Die Unfallchirurgie befasst sich mit der Folge eines physischen Traumas und wird häufig auch als Traumatologie (oder Verletzungschirurgie) bezeichnet. Im engeren bzw. eigentlichen Sinne ist Unfallchirurgie jedoch ein Teil der über die chirurgischen Aspekte hinausgehenden Traumatologie (auch Unfallheilkunde oder Unfallmedizin genannt). Die Unfallchirurgie und die Wiederherstellungschirurgie bilden die Grundlagen der Unfallheilkunde bzw. Unfallmedizin.[1]
Ein Wendepunkt der neuzeitlichen Chirurgiegeschichte war der Krimkrieg in der Mitte des 19. Jahrhunderts. Alle europäischen Staaten erkannten fundamentale Defizite in der Versorgung von Verwundungen. Systematisch und mit beispielloser Konsequenz verbesserte Preußen seinen Sanitätsdienst.[2] Davon „profitierten“ vor allem die Hygiene und die Chirurgie. Die Kaiser-Wilhelms-Akademie für das militärärztliche Bildungswesen, die Charité und die Chirurgischen Lehrstühle Berlin begründeten die Spitzenstellung der deutschen Chirurgie. Das erste Unfallkrankenhaus entstand 1925 auf Betreiben von Lorenz Böhler in Wien, der bereits im Ersten Weltkrieg mit einem Speziallazarett für Knochenverletzte die Weiterentwicklung der Verletzungschirurgie begründet hat[3] und insbesondere mit ab 1924 publizierten richtungsweisenden Arbeiten[4] als „Vater der Unfallchirurgie“ gilt. Die schrecklichen Gesichtsverletzungen ließen die Kieferchirurgie entstehen. Ihre Pioniere waren der Chirurg Christian Bruhn in Düsseldorf und der Zahnarzt Georg Axhausen an der Charité. Von einer „Unfallchirurgie“ sprach niemand – nicht einmal im Zweiten Weltkrieg, als sich die führenden Sanitätsoffiziere und Beratenden Chirurgen 1942 in Krasnodar auf die Einführung des Marknagels von Gerhard Küntscher verständigten. Zwar wurde die Deutsche Gesellschaft für Unfallheilkunde, Versicherungs- und Versorgungsmedizin schon 1922 unter Erwin Payr in Leipzig gegründet; aber die Unfallchirurgie ist ein ziviles Kind der prosperierenden 1950er Jahre. Angesichts der vielen Arbeits- und Wegeunfälle drängte die Gesetzliche Unfallversicherung in Deutschland auf eine optimale (nicht „zweckmäßige“) Versorgung ihrer Versicherten. Die Unfallkrankenhäuser wurden ausgebaut, die ersten Lehrstühle für Unfallchirurgie eingerichtet. Einen bedeutenden Entwicklungsschub erhielt die Unfallchirurgie 1958 durch den Zusammenschluss Schweizer Chirurgen zur Arbeitsgemeinschaft für Osteosynthesefragen (AO), womit der Weg zu einer Standardisierung von Methoden und Instrumentarium der operativen Knochenbruchbehandlung gebahnt war.[5] Zum chirurgischen Teilgebiet wurde das Fach erst 1968. München bekam in den 1980er Jahren zu den zwei chirurgischen Lehrstühlen (Großhadern und TU) einen dritten, unfallchirurgischen Lehrstuhl in der Nußbaumstraße.[6] Die in Deutschland erste Abteilung für Orthopädische, Unfall- und Handchirurgie entstand 1995 in Mecklenburg.[7] Wie die Kinderchirurgie musste die Unfallchirurgie erkennen, dass die Emanzipation von der Chirurgie nicht nur Vorteile bringt. Die allseits für notwendig und wünschenswert gehaltene Zusammenlegung mit der Orthopädie, die nach dem Ersten Weltkrieg die (nichtoperative) Krüppelfürsorge war, hat daran nichts geändert und die Ausbildung des Nachwuchses noch schwerer gemacht.[8] Auf Anregung von Dietmar Wolter – selbst ein beachtlicher Maler – hat Johannes Grützke dem Fach ein unvergleichliches „Denkmal“ voller Hintersinn und Humor gemalt.[9] Das Wandbild schmückt die ganze Stirnwand des Hörsaals vom BG Klinikum Hamburg.
