Dieser Artikel behandelt die Bahnstrecke Tübingen–Herrenberg. Für die Bahnstrecke Murnau–Oberammergau, die ebenfalls Ammertalbahn genannt wird, siehe Bahnstrecke Murnau–Oberammergau.
Die Königlich Württembergischen Staats-Eisenbahnen nahmen die Strecke 1909 und 1910 in Betrieb. 1966 stellte die Deutsche Bundesbahn den Personenverkehr zwischen Entringen und Herrenberg ein. Der Abschnitt Gültstein–Herrenberg wurde in den 1960er und 1970er Jahren außer Betrieb genommen und abgebaut. Seit 1999 ist die Strecke in voller Länge im Schienenpersonennahverkehr reaktiviert. Von 2019 bis 2022 wurde die Strecke elektrifiziert und teilweise zweigleisig ausgebaut.
Am 12. August 1909 eröffneten die Königlich Württembergischen Staats-Eisenbahnen den Streckenabschnitt Herrenberg–Pfäffingen, wodurch der Bahnhof Herrenberg zum Verzweigungsbahnhof wurde. Der Abschnitt Pfäffingen–Tübingen folgte erst am 1. Mai 1910, unter anderem weil der Bau des Schlossbergtunnels noch nicht abgeschlossen war. Man hatte außerdem dem sumpfigen Untergrund im Ammertal zu wenig Beachtung geschenkt. 13 Meter lange Eichenstämme mussten in den Boden getrieben werden, um das Gleis zu stabilisieren. Nicht zuletzt hatte sich eine Bürgerinitiative gegen das von Tübingens Oberbürgermeister Hermann Haußer befürwortete Bahnprojekt gewandt. Gelehrte und Künstler sahen ihre beliebten Spazierwege entlang von Alleen durch das Bahngleis gefährdet. Der Zwist wurde unter dem Namen „Tübinger Alleenstreit“ bekannt. Im Umfeld dieser Auseinandersetzung wurde 1909 der Schwäbische Heimatbund gegründet. Er hatte damals zum Ziel, dass die Industrialisierung nicht mehr des Alten zerstört, als wirklich notwendig.[3]
Einstellung des Verkehrs ab 1966
Am 25. September 1966 stellte die Deutsche Bundesbahn den Personenverkehr im Abschnitt Entringen–Herrenberg ein. Der vier Kilometer lange Abschnitt Gültstein–Herrenberg wurde damals auch im Güterverkehr[4] aufgegeben und schließlich 1973 abgebaut. Der Abschnitt Entringen–Gültstein wurde bis zum 31. Januar 1998 nur noch im Güterverkehr betrieben. Der Abschnitt wurde jedoch juristisch nie stillgelegt, das heißt, er wurde nicht entwidmet, sondern war fortan lediglich außer Betrieb.[5] 1989 beantragte die Deutsche Bundesbahn die Stilllegung.[4]
Ein viel beachteter Sonderzug fuhr am 11. März 1972 vom Tübinger Hauptbahnhof durch den Schlossbergtunnel bis zum Bahnhof Tübingen West. Es war der Schnellzug 2444/24415 samt Salon- und Speisewagen für Bundeskanzler Willy Brandt, der bei einer Wahlkampfveranstaltung in der Tübinger Hermann-Hepper-Halle eine Rede halten wollte.[3]
Zwischen 1996 und 1999 wurde für rund 18 Millionen Euro die Strecke ausgebaut: Dabei wurde das 4 Kilometer lange Teilstück zwischen Gültstein und Herrenberg wieder aufgebaut, der Gleiskörper ertüchtigt, die Streckengeschwindigkeit von 60 km/h auf 100 km/h angehoben und fast alle Bahnübergänge mit Schranken oder Lichtsignalanlagen ausgerüstet. Die zweigleisigen Kreuzungsbahnhöfe Tübingen West, Pfäffingen und Entringen wurden mit Rückfallweichen ausgestattet. Der HaltepunktUnterjesingen Sandäcker wurde zur Erschließung des gleichnamigen Wohngebiets neu eingerichtet. Zur Unterscheidung wurde der Haltepunkt Unterjesingen in Unterjesingen Mitte umbenannt. In Herrenberg wurde der Bedarfshalt Zwerchweg zur Erschließung eines Schulzentrums eingerichtet. Alle Stationen wurden mit 110 Meter langen Bahnsteigen mit einer Bahnsteighöhe von 55 cm, neuen Wartehäuschen[5] sowie Fahrkartenautomaten ausgestattet.
