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In den Tokioter Prozessen (japanisch東京裁判, Tōkyō Saiban, offiziell: Internationaler Militärgerichtshof für den Fernen Osten (極東国際軍事裁判, Kyokutō Kokusai Gunji Saiban)) wurden nach dem Zweiten Weltkrieg durch die Siegermächte einige der politischen und militärischen Führer des japanischen Kaiserreiches wegen Führens eines Angriffskrieges und wegen Kriegsverbrechen angeklagt und verurteilt.
Am Ende des Zweiten Weltkriegs hatte Japan kapituliert. Der Supreme Commander for the Allied PowersDouglas MacArthur hatte die Aufgabe ein Gericht einzurichten.[1] In den Nürnberger Prozessen war das Gericht auf einer Charta errichtet worden, die die vier Alliierten vereinbart hatten. An dieser Charta orientierte sich MacArthur, als er am 19. Januar 1946 im Rahmen seiner Amtsgewalt die Tokio Charta in Kraft setzte. Im Gegensatz zur Nürnberger Charta war die Grundlage des Gerichtshofes keine internationale Vereinbarung, sondern eine militärische Anordnung.[2] Dieser Umstand wird als Indikator für den Einfluss der Vereinigten Staaten im Prozess gesehen,[3] aber auch als Grund, warum der Prozess im Gegensatz zu dem in Nürnberg weniger Aufmerksamkeit bekam.[2]
Durchführung
Neben militärischen Befehlshabern standen Politiker, Diplomaten und hohe Staatsbeamte vor Gericht.[4] Der politische Philosoph und Propagandist Ōkawa Shūmei stellte hierbei eine Ausnahme dar.[5] Der Oberbefehlshaber der Streitkräfte Japans, KaiserHirohito, wurde nicht angeklagt und auch nicht als Zeuge vorgeladen.[6] Dieses und das Verhalten General Douglas MacArthurs und des Brigadier General Bonner Fellers, die sich nach dem Krieg bemühten, Kaiser Hirohito und die kaiserliche Familie vor Strafverfolgung zu schützen, wird unter anderem von den Historikern John Dower und Herbert Bix kritisiert. Die Verantwortlichkeiten der kaiserlichen Familie seien heruntergespielt und Tōjō Hideki – der zuletzt Japans Premierminister war – als Hauptschuldiger dargestellt worden.[7] MacArthur und Fellers hatten maßgeblichen Einfluss auf die Nachkriegsordnung Japans und auf die amerikanische Entscheidung, Kaiser Hirohito auf dem Thron zu belassen.[8]
Die Anklage wurde am 29. April 1946 erhoben. Die Verhandlungen begannen am 3. Mai 1946, die Urteilsverkündung erfolgte am 12. November 1948. Alle wesentlichen Originalunterlagen, Dokumente und Fotos sind abrufbar z. B. in der umfangreichen IMTFE – Digitalsammlung (The International Military Tribunal For The Far East) der University of Virginia Law Library.[9] oder im National World War II Museum, New Orleans.[10]
Weitere Mitarbeiter des Anklägerteams: Solis Horowitz, Willis E. Mahoney
Anklagepunkte
Verschwörung gegen den Weltfrieden (Klagegründe 1 bis 36). Rechtsgrundlage war hier u. a. der Briand-Kellogg-Pakt, der Angriffskriege ächtete. Japan war diesem völkerrechtlich verbindlichen Vertrag beigetreten.
Mord an Kriegsgefangenen, Zivilisten und Militärangehörigen (Klagegründe 37 bis 52)
[Beteiligung] als Führer, Organisatoren, Anstifter oder Komplizen an der Planung oder Ausführung eines gemeinsamen Plans oder einer Verschwörung zum Führen von Angriffskriegen und eines Kriegs oder Kriegen, die internationales Recht verletzten
27
Führen eines unprovozierten Krieges gegen China
29
Führen eines Angriffskrieges gegen die Vereinigten Staaten
31
Führen eines Angriffskrieges gegen das Britische Commonwealth
32
Führen eines Angriffskrieges gegen die Niederlande
33
Führen eines Angriffskrieges gegen Frankreich (Indochina)
35, 36
Führen eines Angriffskrieges gegen die UdSSR
54
Anordnung, Autorisierung und Erlaubnis zur unmenschlichen Behandlung von Kriegsgefangenen und anderen
55
Vorsätzliche und rücksichtslose Vernachlässigung der Pflicht, angemessene Schritte zur Prävention von Gräueltaten einzuleiten
noch vor dem Prozessende am 26. Juni 1946 verstorben
1 S: schuldig; U: unschuldig; A: anderes
Als Urteil wurde das Mehrheitsvotum von Richtern aus den USA, Großbritannien, der Sowjetunion, der Republik China, Kanada und Neuseeland angenommen. Richter aus den Niederlanden, Frankreich, Indien, Philippinen und Australien veröffentlichten einzelne Minderheitsvoten. Besonders das Freispruchsvotum des indischen Richters Radhabinod Pal, der die Prozesse als Siegerjustiz betrachtete, wurde bekannt – wenn auch nur im Ausland; die Veröffentlichung seines Votums in Japan wurde von den Besatzungsmächten verboten. Von besonderem Interesse sind die Verurteilungen wegen „Führen eines Angriffskrieges gegen die UdSSR“, da die UdSSR vor dem Kriegsende Friedensvermittlungen zwischen Japan und den USA angekündigt hatte, am 8. August 1945 jedoch überraschend Japan den Krieg erklärte, wozu sie jedoch nach den Abkommen von Jalta gezwungen war. Die Anklage basiert in diesem Punkt auf den militärischen Auseinandersetzungen zwischen Japan und der Sowjetunion 1938/39.
