1927 ging Schrödinger nach Berlin, wo er die Nachfolge von Max Planck an der Friedrich-Wilhelms-Universität antrat. Zahlreiche Physiker von Weltrang versammelten sich in jenen Jahren in Berlin. Dort arbeitete er u. a. mit Victor Weisskopf zusammen. Nach der Machtergreifung der Nationalsozialisten 1933 entschloss sich Schrödinger, der schon zuvor in bemerkenswerter Deutlichkeit seine Ablehnung des Nationalsozialismus zum Ausdruck gebracht hatte, Deutschland zu verlassen und eine Stelle am Magdalen College in Oxford anzunehmen. Im selben Jahr wurde ihm der Nobelpreis für Physik verliehen.
1936 kehrte er nach Österreich zurück, um in Graz an der Karl-Franzens-Universität eine Berufung anzunehmen. Sein Verhalten während des Anschlusses 1938 ist widersprüchlich: Obwohl er bereits in Berlin als NS-Gegner hervorgetreten war, ging er zunächst davon aus, seine Grazer Professur behalten zu können, und veröffentlichte am 31. März 1938 in der „Grazer Tagespost“ einen Aufsatz mit dem Titel Die Hand jedem Willigen. Bekenntnis zum Führer – Ein hervorragender Wissenschaftler meldet sich zum Dienst für Volk und Heimat. Die Sommerferien 1938 verbrachte Schrödinger, der sich offenbar sicher fühlte, in den Dolomiten, wo er unter anderem mit Max Planck zusammentraf. In einer Notiz der neuen nationalsozialistischen Universitätsführung wurde Schrödinger als „fachlich hervorragend“, „im persönlichen Verhalten widersprüchlich“ und politisch „semitophil“ bezeichnet; seine Professur wurde während der Ferien 1938 ohne Wissen des zuständigen Dekans Karl Polheim vom Ministerium neu ausgeschrieben. Am 26. August wurde er schließlich wegen „politischer Unzuverlässigkeit“ entlassen und reiste am 14. September 1938 per Bahn nach Rom aus.[4]
1956 kehrte er nach Wien zurück. Hier lehrte er bis zu seinem Tod am Institut für Theoretische Physik der Universität Wien. Schrödinger nahm auch an den Hochschultagen in Alpbach teil. Da es ihm im Ort gefiel, verbrachte er hier seine letzten Jahre. Seine Tochter Ruth Braunizer lebte bis zu ihrem Tod 2018[6][7] noch in dem Tiroler Dorf. Erwin Schrödinger starb am 4. Jänner 1961 in Wien an Tuberkulose. Er wurde seinem Wunsch entsprechend in Alpbach in Tirol beerdigt. Als Inschrift zeigt das Grabkreuz die Gleichung, die seinen Namen trägt.
Privates
Am 6. April 1920 heiratete er Annemarie Bertel, genannt Annie. Die Ehe blieb kinderlos. Schrödinger und seine Frau Annie lebten in offener Beziehung – Schrödinger hatte offen außereheliche Beziehungen, zum Beispiel zur Frau seines Kollegen und Freundes Arthur March, und Annie hatte eine langjährige Beziehung zu Hermann Weyl, was die Freundschaft von Weyl und Schrödinger nicht störte.[8] Mit Hildegunde March hatte er eine Tochter (Ruth Braunizer, 1934–2018); beide lebten von 1939 bis 1945 bei Schrödinger in Dublin.[9]
Im Jahr 1948 erwarb er zusätzlich zur österreichischen auch die irische Staatsbürgerschaft.[10]
Schrödinger suchte die Beziehungen zu minderjährigen Mädchen, zu denen sich in seinen Tagebüchern „Ephemeriden“ (im Sinne „flüchtiger, tagesaktueller Notizen“[11]) Aufzeichnungen erhalten haben. Die Tagebücher sind Teil des Schrödinger-Bestands an der Universität Innsbruck und derzeit auf Wunsch der Familie nicht öffentlich zugänglich.[12] Sie wurde aber von Historikern und Literaturwissenschaftlern 2024 erstmals fast vollständig neu aufgearbeitet.[11]
Im Alter von 39 Jahren unterrichtete Schrödinger die 14-jährige Itha Junger in Mathematik und verliebte sich in sie. Über sie schreibt er, dass ihre Unschuld sein Genie ideal ergänzen würde:[13] „In gewisser Weise vergleichbar mit dem Ende des Spektrums, das in seinem tiefsten Violett eine Tendenz zu Lila und Rot zeigt, scheint es üblich zu sein, dass Männer mit starker, echter Intellektualität nur von Frauen ungemein angezogen werden, die – ganz am Anfang der intellektuellen Entwicklung stehend – mit den Quellen der Natur ebenso verbunden sind wie sie selbst.“[14] Nach Jungers Angaben begann er mit ihr eine sexuelle Beziehung, als sie 19 Jahre alt war.[11][15] Nach anderen, widersprüchlichen Angaben wurde sie mit 17 Jahren[16] oder mit 20 Jahren[12] von Schrödinger schwanger.
