Carolyn Bertozzi ist die Tochter des Physikers und MIT-Professors William Bertozzi[3] und dessen Frau Norma.[2] Ihre Großmutter floh in den 1920er Jahren aus dem damals faschistischen Italien in die Vereinigten Staaten.[4] Carolyn Bertozzi wuchs in Lexington (Massachusetts) auf. Ihr Studium begann sie als Undergraduate in Harvard zunächst mit einem Biologiestudium. Danach wechselte sie zur Organischen Chemie. Im Rahmen ihrer senior thesis – vergleichbar einer Diplom-Arbeit – entwickelte Bertozzi ein photoakustischesKalorimeter.[5] Während ihres Harvard-Studiums spielte sie Keyboard in der Band Bored of Education, in der auch der Gitarrist Tom Morello (später war er Gitarrist bei Rage Against the Machine) spielte.[6] Für ihre Doktorarbeit wechselte sie an die University of California, Berkeley, wo sie 1993 bei Mark Bednarski über das Thema Synthesis and biological activity of carbon-linked glycosidespromoviert wurde. Als Post-Doktorandin arbeitete Bertozzi an der University of California, San Francisco auf dem Gebiet der durch Oligosaccharide vermittelten Zelladhäsion. 1996 ging sie wieder zurück nach Berkeley,[2] wo sie bis 1999 Assistenz-Professorin für Chemie war. Von 1999 bis 2002 war Bertozzi außerordentliche und ab 2002 ordentliche Professorin für Chemie und Molekular- und Zell-Biologie in Berkeley für Chemie und Professorin für Molekular- und Zellbiologie der University of California, Berkeley (T.Z. and Irmgard Chu Distinguished Professor). Seit 2000 ist sie außerdem Professorin für Molekular- und Zellpharmakologie an der University of California, San Francisco (UCSF) und Wissenschaftlerin am Howard Hughes Medical Institute[7] (Howard Hughes Medical Institute Investigator).[8] 2015 wurde sie Professorin an der Stanford University.
Als bis zu diesem Zeitpunkt jüngste Wissenschaftlerin erhielt Bertozzi 1999 ein MacArthur Fellowship, den „Genie-Preis“ der Vereinigten Staaten. 2010 bekam sie als erste Frau den mit 500.000 US-Dollar (nicht zweckgebunden) dotierten Lemelson-MIT-Preis.[9]
Carolyn Bertozzi hat zwei Schwestern. Eine davon ist die Mathematikerin Andrea Bertozzi (* 1965).[10]
Werk
Das Arbeitsgebiet von Bertozzi umfasst vor allem die Glykane. Sie entwickelte die erste von ihr sogenannte bioorthogonale Markierung, das heißt eine Kombination von einer metabolischen Markierung mit einer nachfolgenden chemischen Reaktion, die in einer lebenden Zelle abläuft, ohne die normale biochemische Funktion der jeweiligen Zielsubstanz zu stören. Mit Hilfe dieser Technik ist es möglich bestimmte Zielstrukturen in lebenden Zellen und höhere Organismen, beispielsweise Mäusen oder Zebrafischen, sichtbar zu machen.[11] Dazu verwendete sie zunächst eine Variante der Staudinger-Reaktion, die Staudinger-Ligation.[12][13] Mit der Staudinger-Ligation können in vitro mit Zellkulturen gute Markierungsergebnisse erhalten werden, für Anwendungen in vivo (am lebenden Organismus) ist die Reaktion allerdings zu langsam. Bertozzi entwickelte deshalb die kupferfreieClick-Chemie, die auf der von Rolf Huisgen entdeckten 1,3-Dipolaren Cycloaddition basiert. Bertozzi beschleunigte die Azid-Alkin-Reaktion durch die Verwendung von „vorgespannten“, mit Fluorgruppen versehenen Cyclooctinen (das heißt zyklischen Alkinen mit acht C-Atomen, die kleinsten isolierbaren Cycloalkine), um mehrere Größenordnungen, so dass sie bei Raumtemperatur innerhalb weniger Minuten ohne Katalysator nahezu quantitativ und bioorthogonal abläuft. Der sonst für die Click-Chemie verwendete Kupfer-I-Katalysator ist für Zellen und Organismen toxisch.[14] Den Begriff bioorthogonal prägte Bertozzi erstmals 2003.[15]
2008 gründete Carolyn Bertozzi zusammen mit David Rabuka, einem ihrer früheren Studenten, das Unternehmen Redwood Bioscience.[16] Seit 2015 zählte Thomson Reuters Bertozzi zu den Favoriten auf einen Nobelpreis für Chemie.[17]
