Bisher stellte im Deutschen Bundestag immer die Fraktion mit den meisten Abgeordneten den Bundestagspräsidenten, wenngleich es hierzu keine gesetzliche Bestimmung gibt. Diese Staatspraxis bildete sich bereits in der Weimarer Republik heraus. Die Amtszeit des Bundestagspräsidenten endet mit der jeweiligen Legislaturperiode. Er ist damit grundsätzlich nicht vorzeitig absetzbar. Eine erneute Wahl des bisherigen Amtsinhabers in der nächsten Legislaturperiode ist möglich, sofern er auch Abgeordneter des neuen Bundestages ist.
„Kampfkandidaturen“ bei der Wahl zum Präsidenten sind unüblich. Lediglich nach dem plötzlichen Tod von Hermann Ehlers (CDU) 1954 gab es eine Ausnahme. Bei der Wahl am 16. November 1954 traten sogar zwei Fraktionskollegen gegeneinander um das Amt an: Gegen den offiziellen CDU/CSU-Kandidaten Eugen Gerstenmaier trat Ernst Lemmer an und unterlag erst im dritten Wahlgang mit lediglich 14 Stimmen Unterschied (Gerstenmaier: 204, Lemmer: 190, Enthaltungen: 15).
Stellvertreter
Der Bundestagspräsident hat mehrere Stellvertreter (Vizepräsident des Deutschen Bundestages oder Bundestagsvizepräsident), die von den im Bundestag vertretenen Fraktionen vorgeschlagen werden. Leitet einer von ihnen eine Sitzung des Bundestages, so wird er als amtierender Präsident bezeichnet und hat die Ordnungsgewalt im Bundestag inne.[5]
Als am 18. April 1958 sämtliche Bundestagsvizepräsidenten und auch die damalige Alterspräsidentin abwesend waren, betraute der Bundestagspräsident den SPD-Abgeordneten Kurt Pohle mit der Leitung der weiteren Sitzung.[6]
Bis zum Beginn der 13. Wahlperiode 1994 war in der Geschäftsordnung nicht festgelegt, wie viele Stellvertreter der Bundestagspräsident hat. Es gab nur interfraktionelle Vereinbarungen, sodass es meist vier Vizepräsidenten gab (je einen für die drei größten Fraktionen Union, SPD und FDP sowie ein zweiter für die jeweils zweitgrößte Fraktion). 1983 stellte die neue Fraktion der Grünen erstmals einen Antrag, ebenfalls mit einem Vizepräsidenten im Präsidium vertreten zu sein. Dieser Antrag wurde – wie auch in folgenden Wahlperioden – abgelehnt. Erst 1994 wurde die Zahl der Stellvertreter des Präsidenten derart festgelegt, dass jede Fraktion durch mindestens einen Vizepräsidenten zu vertreten ist. Demzufolge hatte der Deutsche Bundestag während der 14. Wahlperiode (1998 bis 2002) fünf Vizepräsidenten, 1994 bis 1998 und 2002 bis 2005 gab es vier Vizepräsidenten. Nach der Bundestagswahl 2005 einigten sich SPD, CDU und CSU in ihren Sondierungsgesprächen zur Bildung einer Großen Koalition darauf, dass die SPD zwei Vizepräsidenten stellt. Der entsprechende Antrag zur Wahl von sechs Stellvertretern wurde bei der konstituierenden Sitzung am 18. Oktober 2005 gegen die Fraktionen der FDP, Bündnis 90/Die Grünen und Die Linke angenommen. In der 17. Wahlperiode erhielt wieder nur jede Fraktion einen Vizepräsidenten, insgesamt also fünf. In der 18. Wahlperiode stellten sowohl SPD als auch CDU/CSU je zwei Vizepräsidenten. Obwohl die FDP nicht mehr im Bundestag vertreten war, erhöhte sich die Zahl der Stellvertreter damit wieder auf sechs.
In das Präsidium des 19. Deutschen Bundestages wurde kein Abgeordneter der erstmals im Bundestag vertretenen AfD gewählt, obwohl nach § 2 Abs. 1 S. 2 der Geschäftsordnung des Deutschen Bundestages jede Fraktion durch mindestens einen Vizepräsidenten im Bundestagspräsidium vertreten sein sollte. Allerdings besteht für die Abgeordneten keine Verpflichtung zur Bestimmung eines bestimmten Kandidaten, da sie diesen nach Art. 40GG wählen dürfen und darunter eine freie Wahl zu verstehen ist.[7] Das Bundesverfassungsgericht schrieb dazu in einer Entscheidung von 2022: „Die freie Wahl entspricht dem freien Mandat der Abgeordneten nach Art. 38 Abs. 1 Satz 2 GG und dem Demokratieprinzip nach Art. 20 Abs. 1 und Abs. 2 GG. […] Mit einer freien Wahl im Sinne des Art. 40 Abs. 1 Satz 1 GG wäre es unvereinbar, wenn eine Fraktion das Recht auf ein bestimmtes Wahlergebnis hätte.“[8] Auch für das Präsidium des 20. Deutschen Bundestages schaffen es die Kandidaten der AfD nicht, die erforderliche Stimmenanzahl auf sich zu vereinen.