Als Reaktion auf Missbrauchsvorwürfe kündigte die Physikabteilung des Trinity College Dublin im Februar 2022 an, den Hörsaal, der seit den 1990er Jahren nach Schrödinger benannt war, wieder in „Physics Lecture Theater“ umzubenennen[17] sowie sein Porträt aus dem Fitzgerald-Gebäude zu entfernen und die gleichnamige Vorlesungsreihe umzubenennen.[18]
Werk
1926 formulierte Schrödinger die nach ihm benannte Schrödingergleichung. Der Zugang zur Quantenmechanik, den Schrödinger mit Hilfe dieser partiellen Differentialgleichung fand, kam etwas später als HeisenbergsMatrizenmechanik, hat aber den Vorteil, dass er die aus der klassischen Mechanik bekannte Mathematik benutzt. Diese Arbeiten brachten ihm Weltruhm und schließlich auch den Nobelpreis für Physik im Jahr 1933 ein. In dieser berühmten Artikelserie (Annalen der Physik Bd. 79, S. 361, 489, 734, und Bd. 81, S. 109, 1926) bewies er auch gleich die Äquivalenz seiner Formulierung mit der Matrizenmechanik von Heisenberg und Born.
Die Auseinandersetzung mit den Arbeiten von Ernst Mach führten ihn zur Beschäftigung mit der Theorie der Farbwahrnehmung. Auf diesem Gebiet wurde er bald zum anerkannten Experten. Er untersuchte auch Farbräume mit speziellen Metriken und gab so wichtige theoretische Anregungen beispielsweise bei der Erarbeitung des späteren XYZ-Farbraumes der CIE.[19] Die additive Farbmischung folgt den Regeln der Vektoraddition; deshalb führte Schrödinger die vektorielle Darstellung in die Farbmessung ein.[20]
Schrödinger nahm auch zu philosophischen Aspekten der Quantenmechanik Stellung.[21][22] In seinem 1944 erschienenen Werk Was ist Leben? (im Original What is Life?) führt er den Begriff der Negentropie ein. Sie hatte damals großen Einfluss auf Wissenschaftler wie Maurice Wilkins, Francis Crick und James D. Watson in der sich entwickelnden Molekularbiologie,[23] indem sie versucht, biologische Themen physikalisch zu erklären, und das Interesse auf den damals unbekannten Mechanismus der Vererbung lenkte, für den er den Begriff des „aperiodischen Kristalls“ prägte, den er sich zum Zeitpunkt der Veröffentlichung noch als Protein vorstellte. Er war damals in Dublin relativ isoliert und kannte die frühe Forschung zum Beispiel von Oswald Avery zur Rolle der DNA und Max Delbrück zu Bakteriophagen in den USA nicht, sein auch stilistisch herausragendes Buch[24] stellte aber in der Rückschau von Freeman Dyson zur richtigen Zeit die richtigen Fragen. Auch in der System- und Komplexitätsforschung findet die Monografie gegenwärtige Rezeption, beispielsweise bei der Betrachtung komplexer sozialer Systeme wie der Stadtentwicklung.[25]
Sein wohl bekanntestes Gedankenexperiment ist Schrödingers Katze,[26] womit er die kontraintuitiven Aussagen der Quantenmechanik auf Gegenstände des täglichen Lebens übertrug und so seine Ablehnung der üblichen statistischen Interpretation der Quantenmechanik zum Ausdruck bringen wollte.
Außerdem veröffentlichte er 50 weitere Publikationen zu verschiedenen Themen. In den letzten Lebensjahren beschäftigte er sich intensiv mit Verallgemeinerungen der Allgemeinen Relativitätstheorie („einheitliche Feldtheorien“), worüber er auch mit Albert Einstein korrespondierte – das Verhältnis kühlte aber ab, als Schrödinger seinen Enthusiasmus für seine Theorie auch in überzogenen Pressemitteilungen verlauten ließ.
