Gert Westphal wurde als erster von zwei Söhnen des Fabrikdirektors Curt Westphal (1894–1971) und dessen Frau Elsa, geb. Bräuer (1895–1974), in Dresden geboren, wo sein kulturell interessierter Vater eine Treibriemenfabrik leitete. Beide Eltern stammten aus Moritzburg in Sachsen.[2] Nach dem Abitur am RealgymnasiumBlasewitz absolvierte er eine Schauspielausbildung bei Paul Hoffmann am Dresdner Staatsschauspielhaus. 1940 debütierte er in der Rolle des zweiten Reiters in GoethesGötz von Berlichingen, bevor er zum Kriegsdienst eingezogen wurde. Nach Kriegsgefangenschaft und einigen Umwegen kam er 1946 nach Bremen. Hier begann er neben einem Engagement an den Bremer Kammerspielen zur gleichen Zeit eine Tätigkeit als Sprecher und Redakteur bei Radio Bremen. 1948 wurde er Hörspielleiter des von den Alliierten initiierten und kontrollierten Senders und übte diese Position bis zu seinem Wechsel zum SüdwestfunkBaden-Baden 1953 aus. Dort war er bis 1959 in gleicher Position beschäftigt und damit für sämtliche in dieser Zeit produzierten Aufnahmen verantwortlich.
Daneben war Westphal seit Beginn seiner Arbeit beim Rundfunk immer auch mit Lesungen zu hören, deren Texte er selbst aussuchte und bearbeitete. Ebenso unterstützte er neue oder nur schwer realisierbare Formate und Projekte. Für den damaligen Chefredakteur der Jazz-Redaktion des Südwestfunks, Joachim-Ernst Berendt, etwa war Westphal wegen seines Textverständnisses und seiner Musikalität die Idealbesetzung für die von ihm kreierten Lyrik und Jazz-Programme[3] (etwa mit dem Metronome Quintett), die bis heute stilbildend wirken. Der musikalischen Form des Melodrams fühlte er sich trotz wiederkehrender Bedenken zahlreicher Veranstalter besonders verbunden. So brachte er u. a. Die Weise von Liebe und Tod des Cornets Christoph Rilke von Rainer Maria Rilke in der Version für Sprecher und Klavier von Viktor Ullmann zusammen mit dem Pianisten Michael Allan am 15. Juni 1994 bei den Sommerlichen Musiktagen Soest zur Uraufführung. Auch bei Ullmanns orchestrierter Fassung (Ghetto Theresienstadt 1944) übernahm Westphal, etwa in der Berliner Philharmonie mit der Deutsch-Skandinavischen Jugend-Philharmonie unter der Leitung von Andreas Peer Kähler, den Part des Sprechers.
Am Theater der Nationen in Paris gastierte Westphal im Mai 1963 mit dem Theater Ensemble Oskar Werner mit einer Aufführung des Torquato Tasso. Zusammen mit Käthe Gold und Walter Richter trat er Anfang 1965 in Israel auf, wo zum ersten Mal überhaupt mit dem Totentanz von August Strindberg ein Theaterstück in deutscher Sprache aufgeführt wurde. Von 1959 bis 1980 gehörte er dem Ensemble am Zürcher Schauspielhaus an und wirkte in zahlreichen Uraufführungen mit, bevor er sich selbständig machte und sich auf das Vorlesen auf der Bühne und im Studio konzentrierte. Nebenbei war er auch als Regisseur an zahlreichen Theatern und Opernbühnen Deutschlands engagiert. 1960 erwarb Westphal neben der deutschen Staatsbürgerschaft auch das Schweizer Bürgerrecht und konnte somit auch in der damaligen DDR[4] Aufnahmen realisieren. Bis zum September 2002 trat er öffentlich auf und nahm weitere Lesungen auf Tonträger auf.
Die besondere Liebe des „Königs der Vorleser“, wie ihn Petra Kipphoff von der Zeit einmal nannte, galt der Rezitation und der literarischen Lesung vor Publikum, im Radio, für Sprechplatte oder Hörbuch. Johann Wolfgang Goethe, Theodor Fontane und Thomas Mann galten ihm als „Säulenheilige“. Von ihnen nahm er – bis auf wenige Ausnahmen – sämtliche Romane und Erzählungen – teilweise mehrfach – auf oder nutzte diese Werke als Vorlagen der von ihm produzierten Hörspiele.
