Watkin strebte eine Verbindung mit der ebenfalls von ihm kontrollierten Metropolitan Railway und der South Eastern Railway an, die zu einem Tunnel unter dem Ärmelkanal hätte führen sollen. Dadurch wäre im Endausbau ein zusammenhängendes Bahnnetz zwischen den Midlands und Paris entstanden. Diese Pläne zerschlugen sich rasch; doch auch die GCML war zunächst kein Erfolg und die Ertragslage verbesserte sich nur allmählich. Obwohl die GCML vorwiegend für die Bedürfnisse von Langdistanz-Schnellzügen gebaut worden war, entwickelte sich der Güterverkehr (insbesondere Kohlenlieferungen) zur wichtigsten Einnahmequelle.
Der größte Teil der Strecke fiel zwischen 1966 und 1969 der so genannten Beeching-Axt zum Opfer und wurde stillgelegt. Ein kurzer Abschnitt zwischen Leicester und Loughborough wird von einer Museumsbahn befahren.
Die GCML entstand aus geschäftsstrategischen Überlegungen heraus. Im Gegensatz zur Midland Main Line sollte sie nicht zahlreiche große Bevölkerungszentren miteinander verbinden, sondern das in den Midlands gelegene Streckennetz der MS&LR auf direktem Wege, mit möglichst hoher Geschwindigkeit sowie einem Minimum an Zwischenhalten und Anschlüssen mit London verbinden. Aus diesem Grund verlief die Strecke durch relativ dünn besiedelte ländliche Gebiete.
Aufgrund von Meinungsverschiedenheiten mit der Metropolitan Railway über die Mitbenutzung ihrer Gleise am südlichen Ende der GCML baute die GCR im Jahr 1906 die Great Western and Great Central Joint Railway von Grendon Underwood nach Ashendon, sodass das Streckennetz der Metropolitan Railway zum größten Teil vermieden werden konnte. Ferner bestand zwischen Nottingham und Loughborough eine Zweigstrecke für den Güterverkehr nach Gotham.
Nördlich von Sheffield nutzten Schnellzüge der GCR die bestehende Hauptlinie der Manchester, Sheffield and Lincolnshire Railway(MS&LR) durch die Pennines, die Woodhead Line (heute ebenfalls stillgelegt), um Zugang nach Manchester London Road (heute Manchester Piccadilly) zu erlangen.
Geschichte
Gründe für den Bau
1864 übernahm Edward Watkin den Vorsitz der Manchester, Sheffield and Lincolnshire Railway (MS&LR). Er verfolgte große Pläne und wollte dieses mittelständische Unternehmen zu einer Bahngesellschaft von nationaler Bedeutung ausbauen. Watkin wollte nicht länger hinnehmen, dass die MS&LR den lukrativen Fernverkehr nach London der Konkurrenz überlassen musste. Nach mehreren erfolglosen Versuchen in den 1870er-Jahren, zusammen mit anderen Gesellschaften eine Strecke nach London zu bauen, kam er zum Schluss, dass die MS&LR dies alleine tun müsse. Der Bau der GCML sollte es Watkins Unternehmen erlauben, eigene direkte Schnellzüge nach London anzubieten, unabhängig von und in Konkurrenz zu rivalisierenden Gesellschaften.[1] Damals beurteilten viele das Projekt skeptisch, da alle bedeutenden Ballungsräume entlang der Strecke bereits von anderen Bahngesellschaften erschlossen wurden. Watkin argumentierte, dass das Verkehrswachstum den Bau der Strecke rechtfertigen würde.[2]
Watkin wollte nicht einfach nur eine unabhängige Hauptbahn nach London betreiben. Er strebte sogar danach, das von ihm kontrollierte Streckennetz mit Frankreich zu verbinden. Zu diesem Zweck hatte er 1872 die Submarine Railway Company gegründet, die einen Tunnel unter dem Ärmelkanal bauen wollte und ab 1881 Probebohrungen in Dover und Sangatte durchführte. Das Vorhaben musste im Mai aufgrund großen politischen Drucks aufgegeben werden. Insbesondere General Garnet Wolseley sah in dem Tunnel eine mögliche Invasionsroute für französische Truppen und betrachtete ihn somit als Gefährdung der nationalen Sicherheit.[3] Obwohl von vielen Autoren immer wieder behauptet, wurde die GCML nicht im Lichtraumprofil des europäischen Festlandes erbaut, sondern im üblichen Lichtraumprofil der GCR, welches teilweise sogar noch etwas kleiner als das übliche in Großbritannien ist.[4][5][6][7] Keinesfalls stimmt die Fahrzeugbegrenzungslinie der GCR mit den anderen europäischen Eisenbahnen überein, deren einheitliche Fahrzeugbegrenzungslinie im Berner Abkommen erst 1912 festgelegt wurde.
