Mit seiner 1874 in lateinischer Sprache vorgelegten Lizentiaten-Dissertation über die Verehrung JHWHs und Molochs hatte Baudissin sein Thema gefunden: die israelitisch-jüdische und semitische Religionsgeschichte. Seine gründliche semitistische Ausbildung ermöglichte es ihm, Texte in allen semitischen Sprachen im Original zu lesen (akkadische in Umschrift); wortgeschichtliche Untersuchungen geben Baudissins Arbeiten ihr besonderes Gepräge.[3]
In der Text- und Literarkritik des Alten Testaments gehörte Baudissin nach Einschätzung von Rudolf Smend zu den konservativen Theologen, welche die Einsichten von Julius Wellhausen „über kurz oder lang übernahmen.“[4]Otto Eißfeldt verweist darauf, dass Baudissin exegetische Fragen stets als Mittel für die religionsgeschichtliche Forschung nutzte. Obwohl er als Professor für Altes Testament Vorlesungen über biblische Bücher zu halten hatte, publizierte er nicht darüber. Eine Sonderstellung hat Baudissins Einleitung in die Bücher des Alten Testaments (1901), die allerdings wenig rezipiert wurde. Baudissin zeigte darin eine „Aufgeschlossenheit für die Graf-Wellhausen’sche Pentateuch-Hypothese“, kam aber im Einzelnen zu anderen Ergebnissen. So fand er im Pentateuch und in den Psalmen relativ viel vorexilisches Gut.[5] Baudissin hatte in Die Geschichte des alttestamentlichen Priestertums 1889 die These vertreten, der Priesterkodex sei nicht exilisch oder nachexilisch, wie die Wellhausen-Schule dies annahm, sondern spätvorexilisch. Doch davon rückte er immer mehr ab, um sich der von ihm ursprünglich abgelehnten Ansicht Wellhausens anzunähern. Baudissin hielt nur daran fest, dass im Priesterkodex älteres Gut enthalten sei. Seine abschließende Meinung zum Thema legte er in Die alttestamentliche Wissenschaft und die Religionsgeschichte 1912 dar: Es könne „nicht mehr in Abrede gestellt werden, daß das große Kultgesetz erst von der Zeit Esra’s an das Gesetzbuch war, das für den Umfang der ganzen jüdischen Nationalität, die erst von da an existierende jüdische Gesamtgemeinde, bindende Autorität besaß.“[6]
Bernd Goldmann: Baudissin, Wolfgang (Wolf) Wilhelm Friedrich Graf von. In: Schleswig-Holsteinisches Biographisches Lexikon. Bd. 4. Karl Wachholtz Verlag, Neumünster 1976, S. 32f.
Otto Eißfeldt, Karl Heinrich Rengstorf (Hrsg.): Briefwechsel zwischen Franz Delitzsch und Wolf Wilhelm Graf Baudissin: 1866–1890, Springer-Verlag, 2013
↑Otto Eißfeldt: Vom Lebenswerk eines Religionshistorikers, 1926, S. 91.
↑Rudolf Smend: Kritiker und Exegeten. Porträtskizzen zu vier Jahrhunderten alttestamentlicher Wissenschaft. Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen 2017, S. 351.
↑Otto Eißfeldt: Vom Lebenswerk eines Religionshistorikers, 1926, S. 95.
↑Hier zitiert nach: Otto Eißfeldt: Vom Lebenswerk eines Religionshistorikers, 1926, S. 98.