Mauricio Kagel wurde 1931 in Buenos Aires in eine jüdische Familie geboren, die in den 1920er Jahren aus Russland geflohen war. Früh erhielt er privaten Instrumentalunterricht und arbeitete in Buenos Aires als Filmkritiker, Korrepetitor und Dirigent, u. a. am Teatro Colón. Kagel hatte in den 1950er Jahren an den Darmstädter Ferienkursen für Neue Musik teilgenommen. 1957 reiste er mit seiner Frau, der Bildhauerin und Grafikerin Ursula Burghardt (1928–2008), die er im gleichen Jahr geheiratet hatte, mit einem Stipendium des Deutschen Akademischen Austauschdienstes nach Deutschland. Das Paar hatte zwei Töchter.[1][2]
Ab 1960 war er als Dozent bei den Darmstädter Ferienkursen tätig. 1968 kam es in Zusammenarbeit mit Wolf Vostell und anderen zur Gründung des Labor e. V., der akustische und visuelle Ereignisse erforschen sollte. In Köln fand die Veranstaltung 5-Tage-Rennen mit seiner Beteiligung statt. 1969 wurde er zum Direktor des Instituts für Neue Musik an der Rheinischen Musikschule in Köln und, als Nachfolger von Karlheinz Stockhausen, zum Leiter der Kölner Kurse für Neue Musik (bis 1975) ernannt; 1974 erhielt er an der Kölner Musikhochschule eine Professur für Musiktheater.
Kagel war Mitbegründer des Ensembles für Neue Musik in Köln und hat in den elektronischen Studios von Köln, München und Utrecht gearbeitet. Er dirigierte viele seiner Werke selbst und war Regisseur und Produzent aller seiner Filme und Hörspiele. Aus Anlass seines 75. Geburtstages gastierte er – Symbolfigur des deutsch-argentinischen Kulturdialogs – im Juli 2006 im Teatro Colón Buenos Aires, im Goethe-Institut und im Teatro Margarita Xirgu mit Konzerten, öffentlichen Proben und Vorträgen. Zuvor war sein letzter Konzertauftritt in Argentinien in den siebziger Jahren gewesen.[3] Es begann mit seinem Stück Eine Brise, flüchtige Aktion für 111 Radfahrer, die „trillernd, trällernd“ erst am Teatro vorbeizogen. Obwohl er Argentinier blieb, sieht die Musikkritik dort Mauricio Kagel als „deutschen Komponisten“.
Auf Einladung von Walter Fink war er 1991 der zweite Komponist im jährlichen Komponistenporträt des Rheingau Musik Festival. Mauricio Kagel gehört seit Beginn seiner Karriere zu den an meisten aufgeführten Komponisten bei den Weltmusiktagen der Internationalen Gesellschaft für Neue Musik ISCM: 1960 wurden Anagrama, 1964 und 1991 Sonant, 1966 Diaphonie I, 1969 Halleluja, 1972 Repertoire aus Staatstheater, 1974 Variationen ohne Fuge, 1980 Chorbuch, 1982 Fürst Igor, Strawinsky, 1983 Dressur, 1987 Ein Brief aufgeführt. 1983 waltete Kagel auch als Juror der ISCM Weltmusiktage.[4][5]
In der Spielzeit 2006/2007 war Mauricio Kagel „Artist in Residence“ in der Philharmonie Essen und war dort ebenfalls als Dirigent zu erleben. Im selben Jahr war er Composer in Residence an der Hochschule für Musik und Theater Rostock. Bei einem Symposion im Juni 2007 an der Universität Siegen erhielt er die Ehrendoktorwürde in Philosophie. Mauricio Kagel lebte bis zu seinem Tod in Köln.
Kagel gilt als der wichtigste Vertreter des „Instrumentalen Theaters“, einer Art ritualisierten Konzertakts, in den auch die sichtbaren Begleiterscheinungen des Musizierens (Mimik, Gestik, Aktionen) mit einbezogen werden. Ein eindrucksvolles Beispiel seiner Musiktheaterwerke ist das 1971 in der Hamburgischen Staatsoperuraufgeführte Werk Staatstheater,[6] das aufgrund von Drohbriefen unter Polizeischutz aufgeführt werden musste. Kagel selbst entwickelte eigene Instrumente und Spieltechniken, etwa für den Film Zwei-Mann-Orchester oder das Instrumentaltheater Exotica. Die Partituren stellen bisweilen komisch-originell konsequent nicht nur die Erwartungshaltung der Interpreten, sondern auch der Zuhörer auf den Kopf. Auch in Werken für den Konzertsaal spielt Theatralik und sichtbare Musik immer eine große Rolle. So stürzt der Solist im Konzertstück für Pauken und Orchester am Ende kopfüber in sein Instrument. Andere Werke beziehen Alltagsgegenstände (Acustica) und Geräusche mit ein. Die Verwendung von Elektronik und Tonbandzuspiel, aber auch Verweise auf traditionelle Musik, waren für den Kosmos von Kagels Musik selbstverständlich. In seinen filmischen Realisationen sind zum Teil die Erläuterungen im Werk enthalten. Kagels Schaffen ist oft und in vielerlei Hinsicht mit Humor durchsetzt. Dabei ist ihm an einem Durchbrechen der Vierten Wand gelegen.
