Wegen intensiver Kritik an der mangelhaften Erfassung rechtsextremer Gewalttaten führte das BKA 2001 ein „Definitionssystem Politisch motivierte Kriminalität“ (PMK-System) ein. Dieses weist nach wie vor erhebliche Methodenprobleme, Schwachstellen und Lücken auf. Darum ist die Gesamtzahl der Todesopfer rechter Gewalt, die auch Täter ohne manifest rechtsextremes Weltbild umfasst,[1] zwischen staatlichen und nichtstaatlichen Stellen weiterhin stark umstritten.
Bis Dezember 2020 erkannte die Bundesregierung 113 seit 1990 in Deutschland getötete Personen als Opfer von rechtsextrem motivierten Tötungsdelikten an.[2] Verschiedene unabhängige Recherchen fanden jedoch ab 1990 kontinuierlich weit mehr solche Todesopfer. Die Gesamtzahlen reichen von mindestens 187 (bis Ende September 2020)[3] über 219 (bis Ende 2021)[4] oder 251 (bis Oktober 2020; 315 seit 1970)[5] bis hin zu 311 (bis 2022). Hinzu kommen bis zu 102 Verdachtsfälle[6] und eine hohe Dunkelziffer von möglichen rechtsextremen Tötungen.
Von 1949 bis 1990 erfassten Staatsbehörden rechtsextreme Tötungsdelikte in der Bundesrepublik nicht gesondert und stuften sie oft als Einzelfälle ohne politische Mordmotive ein. Erst seit dem Oktoberfestattentat und Erlanger Doppelmord (beide 1980) wurde der Rechtsterrorismus in der Bundesrepublik stärker beachtet.[7] Doch die Opfer wurden auch später nicht in staatliche Listen aufgenommen. Auch seit der deutschen Wiedervereinigung 1990 gibt die Bundesregierung keine regelmäßigen offiziellen Statistiken zu Tathergängen, Tatmotiven und Tatorten solcher Delikte heraus.[8] Ihre Angaben zu den Todesopfern erfolgen oft erst auf parlamentarische Nachfragen.[9]
Die staatlichen Zahlenangaben liegen bisher weit unter denen, die spezialisierte Opferberatungsstellen und bundesweite Printmedien ermittelten. Als Hauptursachen dafür gelten:
Bis 2001 definierten deutsche Polizeibehörden nur staatsfeindliche, gegen die Freiheitlich Demokratische Grundordnung gerichtete Straftaten als rechtsextrem. Opfer rassistischer Gewalttaten wurden statistisch nicht gesondert erfasst. Dies sollte das 2001 eingeführte PMK-System ändern.
Danach muss ein rechtsextremes Tätermotiv „tatauslösend“ wirken. Wenn es die Gewalt nur begleitet oder eskaliert, zählt der Fall staatlich nicht als rechtsextreme Gewalttat.
Lokale Polizeibehörden entscheiden, ob eine Gewalttat politisch motiviert ist und somit an die PMK-Statistik des jeweiligen Landeskriminalamts (LKA) gemeldet wird.
Die LKAs wenden das PMK-System verschieden an, weil das Problembewusstsein zum Thema Rechtsextremismus je nach Bundesland verschieden ausgeprägt ist.[10]
Das PMK-System berücksichtigt als Eingangsstatistik nur die anfangs polizeilich festgestellten Tatumstände, nicht spätere Ermittlungsergebnisse. Eine systematische Verlaufsstatistik rechter Gewalttaten bis zu rechtsgültigen Strafurteilen fehlt.