Bauarbeiten
Am 28. März 1893 erhielt die MS&LR die Genehmigung des britischen Parlaments zum Bau der Strecke. Das dazu notwendige Gesetz kam beinahe nicht zustande, aufgrund der Opposition des Marylebone Cricket Club in London. Schließlich einigte man sich darauf, dessen Gelände in einem Tunnel zu unterqueren.[2] Im November 1894 begannen die Bauarbeiten. Die Strecke wurde am 15. März 1899 für den Personenverkehr eröffnet, am 11. April 1899 auch für den Güterverkehr. Kurz vor der Eröffnung änderte die MS&LR ihren Namen in das pompöser klingende Great Central Railway, um ihre nationalen Ambitionen zu unterstreichen.[8]
Außer der Strecke selbst entstanden drei große Stadtbahnhöfe (Nottingham Victoria, Leicester Central und Marylebone) sowie mehrere kleinere Bahnhöfe. Notwendig war der Bau zahlreicher Viadukte, darunter der Brackley-Viadukt mit 21 Bögen, einer über dem River Soar, zwei über dem Swithland-Reservoir in Leicestershire und einer über den River Trent nahe Nottingham. Mehrere Tunnel mussten gegraben werden, der längste von ihnen war der Catesby-Tunnel mit 2722 Metern. Ein großer Teil der Strecke war auf Dämmen oder in Einschnitten verlegt worden. Die Baukosten waren ursprünglich auf 3,1 Millionen Pfund veranschlagt worden, betrugen aber am Ende 11,5 Millionen, also fast das Vierfache.[9]
Die Strecke hatte einen hohen Ausbaustandard: maximale Neigung von 5,7 ‰, minimaler Radius von einer Meile (außer in innenstädtischen Gebieten), nur ein einziger höhengleicher Bahnübergang. Die Bahnhöfe wurden nach einem einheitlichen Schema errichtet und besaßen fast alle einen Inselbahnsteig zwischen beiden Gleisen.
Verkehr auf der GCML
Hauptkonkurrentin der GCR war die Midland Railway, die seit den 1860er-Jahren den Korridor zwischen London, den East Midlands und Sheffield mit der Midland Main Line erschloss. Die Verkehrsströme änderten sich nur langsam, besonders beim Personenverkehr. Fahrgäste von den etablierten Linien nach London wegzulocken erwies sich als schwieriger, als die GCR gehofft hatte. Allerdings hatte sie gewissen Erfolg damit, Geschäftsreisende mit luxuriös ausgestatteten Hochgeschwindigkeitszügen anzusprechen. Die GCR bot auch Ost-West-Querverbindungen an und profitierte dabei von Anschlüssen an querende Strecken.[10]
In den 1930er-Jahren, der Blütezeit der Langdistanz-Dampfzüge, gab es täglich sechs Expresszüge zwischen Marylebone und Sheffield (mit Halt in Leicester und Nottingham), die anschließend nach Manchester weiterfuhren. 1939 betrug die kürzeste Fahrtzeit London–Sheffield 3 Stunden 6 Minuten, womit die GCR mit den Zügen der rivalisierenden Midland (von St Pancras aus) konkurrenzfähig war.[11]