Gesetzliche Grundlagen
Gesetzliche Grundlage für das Amt des Bundestagspräsidenten und seiner Stellvertreter ist zunächst Art. 40GG: Danach wählt der Bundestag seinen Präsidenten und dessen Stellvertreter. Ferner gibt sich der Bundestag eine Geschäftsordnung.
Die Geschäftsordnung muss laut einem Urteil des Bundesverfassungsgerichts von 1952 für jede neu beginnende Wahlperiode neu beschlossen werden.[9] In der Praxis wird jedoch meist die bisherige Geschäftsordnung – ggf. mit Änderungen – als Geschäftsordnung für die neue Wahlperiode beschlossen. Sie regelt unter anderem die Rechte und Pflichten des Bundestagspräsidenten sowie die Anzahl der Vizepräsidenten.
Aufgaben
Die wichtigste Funktion des Bundestagspräsidenten besteht in der Leitung der Plenarsitzungen. Dazu nimmt er auf dem Podium im Plenarsaal des Bundestages Platz, sitzt also den anderen Abgeordneten gegenüber. Der Bundestagspräsident vertritt den Bundestag und ist Adressat aller Gesetzentwürfe und Vorlagen, die von der Bundesregierung, vom Bundesrat oder aus der Mitte des Bundestages eingebracht werden. Ebenso ist er der Empfänger aller Eingaben, die aus den Reihen des Parlaments stammen oder an den Bundestag gerichtet werden.
Dem Präsidenten steht das Hausrecht und die Polizeigewalt zu, die durch die Polizei beim Deutschen Bundestag durchgesetzt wird. Er ist auch die oberste Dienstbehörde der Bundestagsbeamten, wobei er bestimmte Personalentscheidungen im Einvernehmen mit dem Präsidium trifft. Weitere Rechte und Pflichten des Bundestagspräsidenten sind in der Geschäftsordnung geregelt.
Gemäß § 36 der Geschäftsordnung kann der Präsident Redner, die vom Verhandlungsgegenstand abschweifen, zur Sache verweisen. Weiter kann der Präsident Mitglieder des Bundestages, wenn sie die Ordnung oder die Würde des Bundestages verletzen, mit Nennung des Namens zur Ordnung rufen. „Ist ein Redner während einer Rede dreimal zur Sache oder dreimal zur Ordnung gerufen und beim zweiten Male auf die Folgen eines dritten Rufes zur Sache oder zur Ordnung hingewiesen worden, so muss ihm der Präsident das Wort entziehen und darf es ihm in derselben Aussprache zum selben Verhandlungsgegenstand nicht wieder erteilen“ (§ 36 Abs. 2 der Geschäftsordnung). Unabhängig von einem Ordnungsruf kann der Präsident laut § 37 der Geschäftsordnung ein Ordnungsgeld in Höhe von 1000,00 Euro festsetzen (im Wiederholungsfall 2000,00 Euro). Laut § 38 der Geschäftsordnung kann der Präsident wegen gröblicher Verletzung der Ordnung oder der Würde des Bundestages ein Mitglied des Bundestages, auch ohne dass ein Ordnungsruf ergangen oder ein Ordnungsgeld festgesetzt worden ist, für die Dauer der Sitzung aus dem Saal verweisen. Ein Mitglied des Bundestages kann in der Folge maximal dreißig Sitzungstage ausgeschlossen werden. Gegen sämtliche Sanktionen des Präsidenten kann das betroffene Mitglied des Bundestages bis zum nächsten Plenarsitzungstag schriftlich begründeten Einspruch einlegen. Über den Einspruch entscheidet der Bundestag ohne Aussprache (§ 39 der Geschäftsordnung).
Der Bundestagspräsident ist ferner der Empfänger der Rechenschaftsberichte der politischen Parteien, überwacht die Einhaltung der Regelungen zur Parteispende nach dem Parteiengesetz und regelt die Wahlkampfkostenerstattung.
Einkommen
Der Bundestagspräsident erhält die doppelte Diät eines Bundestagsabgeordneten, aktuell also etwa 19.100 Euro pro Monat (ab 2017, Abgeordnetenentschädigung) sowie zusätzliche Pauschalen (steuerfreie Kostenpauschale von ca. 4000 Euro, Amtsaufwandsentschädigung von ca. 1000 Euro); die Vizepräsidenten erhalten jeweils die anderthalbfache Diät, aktuell etwa 14.300 Euro pro Monat plus Pauschalen. Die Kostenpauschale wird bei Fernbleiben von den Sitzungen des Bundestages entsprechend gekürzt.
