Als Todesmärsche von KZ-Häftlingen (teils auch euphemistisch Evakuierungsmärsche genannt) werden verschiedene „Räumungsaktionen“ der SS-Wachmannschaften in der Schlussphase des Zweiten Weltkriegs bezeichnet. Dabei löste die SS ab 1944 frontnahe Konzentrationslager, so auch z. B. das berüchtigte Vernichtungslager Auschwitz-Birkenau, auf und zwang die meisten KZ-Häftlinge zum Abmarsch in Richtung Reichsmitte oder sperrte sie zum Abtransport in Eisenbahnwagen. Sehr oft wurden nicht marschfähige Häftlinge in großer Zahl erschossen. Viele Lagerteile wurden von der SS in Brand gesetzt.
Zahlreiche KZ-Häftlinge überlebten die tage- und wochenlang dauernden Märsche bzw. Transporte nicht: Sie erfroren, verhungerten oder brachen geschwächt zusammen und wurden dann von den SS-Wachmannschaften erschossen. Einzelne Züge gerieten zufällig unter Beschuss durch im Bodenkampf eingesetzte Kampfflieger der alliierten Truppen, andere blieben unversorgt auf Ausweichstrecken liegen; manche Todesmärsche endeten mit einer Katastrophe wie der Versenkung der Cap Arcona oder in einem Massaker wie bei der Isenschnibber Feldscheune in Gardelegen.
Die Bezeichnung „Todesmarsch“ wurde im Nachhinein von Opfern geprägt und ist in der wissenschaftlichen Literatur ein geläufiger Begriff geworden. Das Standardwerk Enzyklopädie des Nationalsozialismus definiert Todesmarsch als ein „Phänomen im Dritten Reich, vor allem gegen Ende des Krieges, als die Häftlinge etlicher KZ evakuiert, d. h. in großer Zahl gezwungen wurden, unter unerträglichen Bedingungen und brutalen Misshandlungen über weite Entfernungen zu marschieren, wobei ein großer Teil von ihnen von den Begleitmannschaften ermordet wurde.“[1]
Bei einigen Märschen schloss sich für die Überlebenden ein Weitertransport in Zügen an. Manchmal wurden die Häftlinge bei der Räumung von Lagern auch von Lastwagen abgeholt oder unmittelbar in Eisenbahnwagen verfrachtet. Auch diese Transporte, die gleichfalls tagelang dauerten, unter widrigen Umständen stattfanden und zahlreiche Todesopfer forderten, werden oft als Todesmärsche bezeichnet.
Im Zusammenhang mit der Auflösung der Konzentrationslager wird häufig der Ausdruck „Evakuierung“ verwendet. Dieser Begriff bezieht sich gemeinhin jedoch auf eine Rettungsmaßnahme, bei der Menschen angesichts drohender Gefahr vorübergehend an einen sicheren Ort gebracht werden. Bei den hier angesprochenen „Evakuierungen“ verhinderte die SS die rettende Befreiung durch alliierte Truppen und verursachte mit dem schonungslosen Abtransport weitere Todesopfer. Daher erscheinen die Begriffe „Räumung“ oder „Auflösung“ der Lager treffender.[2] Die Historikerin Katrin Greiser weist darauf hin, dass ‚Evakuierung’ keine Tätersprache sei, sondern in Texten von Überlebenden gebräuchlich und durch die deutschsprachige Übersetzung der Nürnberger Prozesse-Protokolle weit verbreitet (evacuation[3]). Ehemalige SS-Angehörige hätten von ‘Räumung’, ‘Rückführung’, ‘Umquartierung’, ‘auf Transport schicken’ oder ‘Bergung von Menschen’ gesprochen.[4]
Bei den meisten Todesmärschen wurden zahlreiche erschöpfte Häftlinge am Wegesrand von den Wachmannschaften erschossen. Besonders diese willkürlichen Tötungen führten zur Bezeichnung Todesmarsch. Diana Gring definiert „Todesmarschverbrechen“ als „nichtstationär verübte NS-Gewalttaten in der Kriegsendphase, die im Zusammenhang mit den Räumungen der Konzentrationslager standen und während der Märsche bzw. an den entsprechenden Aufenthalts- und Endpunkten des Routenverlaufs verübt wurden.“[5] Die Verbrechen in dieser Zeitspanne insgesamt werden als Endphase-Verbrechen (1944/1945) bezeichnet.