Der Güterverkehr wuchs beständig und entwickelte sich zur Haupteinnahmequelle der Strecke. Befördert wurden vor allem Kohle, Eisenerz, Stahl, Fisch und Früchte. Die Verbindung mit der Stratford-upon-Avon and Midland Junction Railway bei Woodford Halse erwies sich für den Güterverkehr als strategisch bedeutend. Ein weiterer Schwerpunkt des Güterverkehrs war Annesley.[12]
Niedergang und Stilllegung
Der Erste Weltkrieg und das daraufhin folgende angespannte politische Klima in Europa machten jegliche Möglichkeit zum Bau eines Ärmelkanaltunnels zunichte. Zaghafte Versuche, Watkins Vision wiederzubeleben, fanden in den 1920er-Jahren ein rasches Ende. Mit dem Inkrafttreten des Railways Act 1921 im Jahr 1923 ging die GCR in der London and North Eastern Railway auf, die ihrerseits 1948 verstaatlicht wurde. Die GCML blühte in den ersten Jahren nach der Verstaatlichung. Doch ab den späten 1950er-Jahren begann der Güterverkehr, auf den sich die Strecke hauptsächlich stützte, abzunehmen und der Unterhalt wurde zunehmend vernachlässigt, da andere Strecken als wichtiger eingestuft wurden.
Im Januar 1960 stellte British Rail den Schnellzugverkehr von London nach Sheffield und Manchester ein, womit nur noch drei Eilzüge täglich zwischen London und Nottingham übrigblieben. Im Mai 1963 wurde der Regionalverkehr auf großen Teilen der Strecke eingestellt und zahlreiche ländliche Bahnhöfe geschlossen. Es bestand aber noch die Hoffnung, dass die Strecke durch vermehrten Post- und Güterverkehr aufgewertet werden könnte.[13]
Im Rahmen seiner Untersuchungen zur Rationalisierung der britischen Eisenbahnen hielt Richard Beeching die GCML für eine weitgehend überflüssige Alternative zu anderen Strecken, die dieselben Städte erschlossen, insbesondere die Midland Main Line und zu einem geringeren Grad die West Coast Main Line. Die Streckenabschnitte zwischen Rugby und Aylesbury sowie zwischen Nottingham und Sheffield wurden 1966 stillgelegt. Somit verblieb nur noch ein nicht verbundener Rest zwischen Rugby und Nottingham, mit einem minimalen Pendelzugangebot. Dieser Abschnitt fiel im Mai 1969 ebenfalls der so genannten Beeching-Axt zum Opfer.
Eine im Jahr 1991 gegründete Bahngesellschaft namens Central Railway schlug vor, die GCML nach der Inbetriebnahme des Eurotunnels für den Güterverkehr wiederzueröffnen. Dieser Vorschlag hatte mit finanziellen, ökologischen und sozialen Schwierigkeiten zu kämpfen und wurde vom Parlament zweimal zurückgewiesen.