In der Kombination Lesung/Hörspiel nahm Westphal wiederholt mehrere Funktionen gleichzeitig wahr, die das jeweilige Werk aus zwei Perspektiven erleben lassen: Neben den eigentlichen Lesungen mit nur einem Vorleser wirkte er in zahlreichen Hörspielen als Erzähler mit und/oder führte hier auch Regie. Mit großem Erfolg war er auch an Produktionen sogenannter Trivialliteratur beteiligt. So wirkte er z. B. in der Langzeitreihe Der Frauenarzt von Bischofsbrück des SDR von Alfred Marquart und Herbert Borlinghaus sowie bei den vom SDR verwirklichten Verfilmungen der von Hedwig Courths-Mahlers verfassten Romane (Die Bettelprinzess, Griseldis, Die Kriegsbraut, Der Scheingemahl und Eine ungeliebte Frau) als Erzähler mit. Dass dies sowohl Kritik als auch Publikum positiv aufnahmen, wurde immer wieder mit der Ernsthaftigkeit begründet, mit der Westphal seine Rollen ausfüllte. Auch sind die Protagonisten in ihrer Herkunft, Bildung und ihren Eigenschaften mit denen der „klassischen“ Literatur vergleichbar, da es sich hier weitestgehend ebenfalls um Ärzte, Rechtsanwälte, Militärangehörige, Lehrer oder um (verarmte) Adelige und ihre Bediensteten handelt. Die Stimme Westphals traf den hier angebrachten Tonfall. Seine Stimme wurde ab etwa Anfang der 1970er Jahre zunehmend dunkler. Besonders auffällig wird dies etwa bei den Josephromanen Thomas Manns, bei denen das Vorspiel Höllenfahrt ca. 30 Jahre nach den Teilen I–IV aufgenommen wurde. Als Synchronsprecher war Westphal hingegen nicht tätig.
Darüber hinaus schrieb er unter dem PseudonymGerhard Wehner einige Hörspiele. Bei Radio Bremen wurden seine Hörspiele Offene Rechnung und Gestern ist lange her aufgenommen. Sein Hörspiel Große Konjunktion im Zeichen der Fische wurde 1971 beim DRS und 1973 beim ORF (Radio Salzburg) aufgenommen.
1954 hatte er die Schauspielerin und Rezitatorin Gisela Zoch (1930–2023) beim Norddeutschen Rundfunk kennengelernt, mit der er im Dezember 1957 die Ehe schloss, aus der zwei Töchter (Jg. 1963 und 1966) hervorgingen. 2002 erlag Westphal einem Krebsleiden. Seine letzte Ruhestätte befindet sich auf dem Friedhof von Kilchberg am Zürichsee, nahe am Grab von Thomas Mann.
Werke
Hörspielregie (Auswahl)
1948: Helmut Käutner und Ernst Schnabel: In jenen Tagen - Auch Sprecher (Radio Bremen)
1951: Hans Rothe: Das große Netz. Ein Spiel aus dem Zeitalter der Königin Elisabeth von England (SWF)
2015: Eugen Onegin, ein Roman in Versen von Alexander Puschkin, gekürzt in Übersetzung von Ulrich Busch, 3:31 h, Hörverlag, München, ISBN 978-3-8445-2260-0.
Wegen seiner hervorragend interpretierten Rezitationen und Literaturlesungen für den Hörfunk wurde er auch als der „König der Vorleser“[12] und als „Der Caruso der Vorleser“[13] gewürdigt. Katia Mann bezeichnete ihn nach dem Besuch einer von ihm gehaltenen Lesung mit Werken Thomas Manns als „des Dichters obersten Mund“.[14] Aufgrund der zahlreichen Auftritte und auf Tonträgern veröffentlichten Aufnahmen wurde er auch als der „Fischer-Dieskau des Wortes“[15] bezeichnet. Marcel Reich-Ranicki hieß ihn den wahrscheinlich besten Rezitator in deutscher Sprache.[16]
Ausstellungen
2010: Der Dichter oberster Mund – Eine Erinnerung an Gert Westphal aus Anlass seines 90. Geburtstages. Ausstellung im Schloss Reinbek.
Oliver W. Grabow: Gert Westphal. Gesamtverzeichnis seiner Arbeiten von 1940 bis 2002. Arethousa Verlag, München 2013, ISBN 978-3-934207-22-6.[17][18]
Bernd M. Kraske (Hrsg.): Des Dichters oberster Mund – Gert Westphal zum 70. Geburtstag. Verlag Hans-Jürgen Böckel, Glinde, ISBN 3-923793-12-X
Bernd M. Kraske (Hrsg.): Gert Westphal in Reinbek – Erinnerungen aus Anlaß seines 100. Geburtstags. Crescer Verlag, 2020, ISBN 978-3-86672-123-4
C. Bernd Sucher (Hrsg.): Theaterlexikon. Autoren, Regisseure, Schauspieler, Dramaturgen, Bühnenbildner, Kritiker. Von Christine Dössel und Marietta Piekenbrock unter Mitwirkung von Jean-Claude Kuner und C. Bernd Sucher. 2. Auflage. Deutscher Taschenbuch-Verlag, München 1999, ISBN 3-423-03322-3, S. 763.
Hörfunk
Katrin Krämer: Vorlesen ist ein Liebesakt. Gert Westphal – Die Stimme der Literatur. Biografisches Feature, Radio Bremen 2000, 55 Min., Sendung vom 22. November 2015.[19]