Der erste NSU-Untersuchungsausschuss des Bundestags attestierte dem PMK-System 2013 daher „große Schwächen“, die sich „exemplarisch an der Debatte um die Anerkennung der Todesopfer rechter Gewalt seit 1990“ zeigten, und forderte dringend „einen verbindlichen gegenseitigen Informationsaustausch zwischen Polizei und Justiz“ und zumindest bei PMK-Gewaltdelikten eine Verlaufsstatistik. Er griff damit jahrzehntelange Forderungen von Kriminologen, Soziologen und Opferschutzinitiativen auf. Die Bundesregierung reformierte das PMK-System ab 2001 mehrmals, ergänzte den Themenkatalog politischer Straftaten und die Merkmale politischer Tatmotive. 2017 forderte eine Fußnote im Gesetzestext erstmals, bei der Würdigung der Tatumstände „auch die Sicht der/des Betroffenen mit einzubeziehen“. Dennoch stuften manche LKAs eindeutige Todesopfer rechter Gewalt weiter gar nicht oder verspätet als solche ein, selbst wenn rechtskräftige Urteile dazu vorlagen. Das BKA erhielt Gerichtsakten zu abgeschlossenen PMK-Strafverfahren oft erst viel später. Obwohl die unabhängigen Initiativen rechtsmotivierte und rassistische Gewalt wie das PMK-System definieren, registrierten sie auch 2017 rund ein Drittel mehr rechte Gewalttaten als die Staatsbehörden. Sie forderten daher:
die Opferperspektive von Anfang an einzubeziehen, um eine wirksame Strafverfolgung überhaupt zu ermöglichen,
alle mit dem PMK-System befassten Polizisten zu schulen,
die Leitungsebenen ihrer Behörden zur bundesweiten Umsetzung des PMK-rechts-Katalogs zu verpflichten,
diesen rückwirkend auf alle von Medien und Zivilgesellschaft recherchierten Tötungsdelikte seit 1990 anzuwenden,
die Geheimhaltung des PMK-Themenkatalogs aufzuheben.[11]
Der Verein Opferperspektive sah 2017 weiterhin ein „Wahrnehmungsproblem“ bei den Polizeibehörden und fehlendes Interesse, rechtsextreme Verdachtsfälle richtig einzuordnen.[10] Die Amadeu Antonio Stiftung (AAS) kritisierte, dass das BKA nur Taten in die PMK-Statistik aufnehme, für die eine gefestigte rechtsextreme Tätergesinnung als „tatauslösend und tatbestimmend“ nachweisbar sei, und so weder die Perspektive von Angehörigen und Zeugen noch sozialdarwinistische oder rassistische Tatmotive von „Alltagsrassisten aus der Mitte der Gesellschaft“ angemessen erfasse.[12]
Überprüfung von Verdachtsfällen
Im Jahr 2000 führte das BKA nur 22 Opfer rechtsextremer Gewalt in seiner Statistik. Dagegen veröffentlichten die Zeitungen Frankfurter Rundschau und Der Tagesspiegel damals 93 solche Todesfälle.[10] Infolge dieser Recherchen und parlamentarischer Anfragen dazu erhöhte die Bundesregierung die Zahl der anerkannten Todesopfer im Sommer 2000 auf 38, bis 2009 auf 46, bis 2012 auf 58. Darunter waren nun die zehn Mordopfer der Terrororganisation Nationalsozialistischer Untergrund (NSU), ein neues und zwei nachgemeldete Opfer.[13]
Nach Bekanntwerden der NSU-Morde 2011 veranlasste das Bundesinnenministerium (BMI) eine Überprüfung von 3300 bislang unaufgeklärten Tötungen und Tötungsversuchen auf mögliche rechtsextreme Tatmotive. Die Prüfung oblag dem Gemeinsamen Abwehrzentrum gegen Rechtsextremismus/Rechtsterrorismus (GAR).[14] Dabei fanden BKA und LKAs bis zum 4. Dezember 2013 in 746 Fällen mit 849 Todesopfern Anhaltspunkte für mögliche rechte Tatmotive. Diese Fälle schlossen 137 Fälle der von Medien recherchierten Opferlisten ein. Sie sollten daher weiter geprüft werden.[15]
Viele Bundesländer überprüften jedoch bisher keine oder nur einige Altfälle. Die Länder Brandenburg und Berlin beauftragten dazu externe Forschungsinstitute; das Land Thüringen beabsichtigte dies ebenfalls.[16] Das Moses Mendelssohn Zentrum für europäisch-jüdische Studien (MMZ) bildete einen Expertenkreis für Brandenburg, der Einblick in Polizei- und Ermittlungsakten sowie manche Gerichtsurteile erhielt. Bis 2015 wertete er 24 nicht im PMK-System erfasste und neun erfasste Fälle neu aus. Nur in vier davon ließen sich rechtsextreme Tatmotive oder Tätereinstellungen ausschließen.[17] Eine Expertengruppe an der Technischen Universität Berlin fand in sechs von neun untersuchten Todesfällen rechtsextreme Motive.[18] Daraufhin nahm die Berliner Polizei die sechs Fälle im Mai 2018 nachträglich in ihre PMK-rechts-Statistik auf.[19] Im Juni 2022 erkannte das Innenministerium von Nordrhein-Westfalen drei Tötungen von 2003 nachträglich als rechtsextreme Morde an und veranlasste eine Überprüfung von 30 Verdachtsfällen.[20]