Erhaltene Infrastruktur
Das Gleisbett des 1966 stillgelegten, 64 km langen Abschnitts zwischen Calvert und Rugby ist bis heute intakt, mit Ausnahme fehlender Viadukte bei Brackley und Willoughby. Gelegentlich gibt es Vorschläge, diesen Abschnitt in der einen oder anderen Form wiederzueröffnen.[14]
Regelmäßigen Personenverkehr gibt es heute nur auf dem Abschnitt zwischen Marylebone und Aylesbury, der einst von der Metropolitan and Great Central Joint Railway, einem Gemeinschaftsunternehmen mit der Metropolitan Railway, betrieben worden war. Auf der eigentlichen GCML hingegen verkehren keine Personenzüge mehr. Am 14. Dezember 2008 wurde ein kurzer Abschnitt zwischen Aylesbury und der neu errichteten Endstation Aylesbury Vale Parkway in Betrieb genommen.[15] Die britische Regierung stellte im November 2011 Geldmittel zur Verfügung, um die Abschnitte zwischen Bicester und Bletchley sowie zwischen Aylesbury Vale Parkway und Claydon Junction als Teil des Projekts East West Rail Link wiederzueröffnen. Dadurch wäre es möglich, Personenzüge von Reading über Oxford nach Milton Keynes sowie von London-Marylebone über Aylesbury nach Milton Keynes verkehren zu lassen.[16]
Gegenwärtig wird dieser Streckenabschnitt von Güterzügen befahren, die Hausmüll und Aushub zu einer Deponie unmittelbar südlich des Bahnhofs Calvert transportieren. Täglich kommen dort fünf Containerzüge an; vier aus Brentford und einer aus Bath und Bristol. Die Container werden auf dort wartende LKWs umgeladen, die das Material zur Deponie bringen.[17] Die im Jahr 1977 eröffnete Deponie ist eine der größten des Landes und erstreckt sich über eine Fläche von 106 Hektar auf dem Gelände einer ehemaligen Tongrube, die bis 1991 von den Calvert-Ziegelwerken genutzt wurde.[18]
1969 erklärte sich eine Gruppe von Enthusiasten bereit, freiwillig einen Teil der GCML zu erhalten. Sie übernahm den Streckenabschnitt zwischen Loughborough und den nördlichen Stadtteilen von Leicester. Seit 1976 betreibt sie dort eine Museumsbahn, die Great Central Steam Railway. Zusätzlich befährt die Great Central Railway (Nottingham) einen instandgesetzten, eingleisigen Abschnitt bei Ruddington gelegentlich mit Nostalgiezügen, unter der Schirmherrschaft des Nottingham Transport Heritage Centre. Es bestehen Pläne, diesen Abschnitt mit der anderen Museumsbahn bei Loughborough zu verbinden.[19]
Planungen
Im März 2010 kündigte die Regierung Pläne für den Bau einer Schnellfahrstrecke namens High Speed 2 zwischen London und Birmingham an, die etwa 19 km der GCML-Strecke wiederverwenden würde. Die vorgeschlagene Route würde parallel zum Korridor der bestehenden Bahnstrecke London–Aylesbury verlaufen und anschließend dem GCML-Abschnitt zwischen Quainton Road und Calvert entlangführen. Von dort aus würde sie ungefähr dem nicht mehr genutzten, aber noch immer existierenden Gleisbett der GCML bis Mixbury folgen, wo sie auf eine gänzlich neue Trasse in Richtung Birmingham einschwenken würde. Kelvin Hopkins, ein Unterhausabgeordneter der Labour Party, schlug im Jahr 2013 vor, die GCML auf ihrer ganzen Länge wiederzueröffnen; verglichen mit High Speed 2 sei diese Variante bedeutend kostengünstiger.[20]
Literatur
George Dow: Great Central. 2: Domination of Watkin, 1864–1899. Ian Allan Publishing, Shepperton 1962, OCLC655514941.
John Healy: Echoes of the Great Central. Greenwich Editions, London 1987, ISBN 0-86288-076-9.
↑Christian Wolmar: The Subterranean Railway: How the London Underground was built and how it changed the city forever. Atlantic Books, London 2004, ISBN 1-84354-023-1, S.94–95.
↑David Brandon, Alan Brooke: Shadows in the steam: The haunted railways of Britain. History Press, Stroud 2010, ISBN 978-0-7524-6230-1, S.49–50.
↑Anthony West: A gauge of opinion. Hrsg.: Great Central Railway Society. Band108, September 1996, S.8–12 (englisch).
↑Grahame Boyes: The origins of a modern myth: the loading gauge of the GCR London Extension. Hrsg.: Railway and Canal Historical Society. Band35, Nr.10, Dezember 2007, S.780–782 (englisch).
↑Alexander Ross: Clearance Diagram. Zeichnung im Maßstab 1:24. In: Type Drawings. Nr.27. Manchester, Sheffield & Lincolnshire Railway, November 1895 (englisch, swithland-signal-works.co.uk [abgerufen am 10. Februar 2022]).