Die Höhe der Diät des Präsidenten und der Vizepräsidenten ist im Abgeordnetengesetz, § 11 Absatz 2, festgelegt. Die Kostenpauschale wird im § 12 Abs. 2 (hier für alle Abgeordneten), die Amtsaufwandsentschädigung im § 12 Abs. 5 fixiert.
Die Diät des Bundestagspräsidenten liegt etwas unter den Amtsbezügen des Bundespräsidenten (des obersten Repräsentanten des Staates) und des Bundeskanzlers (letzterer bezieht allerdings in der Regel zusätzlich als Bundestagsabgeordneter eine Diät).
Der Bundestagspräsident und seine Stellvertreter bilden das Bundestagspräsidium.[11] Die folgende Übersicht der Präsidenten und Vizepräsidenten ist nach Wahlperioden und Fraktionszugehörigkeit geordnet. Die Zahl der Spalten entspricht nicht der Zahl der Vizepräsidenten die von zwei auf bis zu sechs vergrößert wurde; da durch CDU und CSU trotz gemeinsamer Unions-Fraktion ab 1953 zwei Posten im Präsidium besetzt wurden, wurden ab 1961 auch zwei Vizepräsidenten-Posten an die SPD vergeben. Die Entwicklung ist auch unter Parlamentspräsident erläutert.
Am 23. April 1958 wurde Victor-Emanuel Preusker als Kandidat der DP zum vierten Vizepräsidenten gewählt. Am 1. Juli 1960 trat er aus der DP aus und am 20. September 1960 der CDU bei. Am 4. Oktober 1960 legte er sein Vizepräsidentenamt nieder.
4
In der 16. Wahlperiode erhielt im Oktober 2005 Lothar Bisky als Kandidat der Linke-Fraktion in drei Wahlgängen und im November in einem vierten Wahlgang nicht die erforderliche Mehrheit für die Position eines Vizepräsidenten. Daraufhin ließ die Fraktion den ihr zustehenden Posten zunächst unbesetzt. Am 7. April 2006 wurde mit Petra Pau schließlich doch eine Vertreterin der Fraktion ins Präsidium gewählt.
5
Michaela Noll wurde am 19. Januar 2017 zur neuen Vizepräsidentin des 18. Deutschen Bundestages und damit auch zur Nachfolgerin vom am 26. November 2016 verstorbenen Vizepräsidenten Peter Hintze gewählt.[12]
6
In der konstituierenden Sitzung der 19. Wahlperiode erreichte Albrecht Glaser als Kandidat der AfD-Fraktion in drei Wahlgängen nicht die erforderliche Mehrheit für die Position eines Vizepräsidenten der 19. Wahlperiode. Das Amt blieb zunächst unbesetzt. Von November 2018 bis Juni 2021 wurden Mariana Harder-Kühnel, Gerold Otten, Paul Viktor Podolay, Karsten Hilse und Harald Weyel als Kandidaten von ihrer Fraktion nominiert, wobei in je drei Wahlgängen keiner der fünf die erforderliche Mehrheit erreichte. In der konstituierenden Sitzung der 20. Wahlperiode sowie in der Nachwahl am 9. Dezember 2021 zum Vizepräsidenten der 20. Wahlperiode erreichte Michael Kaufmann als Kandidat der AfD-Fraktion nicht die erforderliche Mehrheit.[13] Stand Dezember 2024 wurden AfD-Kandidaten in 49 Wahlgängen abgelehnt.
7
Thomas Oppermann starb am 25. Oktober 2020 im Amt.[14][15][16] Als Nachfolgerin wurde am 26. November 2020 Dagmar Ziegler gewählt.
↑Art. 39 Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland (GG)
↑Selbstbewusstsein in der Sache. (PDF; 5,4 MB) In: Blickpunkt Bundestag Spezial: Das Präsidium des Deutschen Bundestages. Deutscher Bundestag, Referat Öffentlichkeitsarbeit, 2011, S. 9–11, archiviert vom Original am 18. Juli 2011; abgerufen am 1. Mai 2017.
↑Protokollarische Rangfragen. In: Protokoll Inland der Bundesregierung. Bundesministerium des Innern, abgerufen am 20. Mai 2023.
↑Thomas Wilrich: Der Bundestagspräsident. In: Die Öffentliche Verwaltung (DOEV). Band2002, S.152 (rechtsanwalt-wilrich.de [PDF]).
↑Der Alterspräsident: Ein Konstituierungsreglement und seine Alternativen. Springer-Verlag, 2011, ISBN 978-3-531-94362-6, S.214 (books.google.de [abgerufen am 29. August 2020]).
↑Christian Waldhoff: Verfassungsrecht: Mitwirkungsbefugnisse der Abgeordneten aus Art. 38 I 2 GG. Wahlvorschlagsrechte einzelner Abgeordneter; kein durchsetzbarer Anspruch einer Fraktion auf Vizepräsidentenamt des Bundestags. JuS 2022, 987 (990).