Die Strecke wurde für den Signalisierten Zugleitbetrieb eingerichtet, der Zugleiter befand sich im Stellwerk Tübingen. Am 31. Juli 1999 wurde die Strecke wiedereröffnet[4] und am 1. August 1999 im Personenverkehr auf voller Länge reaktiviert.[5] Güterverkehr findet seither nicht mehr statt.
Fahrgastzuwachs und weiterer Ausbau
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Vor der Reaktivierung wurde im gesamten öffentlichen Nahverkehr inklusive Bussen mit 11.000 Fahrgästen pro Tag gerechnet.[7] Die Anzahl der durchschnittlich pro Tag beförderten Personen auf der Bahnstrecke stieg von 5.150 Ende 1999 bis 2009 von Jahr zu Jahr stetig um insgesamt 53 % auf 7.890 und weiter um 9 % auf 8.588 im Jahr 2019. Im Jahr 2020 waren die Fahrgastzahlen mit 3.978 – größtenteils aufgrund der COVID-19-Pandemie – im Vergleich zum Vorjahr um 54 % niedriger.[8]
Aufgrund des Fahrgastzuwachses wurde 2015 die Strecke auf Zugmeldebetrieb, mit einem elektronischen Stellwerk Regional (ESTW-R) der Firma Stadler Signalling (ehemals BBR Verkehrstechnik), umgestellt. Dazu wurden die Rückfallweichen in elektrisch fernbediente Weichen umgebaut, wodurch die Züge mit einer höheren Geschwindigkeit in die Bahnhöfe einfahren können. Die Bahnhöfe wurden mit Ks-Signalen ausgerüstet.[9] Für das Schulzentrum in Entringen wurde eine Unterführung und ein weiterer Außenbahnsteig gebaut, um ab 2018 den Schülerverkehr besser bewältigen zu können.
Im Bahnhof Pfäffingen wurde 2021 eine Batteriezug-Schnellladestation zu Erprobungszwecken aufgebaut und zwischen dem 11. und 14. Oktober 2021 getestet.[10] Am 12. Oktober 2021 wurde erstmals ein batterieelektrischer Triebzug geladen.
Bahnhof Altingen
Bahnhof Herrenberg: Das Stumpfgleis der Ammertalbahn links teilweise durch das Empfangsgebäude verdeckt
Bei Unterjesingen
Westrand von Tübingen, Schwärzlocher Täle
Bahnhof Pfäffingen, links Ladestation am Gleis zur Laderampe
Zweigleisiger Ausbau und Elektrifizierung
Die Ammertalbahn spielt eine wichtige Rolle in der geplanten Regionalstadtbahn Neckar-Alb nach dem Karlsruher Modell. Die Umsetzung soll in mehreren Abschnitten erfolgen, wobei der teilweise zweigleisige Ausbau und die Elektrifizierung der Strecke einer der ersten Schritte sein wird.
Im März 2016 begann das Planfeststellungsverfahren für die Elektrifizierung der Strecke mit zwei Ausbauabschnitten und am 16. Mai 2017 wurde der Planfeststellungsbeschluss erlassen.[11][12] In Unterjesingen erfolgte ein zweigleisiger Ausbau südlich der bestehenden Strecke. Dieser 1,4 Kilometer lange Ausbauabschnitt beginnt hinter den Ammerbrücken und endet kurz vor dem Haltepunkt Unterjesingen Mitte. Am Haltepunkt Unterjesingen Sandäcker wurde am neuen Gleis ein zweiter, 110 Meter langer Außenbahnsteig gebaut. In Entringen wurde ein neuer Außenbahnsteig gebaut, weiter nördlich als der frühere Hausbahnsteig am Bahnhofsgebäude, dafür wurde der Mittelbahnsteig abgebaut.
Ein weiterer zweigleisiger Ausbau erfolgte über 2,6 Kilometer zwischen dem westlichen Bahnsteigende in Entringen bis nach dem Bahnübergang Hardtwald, das zweite Gleis ist ebenfalls auf der Südseite der bestehenden Strecke angeordnet. Die Hardtwaldbrücke war nicht mehr an das öffentliche Straßennetz angebunden und wurde ersatzlos abgerissen.