Von 1983 bis 1997 befand sich Schrödingers Konterfei auf den österreichischen 1000-Schilling-Banknoten der Serie 1983, den Noten mit dem damals höchsten Nennwert in Österreich.
Im Jahr seines 100. Geburtstages 1987 wurde eine Sonderbriefmarke der österreichischen Post herausgegeben.
Schriften und Tonaufnahmen
Gesammelte Abhandlungen (Collected papers). Verlag der Oesterreichischen Akademie der Wissenschaften Wien, Vieweg, Braunschweig & Wiesbaden 1984, vier Bände
Bd. 1: Beiträge zur statistischen Mechanik
Bd. 2: Beiträge zur Feldtheorie
Bd. 3: Beiträge zur Quantentheorie
Bd. 4: Allgemein wissenschaftliche und populäre Aufsätze
Die Wellenmechanik – Stuttgart : Battenberg, cop. 1963. (Dokumente der Naturwissenschaft. Abteilung Physik ; Bd. 3) (Schrödingers Arbeiten zur Wellenmechanik) – Die Arbeiten zur Wellenmechanik sind auch nachgedruckt in Ludwig (Hrsg.) Wellenmechanik, WTB.
Vier Vorlesungen über Wellenmechanik, Springer Verlag 1928 (gehalten an der Royal Institution, London)
Struktur der Raum-Zeit, Wissenschaftliche Buchgesellschaft (englisch „Space-time structure“ 1963, Einführung in Allgemeine Relativitätstheorie)
Statistische Thermodynamik, vieweg 1978
Briefe zur Wellenmechanik. Schrödinger mit Planck · Einstein · Lorentz. Hrsg. im Auftrag der Oesterreichischen Akademie der Wissenschaften von K. Przibram
Eine Entdeckung von ganz außerordentlicher Tragweite – Schrödingers Briefwechsel zur Wellenmechanik und Katzenparadoxon. Hrsg. von K. von Meyenn. Springer-Verlag, Berlin-Heidelberg, 2011, ISBN 978-3-642-04334-5
Mein Leben, meine Weltansicht. Verlag Zsolnay, Wien 1985, ISBN 3-552-03712-8 und Deutscher Taschenbuch Verlag, München, 3. Auflage, 2008, ISBN 978-3-423-34273-5
Die Natur und die Griechen. Verlag Zsolnay, Wien 1987, ISBN 3-552-00742-3 (Sherman Lectures am University College, London, 24., 26., 28. und 30. Mai 1948)
Was ist Leben? – Die lebende Zelle mit den Augen des Physikers betrachtet. Leo Lehnen Verlag (Sammlung Dalp 1), München, 1951, 2. Aufl.
1. Auflage, engl., 1944: What Is Life? and Other Scientific Essays. Based on lectures delivered under the auspices of the Dublin Institute for Advanced Studies at Trinity College, Dublin, in February 1943. 194 S. Spätere Ausgaben: Doubleday (1956)
What is matter? Scientific American, 189, (1953), 52–57
Hans Thirring: Der Weg der theoretischen Physik von Newton bis Schrödinger. Springer, Wien 1962, Eine Würdigung des Werkes von Erwin Schrödinger (35 Seiten).
C. W. Kilmister (Hrsg.): Schrödinger – Centenary celebration of a polymath, Cambridge University Press 1987
Gerhard Oberkofler / Peter Goller: Erwin Schrödinger. Briefe und Dokumente aus Zürich, Wien und Innsbruck. Eingeleitet und kommentiert. Hg. von der Zentralbibliothek für Physik in Wien. Illustr. Innsbruck 1992.
Michael P. Murphy und Luk A.J. O’Neil (beide Hrsg.): What is Life? The Next Fifty Years. Speculations on the future of biology. Cambridge University Press, 1995, ISBN 0-521-45509-X (hardback) und ISBN 0-521-59939-3 (paperback) – Aufsatzsammlung.
Walter J. Moore: Erwin Schrödinger. Life and Thought, Cambridge University Press 1989, 2015
Walter J. Moore: Erwin Schrödinger: Eine Biographie. Primus Verlag, 2012, ISBN 978-3-86312-301-7. (Englisches Original: A life of Schrödinger, Cambridge University Press 1994, die Kurzfassung seiner Biographie)
Norbert Straumann: Schrödingers discovery of wave mechanics, in Schrödingers Wave Mechanics 75 years after, Universität Zürich 2001, arxiv:quant-ph/0110097
Nobel-Vortrag (1933): Der Grundgedanke der Wellenmechanikdoi:10.1002/phbl.19660220102 – Abgedruckt in: Erwin Schrödinger: Was ist ein Naturgesetz? Beiträge zum naturwissenschaftlichen Weltbild (Scientia nova). 5. Auflage. Oldenbourg, München 1997, ISBN 3-486-56293-2, S. 86–101.