Bis 2015 erkannten BKA und LKAs nur 15 der 746 seit 2011 entdeckten Verdachtsfälle als aus rechtsextremen Motiven getötete Opfer an. Zwei neue Fälle kamen hinzu. Daher korrigierte das BMI die Opferzahl im Juli 2015 von 58 auf 75.[21] Im Juni 2018 nannte die Bundesregierung auf parlamentarische Nachfrage 83 Todesopfer rechtsextremer Gewalt seit 1990.[22] Der Kriminologe Tobias Singelnstein hielt eine bundesweit doppelt so hohe tatsächliche Opferzahl für möglich.[23] Er mahnte, ohne die Medienrecherchen würde die Zahlendiskrepanz noch viel größer ausfallen, und forderte eine unabhängige wissenschaftliche Untersuchung aller Verdachtsfälle in allen Bundesländern und ein besseres Meldesystem zwischen Länderpolizeien, Justiz und BKA bei rechtsextrem motivierten Tötungsdelikten.[24]
Die Wochenzeitung Die Zeit übernahm die gemeinsame Opferchronik der Frankfurter Rundschau und des Tagesspiegels und ergänzt sie fortlaufend. Bereits 2000 kam ihr gemeinsames Langzeitrechercheprojekt auf 93, bis Mai 2008 auf 135,[25] bis September 2010 auf 137,[26] bis Mai 2012 auf 149,[27] bis Juni 2015 auf 156,[28] bis 2018 auf mindestens 169, bis Ende September 2020 auf mindestens 187 Todesopfer rechtsextremer Gewalt seit 1990[29][30] sowie 64 Verdachtsfälle.[31] Somit bestätigten diese Recherchen die Annahme von Tobias Singelnstein.
Im September 2020 erkannte die Bundesregierung 109 Todesfälle als Opfer rechtsextremer Taten an.[32] Das Recherchekollektiv kritisierte diese Regierungszahl als Ergebnis einer „gefährlichen Ignoranz“, vor allem gegenüber nicht organisierten rechtsextremen Tätern,[33] und verwies auf mindestens 78 weitere, sehr wahrscheinlich rechtsextrem motivierte Tötungen seit 1990.[3]
Die Initiativen Mut gegen rechte Gewalt und Netz gegen Nazis (heute Belltower.News), der Verein Pro Asyl, der Opferfonds Cura und regionale Opferberatungsstellen fanden bei ihren eigenen Prüfungen etliche Verdachtsfälle rechtsextremer Tötungsdelikte und nahmen sie in ihre Chroniken auf. Auch diese stützen sich weitgehend auf polizeilich erfasste Strafanzeigen. Die Amadeu Antonio Stiftung führt die Angaben dieser Initiativen zusammen. Ihre bundesweite Todesopferliste wird ständig aktualisiert und berücksichtigt sowohl Taten von eindeutigen Rechtsextremen als auch Tötungsdelikte, „bei denen eine sozialdarwinistische und rassistische/rechte Motivation mindestens eine tatbegleitende bis tateskalierende Rolle gespielt haben.“[34] Seit Dezember 2022 nennt sie 219 Todesopfer seit 1990 und 16 Verdachtsfälle.[4]
Der Autor Thomas Billstein und der Historiker Harry Waibel fanden bei ihren Recherchen in Zeitungsarchiven, bei Opferangehörigen, Opferschutzinitiativen und Antifagruppen viele weitere Verdachtsfälle, etwa unter namentlich unbekannten Obdachlosen und Migranten.[35]
Statistiken
Die bekannten Todesopfer von 1970 bis 2020 verteilen sich wie folgt auf die Einzeljahre:
Jahr
Opfer
1970
1
1971
1972
1973
1974
1
1975
1976
1977
1978
1979
3
1980
17
1981
2
1982
6
1983
1984
9
1985
2
1986
2
1987
3
1988
4
1989
3
1990
7
1991
12
1992
32
1993
20
1994
19
1995
7
1996
18
1997
13
1998
2
1999
13
2000
16
2001
12
2002
7
2003
14
2004
3
2005
5
2006
3
2007
4
2008
8
2009
1
2010
2
2011
2
2012
4
2013
1
2014
2
2015
1
2016
13
2017
3
2018
3
2019
3
2020
12
Somit gab es seit 1984 jedes Jahr mindestens ein rechtsextremes Tötungsdelikt, enorme Anstiege um 1980, erneut 1990 bis 1997, 1999 bis 2003 sowie 2016 (Olympiazentrum München) und 2020 (Hanau).[36] In 13 Jahren bisher waren die Opferzahlen zweistellig.