Die geschätzten Kosten für den zweigleisigen Ausbau der beiden Teilabschnitte (insgesamt 4 km), die Elektrifizierung der gesamten Strecke (einschließlich des Schlossbergtunnels) sowie einen neuen Mittelbahnsteig belaufen sich nach Angaben von 2012 (zum Preisstand von 2006) auf 27,8 Millionen Euro.[13] Im Bereich des Hardtwalds machte der sumpfige Untergrund Probleme, sodass auch das bestehende Gleis neu gegründet werden musste.[14] Für die Bauarbeiten wurde in Altingen temporär zusätzlich der Wiederaufbau des ehemaligen Gleises 3 als Baugleis notwendig.[15] Dieses soll als Ausweichgleis ohne Bahnsteig dauerhaft in Betrieb genommen werden und der Haltepunkt damit wieder zum Bahnhof werden.[16][17][18]
Aufgrund von Verzögerungen bei der Lieferung einzelner Teile des Elektronischen Stellwerks[19] verzögerte sich die Fertigstellung des Abschnitts zwischen Entringen und Herrenberg vom 12. September bis zum Fahrplanwechsel am 10. Dezember 2022.[20]
Ausblick
Ein im März 2023 durch das Land Baden-Württemberg vorgelegtes Konzept zur Entwicklung des Eisenbahnknotens Stuttgart bis 2040 sieht vor, Züge der Ammertalbahn über die Panoramabahn bis nach Marbach zu führen.[21]
Fahrzeugeinsatz und Verkehr
Bevor die Stadt Stuttgart ein Kanalisationssystem erhielt, wurden die Fäkalien mittels Kesselwagen nach Pfäffingen transportiert, um sie dort an die Bauern entlang der Strecke als Dünger zu verteilen. Der Ertrag wurde nach Stuttgart transportiert.[3] Bis in die 1970er Jahre verkehrten dampfbetriebene Zuckerrübenzüge zur Erntezeit, dafür wurde in Gültstein eine Laderampe benutzt.
Nach einer 1996 gewonnenen Ausschreibung fuhren ab dem 1. August 1999[5]Regio-Shuttles[22] der Baureihen 650.0, 650.1 und 650.3 der DB ZugBus Regionalverkehr Alb-Bodensee mit einer Fahrzeit von 24 Minuten.[3] Grundtakt von Montag bis Freitag ist der Halbstundentakt und am Wochenende der Stundentakt (mit Verdichtung am Samstag von 8:00 bis 18:00 Uhr auf einen Halbstundentakt). Der Bahnhof Entringen ist Systemkreuzungsbahnhof. An Schultagen wird dieses Angebot durch sechs zusätzliche Züge je Richtung zwischen Entringen und Tübingen verstärkt. Einzelne Fahrten wurden an Schultagen durch die Hohenzollerische Landesbahn als Subunternehmer durchgeführt.
Zum Fahrplanwechsel im Dezember 2022[23] wurde der elektrische Betrieb im 30-Minuten-Takt von Herrenberg über Tübingen nach Bad Urach aufgenommen. Montags bis freitags während der Hauptverkehrszeiten verkehren die Züge zwischen Tübingen und Entringen im 15-Minuten-Takt. Die Ausschreibung dieser Leistungen durch das Land Baden-Württemberg erfolgte 2019. Den Zuschlag für diese Leistungen erhielt im Januar 2022 DB Regio. Der Verkehrsvertrag soll bis maximal Dezember 2035 laufen und kann ab Dezember 2030 gekündigt werden. Im Dezember 2022 wurden die Regio-Shuttles durch Alstom Coradia Continental ersetzt, die bis Dezember 2022 im E-Netz Augsburg im Einsatz waren. Diese wurden im Laufe des Jahres 2023 modernisiert, mit WLAN und Haltewunschtasten ausgestattet und im bwegt-Design neu lackiert.[24][25]
Ab Juni 2024 sollen die Züge der Linie RB 63 nur noch bis Tübingen anstatt bis Reutlingen fahren.[26]
Im Bahnhof Herrenberg fahren die Züge ausschließlich vom Gleis 102 ab, in Tübingen von den Gleisen 1, 2 oder 13.[5] Seit Dezember 2019 wird die auf der Ammertalbahn verkehrende Linie als RB 63 bezeichnet. Zuvor bezeichnete der Verkehrs- und Tarifverbund Stuttgart (VVS) sie als Linie R 73, wobei dessen Tarif nur zwischen Gültstein und Herrenberg gilt. Die restliche Strecke ist hingegen seit 2001[4] in den Verkehrsverbund Neckar-Alb-Donau (naldo) integriert.
