeutscher Verlag, München 1975, ISBN 3-7991-5813-8.
Literatur
in der Reihenfolge des Erscheinens
Karl Köhler: Der Mittwochskreis beim Ochsensepp. In: Michael Schröder (Hrsg.): Bayern 1945 – Demokratischer Neubeginn. Interviews mit Augenzeugen. Süddeutscher Verlag, München 1985, ISBN 3-7991-6274-7.
Friedrich Hermann Hettler: Josef Müller – Mann des Widerstandes und erster CSU-Vorsitzender . Miscellanea Bavarica Monacensia Band 155, Neue Schriftenreihe des Stadtarchivs München 1991, zugleich Dissertation 1991, ISBN 3-87821-280-1.
Renate Höpfinger (Red.): Zum 100. Geburtstag. Josef Müller. Der erste Vorsitzende der CSU. Politik für eine neue Zeit. Hrsg. von der Hanns-Seidel-Stiftung, München 1998, ISBN 3-928561-72-3.
Karl-Hans Kern: Die Geheimnisse des Dr. Josef Müller. Mutmaßungen zu den Morden von Flossenbürg (1945) und Pöcking (1960). Frieling Verlag, Berlin 2000. ISBN 3-8280-1230-2.
Hans-Otto Kleinmann: Josef Müller (1898–1979). Erster Vorsitzender der CSU. In: Günter Buchstab, Brigitte Kaff, Hans-Otto Kleinmann (Hrsg.): Christliche Demokraten gegen Hitler. Aus Verfolgung und Widerstand zur Union. Herausgegeben im Auftrag der Konrad-Adenauer-Stiftung. Herder, Freiburg im Breisgau 2004, ISBN 3-451-20805-9, S. 371–378.
Karl-Ulrich Gelberg: Josef Müller (1898–1979). In: Jürgen Aretz, Rudolf Morsey, Anton Rauscher (Hrsg.): Zeitgeschichte in Lebensbildern, Aus dem deutschen Katholizismus des 19. und 20. Jahrhunderts. Band 8, Aschendorff Verlag GmbH & Co. KG, Münster 1997, ISBN 978-3-402-06112-1, S. 155–172. (Digitalisat)
↑Siegfried Koß, Wolfgang Löhr (Hrsg.): Biographisches Lexikon des KV, Band 2 (= Revocatio historiae, Band 3). SH-Verlag, Schernfeld 1993, ISBN 3-923621-98-1, S. 94 f.
↑Johannes Ludwig: Boykott, Enteignung, Mord. Die »Entjudung« der deutschen Wirtschaft. Facta Oblita Hamburg 1988, erweiterte Neuauflage Piper, München 1992, ISBN 3-492-11580-2. S. 95.
↑Zuerst ins Kraut schießen. In: Der Spiegel. Nr.27, 1952 (online – 16. Januar 1952).
↑Bayerischer Landtag (Hrsg.): Stenograpfischer Bericht über die Verhandlungen des Bayerischen Landtags - Zweite öffentliche Sitzung. Band1, Nr.2. München 21. Dezember 1946 (landtag.de).
↑Goschler, Constantin: Schuld und Schulden, Die Politik der Wiedergutmachung für NS-Verfolgte seit 1945, Seite 90f., Wallstein Verlag, Göttingen 2005.
↑Wolfgang Kraushaar: Die Auerbach-Affäre. In: Julius H. Schoeps: Leben im Land der Täter Juden im Nachkriegsdeutschland (1945–1952) Jüdische Verlagsanstalt Berlin, S. 208–218, hier: S. 213.
↑Hannes Ludyga: Philipp Auerbach. Berliner Wissenschafts-Verlag, Berlin 2005, ISBN 3-8305-1096-9, S. 130–131, mit Quellen.