In 225 Fällen seit 1970 stellten Ermittler den oder die Täter fest. 114 dieser Taten (51 %) verübten drei oder mehr Personen, 40 Taten (18 %) je zwei, 71 Taten (31 %) je ein Täter. Gut zwei Drittel dieser Tötungsdelikte waren also Gruppentaten. Bis 2010 waren die Täter meist in rechtsextremen Parteien, Strukturen oder Subkulturen verankert. Erst seit 2016 verübten Einzelne Massenmorde, die ihre Motive aus rechten Internet-Netzwerken bezogen und Behörden zuvor nicht aufgefallen waren. 258 (98 %) von 263 bekannten Tätern waren Männer, und zwar bei einem geschätzten Frauenanteil von 20 % (2020) an den deutschen Rechtsextremen. Rund 80 % der bekannten Täter waren zur Tatzeit höchstens 30, rund 50 % zwischen 14 und 23 Jahre alt. Rechtsextreme Tötungen sind also weit überwiegend Gewalttaten junger Männer. Auch ihre Opfer waren zu 79,4 % männlich. Als mögliche Gründe dafür gelten das rechtsextreme patriarchale Weltbild, das schwere Angriffe auf Frauen eher verpönt, und der größere Anteil von Männern bei typischen Opfergruppen, etwa Obdachlosen. 147 Tötungen wurden aus rassistischen Motiven begangen und forderten dann meist mehrere Opfer, ebenso Tötungen bei Sportereignissen. 43 sozialdarwinistisch und 41 aus politischer Gegnerschaft motivierte Fälle trafen meist Einzelne, etwa Obdachlose, Antifaschisten oder Polizisten. Die meisten der 226 angeklagten Täter wurden letztinstanzlich wegen Körperverletzung mit Todesfolge oder Totschlag, nicht wegen Mordes verurteilt, 78 mal zu Haft von maximal sechs Jahren. 32 der übrigen 135 verurteilten Täter erhielten eine lebenslange Freiheitsstrafe, vier davon mit folgender Sicherungsverwahrung, je 35 erhielten acht oder 12 Jahre, 20 erhielten 15 Jahre Haft. Neun Täter wurden freigesprochen, etwa wegen widersprüchlicher Zeugenaussagen oder einer angenommenen Notwehrsituation.[37]
Dunkelziffer
Die Opferinitiativen gehen von einer hohen Dunkelziffer weiterer Todesopfer rechtsextremer Gewalt aus, etwa unter Wohnungs- und Obdachlosen sowie nicht gemeldeten Migranten. Zur Dunkelziffer gehören auch durch Polizisten erschossene oder in Abschiebehaft oder Polizeihaft getötete und gestorbene Menschen. In vielen dieser Todesfälle sind eine rassistische Tatmotivation oder Tateskalation durch beteiligte Polizisten möglich und naheliegend. Die zum Tod führenden Vorgänge werden jedoch nur selten von Unbeteiligten beobachtet, kaum von anderen Polizisten angezeigt und strafverfolgt. Daher bleiben sie meist unaufgeklärt.[38] Laut Recherchen von Ingrid Müller-Münch (2019/2020) erschossen deutsche Polizeibeamte aus Antiziganismus zwischen 1945 und 1980 fünf Roma.[39] Bis 1. August 2023 dokumentierte die Initiative Death in Custody 233 unaufgeklärte Todesfälle von Migranten, People of Colour oder Juden in deutschem Polizeigewahrsam seit 1990.[40]
Die Opfer
Chronik
Die folgende chronologische Liste enthält neben den staatlich anerkannten Fällen (unmarkiert) auch Fälle, bei denen rechtsextreme Tatmotive und/oder ein rechtsextremes Weltbild der Täter durch staatliche Ermittlungen und/oder nichtstaatliche Recherchen nachgewiesen sind (gelb markiert), sowie Verdachtsfälle, bei denen rechtsextreme Tatmotive möglich sind (blau markiert). Die Einordnung folgt den aktuellsten Hauptbelegen.[41] Die Liste enthält auch Opfer rechtsextremer Ausländer und früherer DDR-Bürger sowie innerhalb der rechtsextremen Szene Getötete.[42]