Als Grundlage für die Zulassung zur stationären Behandlung von Berufsunfällen sind Verletzungen seit Jahrzehnten definiert.[17] Zur Behandlung von Schwerverletzten nach § 6 der Bestimmungen des Reichsversicherungsamtes vom 19. Juni 1936 (sog. Verletzungsartenverfahren) waren immer nur wenige Krankenhäuser zugelassen. Eine Zulassungsbedingung war die Versorgung einer Mindestzahl von schwerverletzten Patienten (Polytrauma). Bei der letzten Aktualisierung des Verletzungsartenverzeichnisses im Januar 2013 wurden drei Behandlungsebenen eingeführt:[18]
Dem komplexen Feld der Querschnittlähmungen verschrieben sich Neurologen und Chirurgen. Im englischen Exil errichtete der deutsche, aus Breslau stammende jüdische Neurologe und Neurochirurg Ludwig Guttmann die erste Rehabilitationsklinik für Querschnittgelähmte. Er begründete die Stoke Mandeville Games als Vorläufer der Paralympischen Spiele. In den 1960er Jahren beriet er die Berufsgenossenschaftliche Unfallklinik Murnau beim Aufbau von Deutschlands erstem Zentrum für Querschnittverletzte. Seinem Vorbild folgten Friedrich-Wilhelm Meinecke und Gerhard Exner in Hamburg, Hans Jürgen Gerner in Bad Wildungen und Heidelberg und Jürgen Harms in Langensteinbach. Bei Robert Judet in Paris inaugurierte Raymond Roy-Camille 1963 die transpedikuläre Schraube, die neue Wege in der Behandlung von Verletzungen (und Verformungen) der Wirbelsäule eröffnete.
Zeitschriften
Es gibt zahlreiche Fachzeitschriften für Knochen- und Gelenkchirurgie.
Hermann Ecke, Uwe Stöhr, Klaus Krämer: Unfallchirurgie. In: Franz Xaver Sailer, Friedrich Wilhelm Gierhake (Hrsg.): Chirurgie historisch gesehen. Anfang – Entwicklung – Differenzierung. Mit einem Geleitwort von Rudolf Nissen. Dustri-Verlag Dr. Karl Feistle, Deisenhofen bei München 1973, ISBN 3-87185-021-7, S. 204–216.
Siegfried Weller: Die Unfallmedizin, ihre gesellschaftliche und volkswirtschaftliche Bedeutung, in: Hauptverband der Gewerblichen Berufsgenossenschaften (Hrsg.): 100 Jahre gesetzliche Unfallversicherung (1985), S. 172–181.
Axel Ekkernkamp, Jürgen Probst: Von der Unfallheilkunde zur Unfallchirurgie. In: Zeitschrift für ärztliche Fortbildung und Qualität im Gesundheitswesen. Band 98, 2004, S. 31–36.
Hartmut Siebert: Zukunft der Unfallchirurgie – Herausforderung, Risiken und Chancen hinsichtlich des Facharztes Unfallchirurgie/Orthopädie. Trauma und Berufskrankheit, Sonderheft 2/2004.
Martin L. Hansis: Unfallchirurgie, in: Werner E. Gerabek, Bernhard D. Haage, Gundolf Keil, Wolfgang Wegner (Hrsg.): Enzyklopädie Medizingeschichte. De Gruyter, Berlin / New York 2005, ISBN 3-11-015714-4, S. 1430 f.
Christoph Weißer: Traumatologie, in: Werner E. Gerabek, Bernhard D. Haage, Gundolf Keil, Wolfgang Wegner (Hrsg.): Enzyklopädie Medizingeschichte. De Gruyter, Berlin New York 2005, ISBN 3-11-015714-4, S. 1409–1411.