Die Todesurteile wurden am 23. Dezember 1948, dem 15. Geburtstag von Prinz Akihito, im Sugamo-Gefängnis in Tokio vollstreckt.
Rezeption
Der Prozess blieb lange Zeit wenig beachtet, da eine Übersetzung ins Englische erst 1981 erfolgte. Mit der Aufnahme des Verbrechens des Angriffskrieges in den Katalog der Straftatbestände des Römischen Statuts des Internationalen Strafgerichtshofs im Jahr 2018 erhielt er wieder mehr Aufmerksamkeit.[12]
Literatur
Gary J. Bass: Judgment at Tokyo: World War II on Trial and the Making of Modern Asia. Knopf, New York 2023.
John L. Ginn: Sugamo Prison, Tokyo. An Account of the Trial and Sentencing of Japanese War Criminals in 1948, by a U.S. Participant. McFarland & Company, Jefferson NC u. a. 1992, ISBN 0-89950-739-5.
Jeanne Guillemin: Hidden Atrocities: Japanese Germ Warfare and American Obstruction of Justice at the Tokyo Trial. Columbia University Press, New York 2017, ISBN 978-0-231-18352-9.
Tim Maga: Judgment at Tokyo. The Japanese War Crimes Trials. University Press of Kentucky, Lexington KY 2001, ISBN 0-8131-2177-9.
Frank Michelin: Le procès des criminels de guerre japonais.L'Histoire. Nr. 271, 2002, S. 54–62.
Richard H. Minear: Victors' Justice. The Tokyo War Crimes Trial (= Michigan Classics in Japanese Studies. 22). Reprinted Edition. University of Michigan, Ann Arbor MI 2001, ISBN 1-929280-06-8.
Philipp Osten: Der Tokioter Kriegsverbrecherprozeß und die japanische Rechtswissenschaft (= Berliner Juristische Universitätsschriften. Strafrecht. 16). BWV – Berliner Wissenschaftsverlag, Berlin 2003, ISBN 3-8305-0376-8 (Zugleich: Berlin, Humboldt-Universität, Dissertation, 2002).
Radhabinod B. Pal: International Military Tribunal For The Far East. Dissentient Judgement Of Justice Pal. Kokusho Kankoukai Inc., Tokyo 1999, ISBN 4-336-04110-5 (Volltext).
R. John Pritchard (Hrsg.): The Tokyo War Crimes Trial. The Complete Transcripts of the Proceedings of the International Military Tribunal for the Far East. 22 Bände. Garland, New York NY u. a. 1981.
Annette Wieviorka (Hrsg.): Les Procès de Nuremberg et de Tokyo. Éditions Complexe, Brüssel 1996, ISBN 2-87027-612-5.
Aufsätze
Ein Loch. In: Der Spiegel. Nr.7, 1979, S.128 (online – 12. Februar 1979).
Franziska Seraphim: Kriegsverbrecherprozesse in Asien und globale Erinnerungskulturen. In: Christoph Cornelißen, Lutz Klinkhammer, Wolfgang Schwentker (Hrsg.): Erinnerungskulturen. Deutschland, Italien und Japan seit 1945 (= Fischer. 15219, Die Zeit des Nationalsozialismus.). 2. Auflage. Fischer-Taschenbuch-Verlag, Frankfurt am Main 2004, ISBN 3-596-15219-4, S. 77–92.