Kurt Schneider, † 6. Oktober 1999, Berlin-Lichtenberg
Ingo Binsch, † 5. November 2001, Berlin
Dieter Eich, † 24. Mai 2002, Berlin-Buch
Marinus Schöberl, † 23. Juli 2002, Potzlow
Marwa El-Sherbini, † 1. Juli 2009, Dresden
In der Bundesrepublik Deutschland gibt es zwar eine staatliche Erinnerungskultur zur NS-Zeit, jedoch kein staatliches Gedenken für die Todesopfer rechtsextremer Gewalt seit 1945. Thomas Billstein stellte dazu fest: „Das Land, das für den faschistischen Terror und den Holocaust Verantwortung trägt, bekundet nur allzu oft, aus dem grausamen Kapitel der Geschichte gelernt zu haben. Nationalismus, Rassismus, Antisemitismus und Antiziganismus – viele möchten diese und andere Formen der gruppenbezogenen Menschenfeindlichkeit in die Geschichtsbücher verbannen und erkennen nicht an, dass dies auch heute noch Tatmotive sind, die immer wieder Todesopfer fordern.“[8] Meist übernehmen ehrenamtliche Initiativen die Aufgabe des Erinnerns, organisieren Gedenkveranstaltungen für die Todesopfer und klären über ihre Biografien, die Täter, Tatverläufe und rechte Strukturen vor Ort auf. Die Informationen stammen oft aus langjährigen Recherchen einiger weniger Journalisten, Opferverbände und Beratungsstellen.[394]
Nach der ersten Opferchronik der Frankfurter Rundschau und des Tagesspiegel erstellten Opferberatungsvereine eine Ausstellung, die 2001 erstmals erschien und seitdem immer wieder ergänzt wurde. Die siebte Fassung von 2017 erinnert an 183 Menschen, die seit Anfang 1990 durch rechte Gewalttaten getötet wurden, und thematisiert auch die anhaltende Verdrängung dieser Gewalt und die Bandbreite gesellschaftlicher Reaktionen darauf: Während einige Taten öffentliche Empörung und politische Kontroversen auslösten, wurden viele andere Opfer nie mit Namen, Fotografien und weiteren Details bekannt gemacht. Die Ausstellung dokumentiert jeden Fall seit 1990, bei dem rechte Motive durch Ermittlungsakten und Medienberichte belegt sind. Zu jeder Person gibt es eine Tafel mit biografischen Angaben, gegebenenfalls einem gerasterten Porträtfoto, und einer Skizze des tödlichen Tatverlaufs auf Deutsch und Englisch. Leere Tafeln am Anfang und Ende verweisen auf Opfer vor 1990 und seit 2017. Drei Spiegeltafeln mit den Aufschriften „Täter?“, „Opfer?“, „Zuschauer?“ laden den Besucher zur Selbstreflexion ein. Zwischen den Tafeln veranschaulichen Urlaubspostkarten von Tätern und Opfern die Spannung zwischen Vielfalt und Offenheit gegenüber Hass und Gewalt.[395]
Der Jugendpfarrer Lothar König und seine Junge Gemeinde Jena gestalteten am 10. April 2016 in der Versöhnungskirche (Dachau) einen ökumenischen Gottesdienst zum Gedenken an die 1945 ermordeten WiderstandskämpferGeorg Elser und Dietrich Bonhoeffer und an alle Todesopfer rechtsextremer Gewalt in der Bundesrepublik Deutschland seit 1990. Der Gottesdienst wurde bundesweit beachtet.[396]