Eberhard Markgraf (Hrsg.): Beiträge zur Geschichte der Unfallchirurgie in der DDR. Thieme, Stuttgart 2008.
Jürgen Probst, Hartmut Siebert, Hans Zwipp: 60 Jahre Deutsche Gesellschaft für Unfallchirurgie nach Wiedergründung. Meilensteine auf dem Weg von der Unfallheilkunde zur Orthopädie und Unfallchirurgie. Berlin 2010. Zusammenfassung, mit Link auf den Gesamttext
Bernhard Weigel, Michael L. Nerlich: Praxisbuch Unfallchirurgie. Springer, Berlin Heidelberg 2011, ISBN 978-3-642-10788-7.
Joachim Rüdiger Döhler: Lexikon Orthopädische Chirurgie. Standardterminologie für Orthopäden und Unfallchirurgen. Springer, Berlin Heidelberg 2003, Neudruck 2013, ISBN 978-3-642-62529-9.
Ingo Marzi, Tim Pohlemann, Diana Aicher: Spezielle Unfallchirurgie. Urban & Fischer/Elsevier, München 2016. ISBN 978-3-437-23226-8.
E. Scharizer: Die Entwicklung der modernen Unfallchirurgie. In: Hefte zur Unfallheilkunde. Band 79, 1964.
Historische Literatur
Lorenz Böhler: Die Technik der Knochenbruchbehandlung. 3 Bände. Reprint der 12.–13. Auflage 1953/1963; Nachdruck Maudrich 1996, ISBN 3-85175-666-5.
C. Kaufmann: Handbuch der Unfallmedizin. Mit Berücksichtigung der deutschen, österreichischen, schweizerischen und französischen Arbeiter- und der privaten Unfallversicherungen. Für den akademischen und privaten Gebrauch. 3., neu bearbeitete Auflage. I. Hälfte: Allgemeiner Teil – Unfallverletzungen. Ferdinand Enke, Stuttgart 1907.
↑G. Böttger, Rudolf Schautz u. a.: Traumatologie in der chirurgischen Praxis. [Gewidmet Werner Wachsmuth]. Springer, Berlin/Heidelberg/New York 1965, ISBN 978-3-642-88524-2, S. 2–11.
↑Rüdiger Döhler, Peter Kolmsee: Preußens Sanitätsdienst in den Einigungskriegen. Wehrmedizinische Monatsschrift 8/2016, S. 254–258.
↑Ernst Kern: Sehen – Denken – Handeln eines Chirurgen im 20. Jahrhundert. ecomed, Landsberg am Lech 2000, ISBN 3-609-20149-5, S. 32.
↑Paul Diepgen, Heinz Goerke: Aschoff/Diepgen/Goerke: Kurze Übersichtstabelle zur Geschichte der Medizin. 7., neubearbeitete Auflage. Springer, Berlin/Göttingen/Heidelberg 1960, S. 66.
↑Ernst Kern: Sehen – Denken – Handeln eines Chirurgen im 20. Jahrhundert. 2000, S. 32.
↑Berufsverband der Deutschen Chirurgen: Deutsche Chirurgie 2001. ecomed-Storck GmbH, 2001, ISBN 978-3-609-20166-5 (google.de [abgerufen am 17. März 2024]).
↑Sandra Bergler: Der ärztliche Nachwuchs in der Orthopädie und Unfallchirurgie Analyse der Entwicklung von Angeboten und Anforderungen in Stellenanzeigen der Jahre 2003 bis 2010. Diss. Univ. Greifswald 2015.
↑Johannes Grützke: Das Wandbild für das Berufsgenossenschaftliche Unfallkrankenhaus Hamburg „Aus der Geschichte der Unfallchirurgie“. Merlin-Verlag, Gifkendorf 2002.
↑Ernst Kern: Sehen – Denken – Handeln eines Chirurgen im 20. Jahrhundert. 2000, S. 247.