Systematische vergleichende Analysen liegen erst im Ansatz vor. In der Dokumentation Mörderisches Finale von Ulrich Sander wurden diese Massenverbrechen erstmals systematisch gesammelt und in den historischen Kontext gestellt.[6] Als wichtige gemeinsame Merkmale der Todesmärsche stellt Diana Gring heraus: Zufälligkeit des Tatortes, Heterogenität der Tätergruppen und Abtrennung der oberen von der unteren Befehlsebene.[7] Katrin Greiser hat herausgearbeitet, dass die Todesmärsche und -transporte als Fortsetzung des Systems der Konzentrationslager zu sehen sind. Dessen grundlegende Strukturen haben auch in seiner letzten Phase weiterfunktioniert und sich wieder, wie schon mehrfach seit 1933, flexibel angepasst.[8]
Der erzwungene Rückzug der deutschen Truppen führte ab Sommer 1944 dazu, dass die in Frontnähe geratenen Konzentrationslager mit ihren zahlreichen Außenlagern aufgelöst und geräumt wurden. Mit der Räumung der Lager von Auschwitz im Januar 1945 begannen die Todesmärsche der Gefangenen. Beim Herannahen der Roten Armee beziehungsweise der westalliierten Truppen wurden die Häftlinge in Marschkolonnen „evakuiert“ oder mit Eisenbahnzügen – oftmals in offenen Güterwagen – abtransportiert. Zuletzt wurden vom KZ Neuengamme aus noch Mitte April 1945 mehr als 10.000 Häftlinge von der SS auf einen Marsch gezwungen.
Bei der Räumung von Konzentrationslagern lassen sich drei Phasen unterscheiden: In einer ersten Phase zwischen August 1944 und Mitte Januar 1945 wurden die Lager weitgehend geordnet aufgelöst. Meist wurden die Häftlinge der Außenlager im Stammlager zusammengezogen und ein Teil schon Wochen vor der Auflösung des Lagers abtransportiert. Es folgte bis Anfang April 1945 eine Zeitspanne, in der es zu immer hektischeren und kaum vorbereiteten Räumungen kam. Oft ermordete die SS-Wachmannschaft vor dem Aufbruch die „marschunfähigen“ Häftlinge wie auch viele meist deutsche politische Funktionshäftlinge, denen man eine Widerstandshandlung zutraute.[9] In der letzten Phase kam es zu überstürzten und chaotischen Abmärschen, für die es kaum noch Ausweichlager als Zielorte gab.[10]
Der Entscheidungsprozess zur Räumung der Lager lässt sich wegen der lückenhaften Quellenlage nicht rekonstruieren. Ob ein „Führerbefehl“ zur „Vernichtung aller Häftlinge samt Wachen“, der in den Memoiren von Felix Kersten erwähnt wird, tatsächlich gegeben wurde, ist höchst zweifelhaft; auch angeblich örtlich erteilte entsprechende Vernichtungsbefehle, über die zu fast jedem Konzentrationslager berichtet wird, lassen sich nicht belegen und wurden auch in keinem Konzentrationslager durchgeführt.[11]
Möglicherweise gab Heinrich Himmler schon am 17. Juni 1944 einen Befehl aus, die KZ-Häftlinge nicht einfach in die Hände der alliierten Befreier fallen zu lassen. Die höheren SS- und Polizeiführer erhielten die Befugnis, bei unmittelbar bevorstehendem Angriff eine „Evakuierung“ anzuordnen.[12]