Thomas Billstein richtete 2018 auf Twitter und Facebook ein regelmäßiges Gedenken an die Todesopfer ein (@OpferNaziGewalt). Daraus entstand bis 2020 das Werk „Kein Vergessen. Todesopfer rechter Gewalt in Deutschland nach 1945“. Beginnend mit dem Jahr 1970, beschreibt es die Biografien von 315 Menschen, von denen 274 nachweislich, 41 wahrscheinlich von Rechtsextremen in Deutschland getötet wurden. Die Biografien und gezeichneten Porträts geben diesen Opfern ein Gesicht, veranschaulichen ihre Lebensziele, Hobbys, Familien, Beziehungen und Gefühle. Zudem dokumentiert das Buch das Versagen der Strafverfolger und Justiz im Umgang mit diesen Verbrechen. Das Buch wurde als „Anklageschrift gegen all diejenigen, die rechte Motive ausklammern, ignorieren, kleinreden und verschweigen“ und als hilfreicher Beitrag zur Debatte um diese Todesopfer rezensiert. Es verdeutliche die kontinuierliche tödliche Gefahr durch die extreme Rechte und könne eine Erforschung von bislang unbekannten Todesfällen sowie die weitere Ergänzung der offiziellen Statistiken um Fälle vor 1990 anregen. Es mache deutlich, „wie wichtig antifaschistische Recherchen und lokale Initiativen aus der Zivilgesellschaft sind, die die Erinnerung an die Todesopfer rechter Gewalt wachhalten“.[397]
Aus der Bewegung Black Lives Matter gegen rassistische Polizeigewalt in den USA übernahmen die Angehörigen der Todesopfer des Anschlags in Hanau (19. Februar 2020) die Kampagne Say their Names („Sagt ihre Namen“). Sie gründeten Vereine mit diesem Motto, um an die Ermordeten zu erinnern und vollständige Aufklärung von Staatsbehörden und Politik einzufordern.[398]
Unter dem Hashtag #SayTheirNames teilten Menschen 2020 die Namen der zehn in Hanau Ermordeten in sozialen Medien. Viele Initiativen beteiligten sich zum ersten Jahrestag des Anschlags 2021 an Gedenkaktionen. Im Staatstheater Hannover etwa wurden die Namen von 213 Todesopfern rechter Gewalt in eine zentrale Wandfläche im Eingangsbereich eingelassen und am 19. Februar 2021 von Schauspielern öffentlich verlesen. Diese Aktion entstand aus deren Wunsch, rassistische Gewalt nicht nur künstlerisch auf der Bühne zu bearbeiten, sondern auch auf konkrete aktuelle Ereignisse zu reagieren und sie dauerhaft in Erinnerung zu rufen.[399] Die Stadt Hanau eröffnete zum Jahrestag des Anschlags ein Begegnungscafé mit dem Schriftzug #Saytheirnames für die Betroffenen und Angehörigen der Opfer und die Webseite www.hanau-steht-zusammen.de. Sie soll als digitales Denkmal für die Opfer und Informationsbörse zum Schutz vor weiteren Anschlägen dienen.[400]
In Rosdorf bei Göttingen errichtete eine Gruppe engagierter Bürger einen Gedenkweg für Alexander Selchow, der in der Neujahrsnacht 1990/1991 von rechtsextremen Jugendlichen getötet wurde, sowie eine Website.[401]
Harry Waibel: Rechte Kontinuitäten: Rassismus und Neonazismus in Deutschland seit 1945. Eine Dokumentation. Marta Press, Hamburg 2022, ISBN 978-3-96837-005-7
Harpreet Kaur Cholia, Christin Jänicke (Hrsg.): Unentbehrlich: Solidarität mit Betroffenen rechter, rassistischer und antisemitischer Gewalt. edition assemblage, Münster 2021, ISBN 3-96042-105-2
Thomas Billstein: Kein Vergessen – Todesopfer rechter Gewalt in Deutschland nach 1945. Unrast, Münster 2020, ISBN 978-3-89771-278-2
Dorina Feldmann, Christoph Kopke, Gebhard Schulz: Todesopfer rechtsextremer und rassistischer Gewalt in Brandenburg (1990–2008). In: Wolfgang Frindte und andere (Hrsg.): Rechtsextremismus und „Nationalsozialistischer Untergrund“. Springer VS, Wiesbaden 2016, ISBN 978-3-658-09997-8, S. 341–358.