„Nur Leute, die Humor haben, sind unerbittlich ernst. Aber das hat viele Facetten.“
Mare nostrum. Entdeckung, Befriedung und Konversion des Mittelmeerraums durch einen Stamm aus Amazonien. Szenisches Spiel für Countertenor, Bariton, Flöte, Oboe, Gitarre, Harfe, Violoncello und Schlagzeug (1975)
Kantrimiusik. Pastorale für Stimmen und Instrumente (1975)
Die Erschöpfung der Welt. Szenische Illusion in einem Aufzug (1980)
Aus Deutschland. Eine Liederoper (1981)
Der mündliche Verrat(La Trahison orale). Ein Musikepos über den Teufel für 3 Sprecher/Darsteller und 7 Instrumentalisten (1981–1983. Deutsche Textfassung von Thomas Körner)
Tantz-Schul. Ballet d’action (1988)
Vokalwerke
Fürst Igor – Strawinsky, eine Totenmesse für Igor Strawinsky für Bassstimme und Instrumente (1982)
Sankt-Bach-Passion – für Soli, Chöre und großes Orchester (uraufgeführt 1985)
Mitternachtsstük (1980–1981/86) für Stimmen und Instrumente über vier Fragmente aus dem Tagebuch von Robert Schumann
Ein Brief – Konzertszene für Mezzosopran und Orchester (1986)
Quodlibet – Kantate für Frauenstimme und Orchester nach französischen Chansontexten aus dem XV. Jahrhundert (1986/88)
Liturgien für Soli, Doppelchor und großes Orchester (1989/90)
Verstümmelte Nachrichten – für Bariton und Instrumente (1992)
Duodramen – für Sopran, Bariton und großes Orchester (1997/98)
Schwarzes Madrigal – für Chor, Trompete, Tuba und 2 Schlagzeuger (1998/99)
Burleske für Saxophon und gemischten Chor (1999/2000)
Zwei-Mann-Orchester. Für zwei Ein-Mann-Orchester (1973, Farbe, 71 Min.)
Unter Strom (1975, Farbe, 20 Min.)
Kantrimiusik. Pastorale in Bildern (1976, Farbe, 50 Min.)
Phonophonie. Vier Melodramen (1979, Farbe, 38 Min.)
Blue’s Blue. Eine musikethnologische Rekonstruktion für vier Musiker (1981, s/w, 31 Min.)
MM 51. 1. Fassung: Ein Stück Filmmusik für Klavier (1983, s/w, 10 Min.)
MM 51. 2. Fassung: Ein Stück Filmmusik für Klavier und die Projektion einer Collage von Mauricio Kagel aus F. W. MurnausNosferatu (1922) (1983, s/w, 10 Min.)
Er. Fernsehspiel über eine Radiophantasie (1984, s/w und Farbe, 40 Min., mit Gert Haucke)
Dressur (1985, Farbe, 36 Min.)
Mitternachtsstük (1987, Farbe, 36 Min.)
Repertoire (1990, Farbe, 57 Min.)
Intermezzo
Ex-Position (55 Min.)
Bestiarium (2000, Farbe, 37 Min.)
Schriften
Mauricio Kagel: Worte über Musik. Gespräche, Aufsätze, Reden, Hörspiele. Piper-Schott, München 1991, ISBN 3-492-18320-4; (Serie Musik: Piper, Schott, Band 8320).
Mauricio Kagel: Tamtam. Monologe und Dialoge zur Musik. Artikel, Rundfunkmanuskripte, Vorträge und Gespräch herausgegeben von Felix Schmidt. Piper, München 1975, ISBN 3-492-02126-3.
Werner Klüppelholz: Kagel. Dialoge, Monologe. DuMont, Köln 2001, ISBN 3-7701-5267-0.
Juan María Solare: Die Neugierde ist grenzenlos (ein posthumes Interview mit Mauricio Kagel). In: KunstMusik. Nr. 12, Sommer 2009, ISSN1612-6173, S. 10–39.
Pia Steigerwald: 'An Tasten' Studien zur Klaviermusik von Mauricio Kagel. Wolkeverlagsgesellschaft, Hofheim 2011, ISBN 978-3-936000-75-7.
Eva Lorenz: Die gewandelte Rollenverteilung von Komponist, Interpret und Rezipient in der Neuen Musik. Dargestellt am Beispiel von Dieter Schnebel, Mauricio Kagel und Vinko Globokar. (= Forum Musikwissenschaft, hrsg. von Peter Ackermann, Band 5). Fernwald 2016, ISBN 978-3-929379-42-6
Deborah Kagel: Mit Kind und Kagel. Der Fadenschein muss gewahrt bleiben. Erinnerungen an ein ungewöhnliches Familienleben, Lots of Dots Publications, ISBN 978-3-9822732-0-4. (Im Eigenverlag der Autorin veröffentlichtes Erinnerungsbuch der älteren Tochter von Mauricio Kagel.)
Medien/CD-Aufnahmen
Das Label Winter & Winter, das seit 1998 Werke von Mauricio Kagel herausbringt, veröffentlichte aus Anlass seines 75. Geburtstages eine aus zwei CDs und einer DVD bestehende Edition, auf der Mauricio Kagel seine eigenen Werke neu bearbeitete bzw. remasterte. Diese Neubearbeitungen umfassen die Musikstücke Pandorasbox, Bandoneonpiece, Tango Alemán, Bestiarium, das Hörspiel Ein Aufnahmezustand und den Film Ludwig van.
Weitere Aufnahmen (Auswahl):
Les idees fixes, Musik für Tasteninstrumente und Orchester, Opus 1.991. RSO Saarbrücken, collegno, 2000