Seit den 1980er Jahren lebt Carolyn Bertozzi offen lesbisch, was damals ein potentielles Hindernis für eine wissenschaftliche Karriere war.[26] Sie tritt öffentlich für Diversität in der Wissenschaft ein und engagiert sich als Aktivistin vor allem für Menschen, die lesbisch, schwul, bisexuell oder transgender (LGBT) sind.[27][28] Die Wissenschaftlerin zählt damit zu den ganz wenigen Menschen, die einen Nobelpreis erhalten haben und öffentlich kundtun, dass sie Teil der LGBT-Community sind.[29] 2022 erhielt Bertozzi den Wolf-Preis in Chemie, der in den Naturwissenschaften nach dem Nobelpreis zu den angesehensten Preisen weltweit zählt. In der Begründung hieß es, Bertozzi vertrete die Interessen der Menschheit als Ganzes, ohne Unterschiede in Bezug auf Nationalität, sexuelle Orientierung oder politische Ansichten. Auf ihrem beruflichen Weg habe sie das Ziel verfolgt, die Zugangshürden für Frauen zu senken und Vielfalt in der Wissenschaft sichtbar zu machen.[30][31] So saß sie etwa 2002 bei einer Veranstaltung an der University of California auf dem Podium, deren Thema die beruflichen und persönlichen Herausforderungen, Strategien und Erfolge von Wissenschaftlern auf dem Weg zu mehr Diversität waren.[32]
Veröffentlichungen (Auswahl)
P. G. Wang, C. R. Bertozzi (Hrsg.): Glycochemistry: principles, synthesis, and applications. Verlag Marcel Dekker, 2001, ISBN 0-8247-0538-6
J. M. Baskin, C. R. Bertozzi: Copper-free Click Chemistry. In: J. Lahann (Hrsg.): Click Chemistry for Biotechnology and Materials Science. Verlag John Wiley & Sons, 2009, ISBN 0-470-69970-1eingeschränkte Vorschau in der Google-Buchsuche
E. M. Sletten, C. R. Bertozzi: From mechanism to mouse: a tale of two bioorthogonal reactions. In: Accounts of chemical research. Band 44, Nummer 9, September 2011, S. 666–676, ISSN1520-4898. doi:10.1021/ar200148z. PMID 21838330. PMC 3184615 (freier Volltext).
E. M. Sletten, C. R. Bertozzi: A bioorthogonal quadricyclane ligation. In: Journal of the American Chemical Society. Band 133, Nummer 44, November 2011, S. 17570–17573, ISSN1520-5126. doi:10.1021/ja2072934. PMID 21962173. PMC 3206493 (freier Volltext).
K. Godula, M. L. Umbel, D. Rabuka, Z. Botyanszki, C. R. Bertozzi, R. Parthasarathy: Control of the molecular orientation of membrane-anchored biomimetic glycopolymers. In: Journal of the American Chemical Society. Band 131, Nummer 29, Juli 2009, S. 10263–10268, ISSN1520-5126. doi:10.1021/ja903114g. PMID 19580278. PMC 2716393 (freier Volltext).
C. W. Harland, D. Rabuka, C. R. Bertozzi, R. Parthasarathy: The Mycobacterium tuberculosis virulence factor trehalose dimycolate imparts desiccation resistance to model mycobacterial membranes. In: Biophysical Journal. Band 94, Nummer 12, Juni 2008, S. 4718–4724, ISSN1542-0086. doi:10.1529/biophysj.107.125542. PMID 18326657. PMC 2397374 (freier Volltext).
L. K. Mahal, N. W. Charter, K. Angata, M. Fukuda, D. E. Koshland, C. R. Bertozzi: A small-molecule modulator of poly-alpha 2,8-sialic acid expression on cultured neurons and tumor cells. In: Science. Band 294, Nummer 5541, Oktober 2001, S. 380–381, ISSN0036-8075. doi:10.1126/science.1062192. PMID 11598302.
C. R. Bertozzi, L. L. Kiessling: Chemical glycobiology. In: Science. Band 291, Nummer 5512, März 2001, S. 2357–2364, ISSN0036-8075. PMID 11269316. (Review).
L. K. Mahal, K. J. Yarema, C. R. Bertozzi: Engineering chemical reactivity on cell surfaces through oligosaccharide biosynthesis. In: Science. Band 276, Nummer 5315, Mai 1997, S. 1125–1128, ISSN0036-8075. PMID 9173543.
↑J. J. Grabowski, C. R. Bertozzi, J. R. Jacobsen, A. Jain, E. M. Marzluff, A. Y. Suh: Fluorescence probes in biochemistry: an examination of the non-fluorescent behavior of dansylamide by photoacoustic calorimetry. In: Analytical biochemistry. Band 207, Nummer 2, Dezember 1992, S. 214–226, ISSN0003-2697. PMID 1481973.
↑E. M. Sletten, C. R. Bertozzi: Bioorthogonale Chemie – oder: in einem Meer aus Funktionalität nach Selektivität fischen. In: Angewandte Chemie. Band 121, Nummer 38, 2009, S. 7108–7133. doi:10.1002/ange.200900942.
↑M. Köhn, R. Breinbauer: Die Staudinger-Ligation – ein Geschenk für die Chemische Biologie. In: Angewandte Chemie. Band 116, Nummer 24, 2004, S. 3168–3178. doi:10.1002/ange.200401744
↑Ellen M. Sletten, Carolyn R. Bertozzi: From Mechanism to Mouse: A Tale of Two Bioorthogonal Reactions. In: Accounts of Chemical Research. Band44, Nr.9, 20. September 2011, S.666–676, doi:10.1021/ar200148z.
↑Erster Nobelpreis für eine Frau in diesem Jahr: „Das ist einfach wundervoll.“ In: Der Tagesspiegel Online. ISSN1865-2263 (tagesspiegel.de [abgerufen am 7. Oktober 2022]).