Andreas W. Böttger, Olaf Lobermeier, Katarzyna Plachta: Opfer rechtsextremer Gewalt. Die Sicht der Opfer. Springer VS, Wiesbaden 2014, ISBN 978-3-531-93394-8
↑Thomas Billstein: Kein Vergessen, Münster 2020, Vorwort S. 20; Dokumentation S. 322–326; Opferliste S. 337–344
↑Harry Waibel: Rechte Kontinuitäten, Hamburg 2022, Dokumentation S. 357–456
↑Wilhelm Heitmeyer, Manuela Freiheit, Peter Sitzer: Rechte Bedrohungsallianzen. Signaturen der Bedrohung II. Suhrkamp, Berlin 2020, ISBN 978-3-518-12748-3, S. 218
↑Heike Kleffner: Die Reform der PMK-Definition und die anhaltenden Erfassungslücken zum Ausmaß rechter Gewalt. In: Amadeu Antonio Stiftung (Hrsg.): Wissen schafft Demokratie. Schriftenreihe des Instituts für Demokratie und Zivilgesellschaft 04 / 2018, S. 30–37
↑Frank Jansen, Heike Kleffner, Johannes Radke, Toralf Staud: Dokumentation: 156 Schicksale. Zeit, 16. September 2010, aktualisiert am 30. Juni 2015
↑Paul Blickle, Frank Jansen, Heike Kleffner, Johannes Radke, Julian Stahnke, Toralf Staud, Sascha Venohr: Todesopfer rechter Gewalt: 187 Schicksale. Zeit online / Tagesspiegel, 30. September 2020
↑Stefan Garsztecki, Thomas Laux und Marian Nebelin: Die »neue« Rechte im Kontext. In: Stefan Garsztecki, Thomas Laux, Marian Nebelin (Hrsg.): Brennpunkte der »neuen« Rechten. Globale Entwicklungen und die Lage in Sachsen. transcript Verlag, 2024, ISBN 978-3-8394-6579-0, S.9.
↑ abHauptbelege: 1: Paul Blickle, Frank Jansen, Heike Kleffner, Johannes Radke, Julian Stahnke, Toralf Staud, Sascha Venohr: Todesopfer rechter Gewalt: 187 Schicksale. Zeit online / Tagesspiegel, 30. September 2020. 2: Todesopfer rechter Gewalt. Amadeu Antonio Stiftung, Dezember 2021. 3: Thomas Billstein: Kein Vergessen, Münster 2020, Dokumentation S. 30–326; Opferliste S. 337–344. 4: Harry Waibel: Rechte Kontinuitäten, Hamburg 2022, Dokumentation S. 357–456; Register S. 477–491. 5: Frank Jansen, Heike Kleffner, Johannes Radke, Toralf Staud: Todesopfer rechter Gewalt: Erstochen, erschlagen, verbrannt. Zeit, 28. September 2018, aktualisiert am 1. Oktober 2020. Alle übrigen Fälle haben eigene Einzelnachweise.
↑Christian Jakob: 24 Todesfälle in Gewahrsam: Wie fahrlässig handelte die Polizei? In: Die Tageszeitung: taz. 17. Juli 2020, ISSN0931-9085 (taz.de [abgerufen am 21. Januar 2024]).
↑Aladin El-Mafaalani: Wozu Rassismus? Von der Erfindung der Menschenrassen bis zum rassismuskritischen Widerstand. Kiepenheuer & Witsch, Köln 2021, ISBN
3-462-00223-6, S. 100f.