Geßler gehörte in München dem Intellektuellen-Kreis um die Zeitschrift Die Freistatt, Wochenschrift für Politik, Literatur und Kunst an.[2] Er wurde von den nationalsozialen Ideen Friedrich Naumanns beeinflusst und war wie dieser für eine Öffnung nach Links, auch zur SPD, offen. Er gehörte der linksliberalen Freisinnigen Volkspartei (ab 1910 der Fortschrittlichen Volkspartei) an. Er befürwortete eine Fusion mit der Nationalliberalen Partei und der Süddeutschen Volkspartei (Demokraten). Im März 1910 wurde der Münchner Gewerbegerichtstrat Geßler bei der Gründungstagung der Arbeitsgemeinschaft liberaler Kreisverbände zum Vorsitzenden gewählt. Sie wurde in Bayern als Dachorganisation und zentrale Geschäftsstelle aller liberalen Parteien ein Meilenstein der Vereinigungsbestrebungen, die maßgeblich von den Nationalsozialen Naumanns und den Jungliberalen vorangetrieben wurde. Sie strebten auch die Umwandlung der alten Honoratiorenparteien zu einer modernen Volkspartei an. Da Geßler im Dezember 1910 zum Regensburger Bürgermeister gewählt wurde, trat er im Oktober 1911 als Vorsitzender zurück, blieb aber im Geschäftsführenden Vorstand.[3]
Während der Kriegsjahre bewältigte er in enger Abstimmung mit SPD und Gewerkschaften die schwierige Versorgungslage, so dass es in der Industrie- und Arbeiterstadt Nürnberg, anders als in vergleichbaren Großstädten, nicht zu großen Streiks, Lebensmittelunruhen oder Krawallen kam. Er wurde im Juni 1916 in den kriegswichtigen Ernährungsbeirats Bayerns berufen. Er nutzte seinen Zugang zur Staatsspitze am 5. November 1918, um Otto von Dandl, den Vorsitzenden des Ministerrats, und König Ludwig III. vor der unmittelbaren Umsturzgefahr zu warnen, und drängte auf sofortigen Vollzug der Parlamentarisierung Bayerns. Er wurde, bevor Kurt Eisner am 8. November die Republik ausrief, als möglicher Nachfolger Dandls gehandelt.[4]
Ab Ende des 1. Weltkriegs
Geßler war am 16. November 1918 im Augustinerbräu neben Georg Hohmann, Ludwig Quidde, Ernst Müller-Meiningen, Pius Dirr und Karl Hübsch einer der Gründer der Deutschen Volkspartei in Bayern. Die Neugründung bekannte sich klar zur Republik und wurde wesentlich von den Aktiven der Arbeitsgemeinschaft liberaler Kreisverbände, den Nationalsozialen und Jungliberalen getragen. Einige Monate später wurde sie zur Deutschen Demokratischen Partei (DDP) umbenannt und schloss sich der reichsweiten DDP an.
Nach der Beendigung des „passiven Widerstands“ gegen die Ruhrbesetzung durch die Regierung Stresemann und der verfassungswidrigen Machtübernahme Gustav von Kahrs in Bayern verhängte ReichspräsidentFriedrich Ebert am 26. September 1923 den Ausnahmezustand über das gesamte Reich. Die vollziehende Gewalt übertrug er – im Sinne des sogenannten zivilen Ausnahmezustands – an Reichswehrminister Geßler.[5] Dieser delegierte sie weiter an die Wehrkreisbefehlshaber. Am 28. September ordnete Geßler ein Verbot der NSDAP-Zeitung Völkischer Beobachter an, nachdem diese einen beleidigenden Artikel gegen General von Seeckt und Reichskanzler Gustav Stresemann gedruckt hatte. Als sich Generalleutnant Otto von Lossow als Wehrkreisbefehlshaber in München weigerte, dies umzusetzen, enthob Geßler ihn am 20. Oktober seines Amtes. Der bayerische Generalstaatskommissar von Kahr ernannte Lossow daraufhin zum Landeskommandanten und betraute ihn mit der Führung des „bayerischen Teils des Reichsheeres“. Trotz dieses offen reichsfeindlichen Verhaltens der bayerischen Regierung erachtete Geßler eine Verhängung der Reichsexekution gegen Bayern als aussichtslos, da die Reichswehr unter Seeckt nicht bereit gewesen sei, diese auszuführen.[6]