Offenbar verfolgten die Verantwortlichen „eine Politik voller Widersprüche“.[13] Himmlers „Judenpolitik“ war in den letzten Kriegsmonaten wechselhaft und inkonsequent.[14] Himmler selbst versuchte, Kontakte zu den Westalliierten zu knüpfen, und hielt darum jüdische Häftlinge lange in Geiselhaft zurück.[15] Noch im März 1945 schickte er Oswald Pohl mit dem unmissverständlichen Auftrag in verschiedene Lager, das Massensterben einzudämmen und insbesondere verbliebene jüdische Häftlinge zu verschonen.[16] Am 15. April 1945 erreichte ein Kurier den Leiter eines „Evakuierungsmarsches“ aus Helmbrechts und übermittelte den ausdrücklichen Befehl Himmlers, die Juden nicht zu töten.[17] Andererseits gab Himmler am 18. April 1945 – oftmals wird fälschlich der 14. April genannt – einen nicht im Original überlieferten Befehl an das KZ Flossenbürg, die Häftlinge unter keinen Umständen lebend der US-Armee zu überlassen, da sich in Buchenwald die befreiten Häftlinge „grauenhaft gegen die Zivilbevölkerung benommen“ hätten und eine Gefahr für die Zivilbevölkerung darstellten.[18]
Dem Hamburger Gauleiter Karl Kaufmann wird zugeschrieben, er habe KZ-Häftlinge aus der Stadt entfernen lassen, weil er befürchtet habe, dass die Siegermächte beim Anblick halbverhungerter Gefangener eine sofortige strenge Bestrafung angeordnet hätten.[19] Als „faktisches Geschehen“ stellte die Historikerin Karin Orth heraus, dass die SS die KZ-Häftlinge bis zum Schluss in ihrer Gewalt halten wollte: „Zu welchem Zweck auch immer – als Arbeitssklaven, die eine uneinnehmbare Festung für den 'Endkampf' errichten sollten, als Opfer eines […] apokalyptischen Untergangs, als Geiseln für etwaige Verhandlungen mit den Westmächten oder als Verfügungsmasse für den erwarteten antikommunistischen Neubeginn.“[20]
Für Daniel Goldhagen stellen die Todesmärsche die bewusste Fortsetzung des Holocaust mit anderen Mitteln und eine planvolle Strategie zur Vernichtung des jüdischen Volkes dar.[21] Andere Historiker weisen darauf hin, dass die Mehrzahl der Evakuierten nichtjüdische Häftlinge waren, und führen die zahlreichen Opfer auf das vollständige Chaos der letzten Kriegsmonate und den Zusammenbruch der Versorgung zurück. Der Historiker Eberhard Kolb kommt zum Schluss: Nicht zentrale Anordnungen, sondern „niedrige SS-Chargen haben auf den Todesmärschen über das Schicksal Tausender von Häftlingen entschieden.“[22] Karin Orth stellt als wesentliche Motive für das ungezügelte mörderische Tun der Begleitmannschaft heraus: „Sie töteten, um die eigene Flucht zu beschleunigen – und weil das Leben der KZ-Häftlinge in ihren Augen keinerlei Wert besaß.“[23]
An vielen Orten, besonders in Ostdeutschland, sind Stellen, an denen Menschen auf Todesmärschen starben, auf den Straßen mit Gedenksteinen markiert. Diese – meist in der unmittelbaren Nachkriegszeit errichteten – Mahnmale geben keinen Hinweis darauf, um welche Menschen es sich jeweils handelte.