Literatur
Die direkte Eisenbahn von Stuttgart über Böblingen einerseits nach Tübingen, andererseits über Herrenberg und Eutingen (Horb) nach Freudenstadt. Eine Denkschrift. hrsg. im Auftr. d. Eisenbahn-Versammlung zu Stuttgart am 27. Dezember 1869 [in der Liederhalle]. Hochdanz, Stuttgart 1870.
Denkschrift über eine Eisenbahn-Verbindung von Tübingen durch das Ammerthal nach Herrenberg oder von Tübingen durch den Schönbuch nach Böblingen. Müller, Stuttgart 1891.
Gerhard Heimerl: Nutzen-Kosten-Untersuchung einer durchgehenden Schienenverbindung Tübingen-Herrenberg (Ammertalbahn). Verkehrswissenschaftliches Institut der Universität Stuttgart, 1991.
Wolfgang Sannwald (Hrsg.): angeLOKt. 100 Jahre Ammertalbahn im Landkreis Tübingen. Verlag Schwäbisches Tagblatt, Tübingen 2009, ISBN 978-3-928011-64-8.
Peter-Michael Mihailescu, Matthias Michalke: Vergessene Bahnen in Baden-Württemberg. Konrad Theiss Verlag, Stuttgart 1985, ISBN 3-8062-0413-6, S.197–200.
↑ abcdefg
Programm der Ammertalbahn zur Herstellung von Barrierefreiheit. Zweckverband ÖPNV im Ammertal, Tübingen Oktober 2009, S.5 (ammertalbahn.de [PDF; abgerufen am 7. September 2022]).
↑Ulrich Hanselmann: Ein Fest zum 100-Jährigen. In: Stuttgarter Nachrichten. 8. Juli 2009, abgerufen am 7. September 2022.
↑Nachfrageentwicklung 2020. Drucksache zur Verbandsversammlung am 5. März 2021. Nr.03/2021. Tübingen 16. Februar 2021 (ammertalbahn.de [PDF; abgerufen am 7. September 2022]).
↑Lutz Gutfreund, Frank von Meissner: Anforderungen und Lösungen für den regionalen SPNV am Beispiel der Ammertalbahn. In: SIGNAL+DRAHT. Band108, Nr.7+8. Eurailpress, 2016, ISSN0037-4997, S.2–9 (von-meissner.de [PDF]).
↑Weitere Vergaben. Drucksache zur Verbandsversammlung am 12. Juli 2019. Nr.09/2019. Tübingen 19. Juni 2019 (ammertalbahn.de [PDF; abgerufen am 18. September 2022]).
↑Planfeststellungsbeschluss zur 1. Planänderung des Planfeststellungsbeschlusses vom 16.05.2017 zur Umsetzung der Regionalstadtbahn Neckar-Alb im Modul 1, in den Planfeststellungsabschnitten 3 und 4, Ammertalbahn – Baugleis Bahnhof Altingen. Az.: 24-6 /0513.2-22. Regierungspräsidium Tübingen, 31. März 2020 (baden-wuerttemberg.de [PDF; 616kB; abgerufen am 16. Mai 2022]).
↑Stefan Tritschler, Moritz Biechele, Patrick Wernhardt, Marten Maier, Kilian Saenger: Infrastrukturdimensionierung im Bahnknoten Stuttgart 2040. (PDF) In: vm.baden-wuerttemberg.de. Verkehrswissenschaftliches Institut, SMA, 15. März 2023, S. 26, abgerufen am 7. April 2023.
↑
Programm der Ammertalbahn zur Herstellung von Barrierefreiheit. Zweckverband ÖPNV im Ammertal, Tübingen Oktober 2009, S.17 (ammertalbahn.de [PDF; abgerufen am 7. September 2022]).