Ende Oktober bzw. Anfang November 1923 befahl Geßler jedoch die militärische Entmachtung der Landesregierungen von Sachsen und Thüringen, an denen die KPD beteiligt war. Diese führte die Reichswehr bereitwillig aus, allein in Sachsen waren 60.000 Soldaten im Einsatz. Zur Niederschlagung des Münchener Hitlerputsches in der Nacht vom 8. zum 9. November 1923 erklärte der Reichspräsident dann den „großen“, d. h. militärischen, Ausnahmezustand, womit die Exekutivgewalt an General von Seeckt überging.[5]
Nach dem Tod Friedrich Eberts 1925 beabsichtigte Geßler, als Sammelkandidat der bürgerlichen Parteien zur Wahl des Reichspräsidenten anzutreten. Er scheiterte aber vor allem am Widerstand des Reichsaußenministers Gustav Stresemann, der auf Grund von Informationen des deutschen Botschafters in Paris außenpolitische Bedenken hatte. Eine Präsidentschaft Geßlers hätte in Frankreich den Eindruck erwecken können, „die politische Leitung würde in die Hand der Reichswehr“ übergehen.[7] Im Oktober 1926 erreichte Geßler die Entlassung Seeckts als Chef der Heeresleitung. Anlass war die Teilnahme Wilhelm Prinz von Preußens, des ältesten Sohns des Hohenzollern-Kronprinzen, an einem Manöver des Infanterieregiments Nr. 9 der Reichswehr, die für großes Aufsehen gesorgt hatte. Der einzige, der darüber nicht informiert gewesen war, war der Reichswehrminister selbst.[8]
Geßlers Ziel war eine überparteiliche, neutrale Reichswehr. Er blieb trotz häufiger Regierungswechsel nahezu acht Jahre im Amt. Zwischen dem 12. und dem 17. Mai 1926 war er nach den Rücktritt von Reichskanzler Hans Luther als dessen Stellvertreter für sechs Tage kommissarischer Reichskanzler. Am 3. Dezember 1926 trat er aus der DDP aus.[9] In dieser Zeit wurden die Angriffe der SPD gegen ihn immer heftiger. Unter anderem wurde ihm eine Nähe zu rechtsgerichteten Kreisen und zur Großindustrie vorgeworfen.
Wegen des Vorwurfs finanzieller Unregelmäßigkeiten in seinem Verantwortungsbereich im Zusammenhang mit der geheimen Aufrüstung der Reichswehr (Lohmann-Affäre), vor allem des Bestehens von geheimen Fonds zur Rüstungsfinanzierung, musste Geßler am 28. Januar 1928 zurücktreten. Offiziell lautete die Begründung aber, er sei aus gesundheitlichen Gründen zurückgetreten. Sein Nachfolger wurde der parteilose ehemalige General Wilhelm Groener.
Seine Erinnerungen Reichswehrpolitik in der Weimarer Zeit bereitete Geßler mit dem Journalisten Kurt Sendtner vor, der auch einen Lebensabriss schrieb, Dokumente hinzufügte und edierte und von Bundespräsident Theodor Heuss ein sehr persönlich formuliertes Geleitwort beschaffte. Die von Sendtner herausgegebenen Memoiren erschienen posthum 1958.[10] Das Manuskript, das für die Publikation erheblich gekürzt wurde, ist in Geßlers Nachlass im Bundesarchiv Koblenz erhalten. Sendtner übergab dem Bundesarchiv nach Abschluss der Publikationen einen Teil des Nachlasses, der andere Teil kam vom Hauptgeschäftsführer des Bayrischen Roten Kreuzes. Das Bundesarchiv beschreibt die Probleme und Lücken, aber auch den Wert des Nachlasses ausführlich.[11]
In Nürnberg wurde im Bezirk Schleifweg die Otto-Geßler-Straße nach ihm benannt, ebenso gibt es in seinem Geburtsort Ludwigsburg, in Regensburg, in Lindau sowie in Lindenberg im Allgäu eine ihm zu Ehren benannte Straße. Die heutige Rotkreuzklinik Lindenberg trug bis ins Jahr 2010 den Namen Dr.-Otto-Geßler-Kreiskrankenhaus Lindenberg.