↑Walter Höflechner: Geschichte der Karl-Franzens-Universität Graz. Von den Anfängen bis in das Jahr 2005. Leykam, Graz 2006, ISBN 3-7011-0058-6, S. 187.
↑Walter Moore: A life of Erwin Schrödinger. Cambridge University Press, 1994.
↑Johann Überbacher: Der Atomjäger. In: Echo. 2012, archiviert vom Original am 15. August 2014; abgerufen am 1. Januar 1970 (zu Arthur March).
↑Schrödinger, Erwin. In: Dictionary of Irish Biography. Abgerufen am 6. Januar 2022.
↑ abcErwin Schrödinger und die Frauen: Wie ein sexistischer Biograf einen Skandal auslöste. In: Der Tagesspiegel Online. ISSN1865-2263 (tagesspiegel.de [abgerufen am 3. Juli 2024]).
↑Ralf Sotscheck: Missbrauch und Missachtung: Nicht zu relativieren. In: Die Tageszeitung: taz. 4. Januar 2022, ISSN0931-9085 (taz.de [abgerufen am 12. März 2022]).
↑John Gribbin: Erwin Schrodinger and the Quantum Revolution. Transworld, 2012, ISBN 978-1-4464-6571-4, S.131–132 (google.de [abgerufen am 12. März 2022]).
↑Dick Teresi: The Lone Ranger of Quantum Mechanics. In: The New York Times. 7. Januar 1990, ISSN0362-4331 (nytimes.com [abgerufen am 12. März 2022]).
↑Julieanne Corr: Trinity to drop Schrödinger lecture theatre name over sex abuse. ISSN0140-0460 (thetimes.co.uk [abgerufen am 12. März 2022]).
↑W. Heisenberg: Erwin Schrödinger. Jahrbuch der Bayerischen Akademie der Wissenschaften 1961, 27–35.
↑Erwin Schrödinger: Grundlinien einer Theorie der Farbmetrik im Tagessehen. In: Annalen der Physik, Heft IV, Jahrgang 63, 1920, S. 397 ff., S. 427 ff.,S. 481 ff.
↑„Er verkörpert den Typus eines Gelehrten, der die engen Grenzen des Fachspezialistentums überschreitet und der in unserem Jahrhundert rar geworden ist. Erwin Schrödinger verstand sich als ein eminent philosophischer Physiker.“ Dieter Hoffmann: Erwin Schrödinger (= Biographien hervorragender Naturwissenschaftler, Techniker und Mediziner, 66). Teubner, Leipzig 1984, Vorwort, S. 5 (PDF; 298 kB).
↑„Doch Schrödinger war mehr als nur Physiker; zutiefst in seinem Inneren war er ein Philosoph, der sich sein Leben lang unter anderem und vor allem mit dem Wesen der Vererbung beschäftigte, die er als eine gegen die individuelle Vererbung gefeite Übertragung von Vergangenem in die Zukunft, als gegen die Stürme der Zeit immunes genealogisches Gedächtnis betrachtete.“ Evelyn Fox Keller: Das Leben neu denken: Metaphern der Biologie im 20. Jahrhundert. Aus dem Engl. von Inge Leipold. Kunstmann, München 1998, S. 67.
↑Freeman Dyson: Origins of Life. Cambridge University Press, 2004, S. 1f.
↑Juval Portugali: Schrödinger’s What is Life?—Complexity, Cognition and the City. In: Entropy. Band25, Nr.6, 30. Mai 2023, ISSN1099-4300, S.872, doi:10.3390/e25060872 (mdpi.com [abgerufen am 5. Juni 2023]).
↑Erstmals dargestellt in: Die gegenwärtige Situation in der Quantenmechanik. In: Naturwissenschaften (Organ der Gesellschaft Deutscher Naturforscher und Ärzte). Band23. Springer, Berlin 1935, S.807–812, doi:10.1007/BF01491891.
↑Verzeichnis der Mitglieder: Erwin Schrödinger in: Orden pour le Mérite für Wissenschaften und Künste, 1842–2002. Bleicher Verlag, Gerlingen 2002, ISBN 3-88350-175-1.