Zur Anzahl der auf diesen Todesmärschen zu Tode gekommenen Menschen gibt es nur weit auseinanderliegende Schätzungen. Von den im Dezember 1944 registrierten 714.000 KZ-Häftlingen kamen bis Mai 1945 wahrscheinlich mindestens ein Drittel[24][25] ums Leben: Durch erschöpfende Zwangsarbeit, durch Hunger, Kälte und Erschöpfung während der Todesmärsche sowie durch gezielte Tötungen, die sich nicht allein auf geschwächt Zurückbleibende beim Fußmarsch beschränkten, durch Seuchen und Mangelernährung in überfüllten Aufnahmelagern oder als Opfer von Kampfhandlungen.
Die Todesopfer wurden, sofern sie nicht sofort verscharrt worden waren, auf Befehl der Siegermächte nach deren Eintreffen auf Friedhöfen der umliegenden Orte bestattet. Diese meist anonymen Gräber tragen oft Tafeln oder Kreuze mit der Inschrift „Opfer des Nationalsozialismus“. Meist fehlt jeglicher Hinweis auf den Grund des Todes und den genauen Todesort.
Im September 1944 wurde mit der Auflösung des Zwangsarbeitslagers in Bor begonnen. Am 17. September 1944 verließ eine Kolonne von zirka 3600 Häftlingen mit einer zirka 100 Mann starken ungarischen Wachmannschaft das Lager. Die Wachmannschaft bestand überwiegend aus Lagerhäftlingen und ungarischem Militär. Von Bor wurden die Häftlinge bis zu einer Pontonbrücke bei Smederovo und dann weiter nach Novi Sad, Sombor, Mohács bis nach Szentkirályszabadja (Balaton) geführt. Von dort wurden sie in die Konzentrationslager Flossenbürg, Sachsenhausen und Oranienburg deportiert. Während des Gewaltmarsches kam es zu mehreren Angriffen von Partisanen auf die Wachmannschaft. Einige Häftlinge konnten dadurch während der Angriffe zu den Partisanen flüchten und lebensrettenden Schutz finden. Laut Aussagen von überlebenden Zeitzeugen entschied sich der verantwortliche ungarische Kommandant nach Überquerung der Donau für eine Umgehung von Dörfern mit teilweise in der Nacht zurückzulegenden Strecken. Während der gesamten Strecke wurden bei jeder möglichen Gelegenheit den Häftlingen mehrheitlich von serbischer Bevölkerung Nahrungsmittel zugesteckt. Am 19. September 1944 verließ eine Kolonne von zirka 2500 Häftlingen mit ungarischer Wachmannschaft unter dem Kommando von Einheiten des SS-Polizei-Gebirgsjäger-Regiments Nr. 18 das Lager. Die Häftlinge wurden bis nach Belgrad, dann weiter nach Pančevo, Perlez, Titel, Crvenka bis Szentkirályszabadja (Balaton) getrieben. Von Pančevo bis Titel wurde die Kolonne unter das Kommando von einer Wachmannschaft der paramilitärischen Einsatzstaffel der Deutschen Mannschaft der Volksgruppenführung gestellt. In Titel wurde die ungarische Wachmannschaft wieder unter das Kommando von ungarischem Militär gestellt. In Szentkirályszabadja angekommen, musste ein Teil der Kolonne wieder zurück ins südliche Baja marschieren, wo sie dann weiter in die Konzentrationslager Flossenbürg und Buchenwald deportiert wurden. Ein anderer Teil wurde zum Bau des Südostwalls nach Westen getrieben. Eine hohe Anzahl von Häftlingen wurde bereits während der Todesmärsche misshandelt und erschossen. Überlebende Zeitzeugen waren u. a. Gyula Trebitsch und László Lindner.[42] Den Gewaltmarsch zum Bau des Südostwalls beschrieb Miklós Radnóti in einem Gedicht:[43]
Verrückt, wer niederstürzt dann aufsteht, weitergeht, als wandelnder Schmerz Füße und Knie bewegt und trotzdem geht, als ob ihn Flügel tragen, und vergebens ruft der Graben, zu bleiben wagt er nicht.
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