Japanische Sekundärliteratur
Awaya Kentaro: Tōkyō Saiban Shiryō. Tōkyō 1994.
Awaya Kentaro: Tōkyō Saiban e no Michi. Tōkyō 1994.
Awaya Kentaro: Tōkyō Saibanron. Tōkyō 1989.
Noboru Kojima: Tōkyō Saiban. Tōkyō 1974.
Deutsche und englische Sekundärliteratur
Ian Buruma: Erbschaft der Schuld. Vergangenheitsbewältigung in Deutschland und Japan. Hanser, München u. a. 1994, ISBN 3-446-17602-0.
Roland Berger: Die internationalen Militärtribunale von Nürnberg und Tokio. Eine rechtshistorische Aufarbeitung. Johannes Kepler Universität Linz, März 2015 (Volltext online.)
Bernard V. A. Röling: The Tokyo Trial and Beyond. Reflections of a Peacemonger. Edited and with an introduction by Antonio Cassese. Polity Press, Cambridge 1993, ISBN 0-7456-1006-4.
Solis Horwitz: The Tokyo Trial. In: International Conciliation. Nr. 465, 1950, ZDB-ID 220444-7, S. 473–584.
Chihiro Hosoya, Nisuki Ando, Yasuaki Ōnuma, Richard Minear (Hrsg.): The Tokyo War Crimes Trial. An International Symposium. Kodansha, Tokyo 1986, ISBN 0-87011-750-5.
Philip R. Piccigallo: The Japanese on Trial. Allied war Crimes Operations in the East, 1945–1951. University of Texas Press, Austin TX u. a. 1979, ISBN 0-292-78033-8.
Zhang Sheng: The Rape of Nanking. De Gruyter Oldenbourg, Berlin, Boston 2021, ISBN 978-3-11-065233-8, Cases in the International Military Tribunal for the Far East Trial Arguments and Their “Legacy”. Based in a Study of Cross-examinations, S.559–604, doi:10.1515/9783110652789.
Film und Fernsehen
Der Prozess ist Gegenstand eines 2006 erschienenen und dort viel beachteten chinesischen Films von Gao Qunshu, The Tokyo Trial (111 Min.), in drei Sprachversionen Mandarin, Englisch und Japanisch.
2016 produzierte der japanische Sender NHK die außerhalb Japans durch Netflix vertriebene Miniserie Tokyo Trial, die die Ereignisse aus Sicht der Richter zeigt.
2015 waren die Prozesse Gegenstand des arte-Films Death by hanging – der Kriegsverbrecherprozess von Tokio.[13]
Die fünfte Episode 1946. Die Tokioter Prozesse der achten Staffel der Arte-Dokumentationsreihe Verschollene Filmschätze analysiert die von dem Prozess gemachten Filmaufnahmen und ordnet sie ein.[14]
↑United States: Treaties and Other International Agreements of the United States of America, 1776-1949: Multilateral, 1946-1949. Department of State, 1968, S.21ff. (google.com [abgerufen am 6. Juli 2023]).
↑Morten Bergsmo, Cheah Wui Ling, Y. I. Ping: Historical Origins of International Criminal Law: Volume 2. Torkel Opsahl Academic EPublisher, 2014, ISBN 978-82-93081-13-5, S.12.
↑Ken'ichi Mishima, Wolfgang Schwentker (Hrsg.): Geschichtsdenken im modernen Japan. Eine kommentierte Quellensammlung (= Monographien aus dem Deutschen Institut für Japanstudien. 56). Iudicium, München 2015, ISBN 978-3-86205-044-4.
↑Edward Behr: Hirohito. Behind the Myth. Villard, New York NY 1989, ISBN 0-394-58072-9; Herbert P. Bix: Hirohito and the Making of Modern Japan. HarperCollins, New York NY 2000, ISBN 0-06-019314-X.
↑Herbert P. Bix: Hirohito and the making of modern Japan. Perennial, New York NY 2001, ISBN 0-06-019314-X, S. 583–585; John W. Dower: Embracing defeat. Japan in the Wake of World War II. Norton u. a., New York NY 1999, ISBN 0-393-04686-9, S. 324–326.
↑Malcolm J. Thurman, Christine A. Sherman: War crimes: Japan's World War II atrocities. Turner, Paducah KY 2001, ISBN 1-56311-728-2, S. 16.
↑Viviane E. Dittrich, Jolana Makraiova: Towards a Fuller Appreciation of the Tokyo Tribunal. In: The Tokyo Tribunal – Perspectives on Law, History and Memory. Torkel Opsahl Academic EPublisher 2020, ISBN 978-82-8348-138-9, S. 4 f.