Auf dem Nürnberger Bürgermeisterstuhl im Weltkrieg. 1914–1918. In: Walter Goetz (Hrsg.): Festgabe für Seine Königliche Hoheit Kronprinz Rupprecht. Verlag Bayerische Heimatforschung, München 1953, S. 98–126.
Die Träger der Reichsgewalt. [Vorträge zum Staatsrecht]. Hanseatische Verlagsanstalt, Hamburg 1931.
Der Aufbau der neuen Wehrmacht. In: Zehn Jahre deutsche Geschichte 1918–1928, Otto Stollberg Verlag, Berlin 1928, S. 87–103.
Die budgetrechtliche Bedeutung des Staatshaushaltes nach bayerischem Staatsrecht. Dissertation, Juristische Fakultät, Friedrich-Alexander-Universität Erlangen, Erlangen 1900.
Klaus-Dieter Schwarz: Otto Geßler. In: Ders.: Weltkrieg und Revolution in Nürnberg. Ein Beitrag zur Geschichte der deutschen Arbeiterbewegung. Ernst Klett Verlag, Stuttgart 1971 (Kieler Historische Studien; 13), ISBN 3-12-907900-9, S. 85–105.
Peter Hoffmann: Widerstand, Staatsstreich, Attentat. Der Kampf der Opposition gegen Hitler. Piper, München 1969, 1985.
Anton Schlögel: Fünf Präsidenten des Deutschen Roten Kreuzes. In: Geist und Gestalt des Roten Kreuzes. 2. Auflage, Bonn 1988.
Martin Schumacher (Hrsg.): M.d.R. Die Reichstagsabgeordneten der Weimarer Republik in der Zeit des Nationalsozialismus. Politische Verfolgung, Emigration und Ausbürgerung, 1933–1945. Eine biographische Dokumentation. 3., erheblich erweiterte und überarbeitete Auflage. Droste, Düsseldorf 1994, ISBN 3-7700-5183-1.
Heiner Möllers: Reichswehrminister Otto Geßler. Eine Studie zu „unpolitischer“ Militärpolitik in der Weimarer Republik (= Europäische Hochschulschriften. Reihe 3: Geschichte und ihre Hilfswissenschaften. Bd. 794). Lang, Frankfurt am Main u. a. 1998, ISBN 3-631-33191-6.
Manuel Limbach: Bürger gegen Hitler. Vorgeschichte, Aufbau und Wirken des bayerischen „Sperr-Kreises“ (= Schriften der Historischen Kommission bei der Bayrischen Akademie der Wissenschaften. Bd. 102). Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen 2019, ISBN 978-3-525-31071-7.
↑ abcKarl Eduard Haas: Die Akademisch-Musikalische Verbindung Fridericana im Sondershäuser Verband, vormals Studentengesangverein Erlangen, Selbstverlag, Erlangen 1982.
↑Ludwig Curtius: Deutsche und antike Welt. Lebenserinnerungen. Deutsche Verlags-Anstalt, Stuttgart 1950, S.242.
↑Werner Chrobak: Politische Parteien, Verbände und Vereine in Regensburg 1869–1914, Teil II. In: Verhandlungen des Historischen Vereins für Oberpfalz und Regensburg. Nr.120, 1980, S.211–384, hier S. 383f., urn:nbn:de:bvb:355-rbh-2127-7 (heimatforschung-regensburg.de [PDF; abgerufen am 24. April 2023]).
↑Joachim Reimann: Der politische Liberalismus in der Krise der Revolution. In: Karl Bosl (Hrsg.): Bayern im Umbruch. Die Revolution von 1918, ihre Voraussetzungen, ihr Verlauf und ihre Folgen. Oldenbourg, München 1969, S.165–200, hier S. 168.
↑ abMartin H. Geyer: Grenzüberschreitungen. Vom Belagerungszustand zum Ausnahmezustand. In: Niels Werber u. a.: Erster Weltkrieg. Kulturwissenschaftliches Handbuch. J.B. Metzler, Stuttgart/Weimar 2014, S. 362.
↑Heinrich August Winkler: Weimar 1918–1933. Die Geschichte der ersten deutschen Demokratie. 3. Auflage, Verlag C.H. Beck, München 1998, S. 211, 223.