Nach dem Zweiten Weltkrieg kehrten die exilierten Wissenschaftler nach Frankreich zurück. Dort wurde 1947 eine sechste Sektion – für Wirtschafts- und Sozialwissenschaften – der forschungsorientierten Graduiertenhochschule École pratique des hautes études (EPHE) in Paris eingerichtet. In der Folgezeit wurde sie durch ihr heute unter dem Begriff der Annales-Schule bekanntes Wirken zur einflussreichsten Strömung in der französischen Geschichtswissenschaft und entwickelte große internationale Wirkung. Viele bedeutende Lehrstühle (zum Beispiel an der Sorbonne oder dem Collège de France) wurden von Vertretern der VI. Sektion der EPHE bzw. der späteren EHESS besetzt. Auch in der Darstellung der Geschichte in der französischen Öffentlichkeit nahmen die Annales-Historiker eine dominierende Stellung ein.[4][5][6]
Autonomie und Status als Elite-Hochschule
Im Jahr 1975 emanzipierte sich die Abteilung schließlich unter der Ägide von Jacques Le Goff (Gründer) und entwickelte sich zum eigenständigen Hochschulinstitut, das sich ausschließlich dem Doktoratsstudium widmete. Im Jahr 1984 wurde das Institut schließlich zu einer grande école ernannt, wodurch es seitdem zu den prestigeträchtigsten Forschungs- und Hochschuleinrichtungen ganz Frankreichs zählt. Die Auswahl der Studenten ist selektiv und es werden nur Studenten mit abgeschlossenem Bachelor-of-Arts-Studiengang zugelassen. Bachelor-Studiengänge gibt es an der EHESS nicht. Unter anderem zusammen mit der ENS Ulm, der École des Mines und dem Collège de France bildet sie die Paris Science et Lettres, welche eine aus 13 Institutionen vereinigte Forschungsuniversität im Rahmen der französischen Exzellenzinitiative ist und in den gängigen internationalen Rankings als beste französische Universität gilt.
Annales-Zeitschrift
Die im Jahr 1929 von Marc Bloch und Lucien Febvre gegründete Annales-Zeitschrift, welche es sich zur Aufgabe machte, Arbeiten zu publizieren, in denen verschiedene humanwissenschaftliche Disziplinen für die Geschichtswissenschaft fruchtbar gemacht werden konnten, wird heute von der Hochschule vertrieben. Aus der methodologischen Herangehensweise an die Geschichtswissenschaft unter Einbeziehung anderer Disziplinen entwickelte sich die nach der Zeitschrift benannte Annales-Schule, die bis heute in den Annales publiziert. Die Zeitschrift zählt heute als die meistverbreitete Fachpublikation für Geschichtswissenschaften in französischer Sprache. Seit dem Jahr 2016 wird die englische Ausgabe der Zeitschrift in Zusammenarbeit mit der University of Cambridge editiert und vertrieben.[7][8]
Historiker des Imaginären
In den 1980er- und 1990er-Jahren machten sich die Historiker der EHESS zu neuen Ufern auf. In kritischer Auseinandersetzung mit ihren stark marxistisch bzw. „materialistisch“ geprägten Vorgängern begannen sie sich zunehmend für die Vorstellungswelt, die psychischen Aspekte der Geschichte, zu interessieren. Was zuerst als Mentalitätsgeschichte bezeichnet wurde, ist nach 1975, dem Erscheinungsjahr des Werks Gesellschaft als Imaginäre Institution von Cornelius Castoriadis, zur Geschichte des Imaginären geworden (Duby, Le Goff e.a.). Vor allem am Centre Louis Gernet, dem Zentrum für griechische Antikeforschung der EHESS, wurden bahnbrechende Forschungsarbeiten verfasst. Die Mitglieder und Schüler dieses interdisziplinären Forschungsnetzwerks wurden außerhalb Frankreichs als "Ecole de Paris" bezeichnet.[9]
Studentenzahlen und Professoren
Die Zahl der Studierenden ist mit rund 3400 recht klein im Vergleich zu anderen Pariser Hochschulen. So zählt die Universität Paris 1 Panthéon-Sorbonne 14-mal oder die Sciences Po viermal so viele Studenten wie die EHESS. Außergewöhnlich ist auch der Betreuungsschlüssel; so kommen an der EHESS auf nur etwas mehr als vier Studierende eine Lehrperson (knapp 3400 Studierende und 800 Lehrende). Etwas weniger als die Hälfte der Studenten sind Doktoranden, 36 % der Studierenden und 51 % der Doktoranden kommen aus dem Ausland.[10]
Der Standort der Hochschule befindet sich seit der Gründung im Quartier Notre-Dame-des-Champs im 6. Arrondissement von Paris. Da das ursprüngliche Hauptgebäude am Boulevard Raspailasbestbedingt grundsaniert wurde, mussten Dozenten und Verwaltungsangehörige den Traditionsbau im Dezember 2010 vorübergehend räumen, konnten inzwischen aber teilweise zurückkehren. Der Hauptsitz der Hochschule befindet sich nunmehr wieder am ursprünglichen Gebäude am Boulevard Raspail 54.[15]
Professoren und Dozenten
Zu ihren Professoren und Dozenten gehörten und gehören die führenden Intellektuellen des französischen Geisteslebens des 20. und 21. Jahrhunderts, unter anderem (alphabetisch):
↑Olivier Godechot: How Did the Neoclassical Paradigm Conquer a Multi-disciplinary Research Institution?. Economists at the EHESS from 1948 to 2005. In: Revue de la régulation. Capitalisme, institutions, pouvoirs. Nr.10, 17. November 2011, ISSN1957-7796, doi:10.4000/regulation.9429 (openedition.org [abgerufen am 28. März 2020]).
↑Historisches Seminar, Jürgen Miethke: Geschichte in Heidelberg: 100 Jahre Historisches Seminar 50 Jahre Institut für Fränkisch-Pfälzische Geschichte und Landeskunde. Springer-Verlag, 2013, ISBN 978-3-642-76669-5 (google.ch [abgerufen am 28. März 2020]).
↑Annales HSS. Abgerufen am 25. März 2020 (französisch).
↑Violaine Sebillotte Cuchet: Le Centre Louis Gernet. Remarques générales à propos de ”l’Ecole de
Paris”. In: D. Pritchard (Hrsg.): The Athenian Funeral oration: 40 years after Nicole Loraux. HAL Id: halshs-01845509. https://halshs.archives-ouvertes.fr/halshs-01845509, Strasbourg 20. Juli 2018.
↑L’EHESS, une grande école ouverte aux réfugiés. In: Le Monde.fr. 26. März 2016 (lemonde.fr [abgerufen am 28. März 2020]).