In Bulgarien angekommen, organisierten sich die Flüchtlinge auf Initiative Petko Wojwodas und der Brüder Dragulewi und gründeten am 12. Mai 1896 in Warna den „Edirne Vertriebenenverband – Strandscha“ (bulgarisch „Одринско преселенско дружество – Странджа“/ Odrinsko preselensko drujestwo – Strandscha). Edirne war die größte Stadt des Gebietes und Zentrum eines Vilayets, aus dem sie vertrieben wurden. Vorsitzender wurde Mladen Scheljaskow. Als Vorbild diente der makedonische Verein „Pirin Planina“, der ein Jahr zuvor von vertriebenen Bulgaren aus Makedonien in Burgas gegründet worden war.
Zur regelrechten Massenflucht und ersten Flüchtlingswelle kam es jedoch erst 1903 nach der blutigen Niederschlagung des Ilinden-Probraschenie-Aufstandes, als die türkische Regierung den rund 26.000 Aufständischen eine Armee von 350.000 Soldaten sowie eine große Zahl von türkischen Freischärlern (Başı Bozuk[3]) entgegenschickte. Unter den Todesopfern waren auch 5000 – 15.000 Zivilisten. 200 Dörfer wurden dem Erdboden gleichgemacht, 12.000 Häuser verbrannt, 70.000 Menschen wurden obdachlos, Zehntausende flohen in die benachbarten Länder, u. a. 30.000 nach Bulgarien.
Zur zweiten und größten Flüchtlingswelle kam es 1913 im Zuge des Zweiten Balkankriegs. Die bulgarische Armee war aus Ostthrakien (Südostbulgarien, nördlich der Linie Midia-Enoz) und Westthrakien abgezogen und kämpfte an der Westfront gegen Griechen und Serben. Der Wiederherstellung der türkischen Kontrolle über Ostthrakien durch die türkische Armee mit Unterstützung der Teşkilât-ı Mahsusa – einer osmanischen Spezialorganisation, folgte die Vertreibung der gesamten verbliebenen bulgarischen Bevölkerung (Vertriebenen-Verbände sprechen von ca. 400.000 Bulgaren) dieses Gebietes. Ähnliche Aktionen verübten die Türken einige Jahre später an der armenischen Bevölkerung (siehe: Völkermord an den Armeniern).
In Westthrakien verbündete sich die islamische Bevölkerung (Pomaken und Türken) mit der griechischen und jüdischen gegen die bulgarische zu der kurzlebigen provisorischen Regierung Westthrakien (ausgerufen Ende August 1913). Dabei wurden sie von Griechenland mit Waffen, und von der Teşkilât-ı Mahsusa mit Offizieren und Freischärlern (Başı Bozuk) unterstützt. Die Provisorische Regierung hatte ihren Sitz in Gjumjurdschina (heute Komotini) und verfolgte als Ziel die Schaffung eines einheitlichen, islamischen und gesamttürkischen Staats[4] und die Vertreibung der bulgarischen Bevölkerung Thrakiens.
Gleichzeitig griff die griechische Marine die Küstenstädte an der Ägäis an und nahm sie in der Folge ein. Wenig später trat Griechenland jedoch die Region um die Städte Feres und Dedeagatsch, die mittlerweile mit bulgarischen Flüchtlingen aus Westthrakien und Kleinasien überfüllt waren, der provisorischen Regierung Westthrakien ab, mit dem Ziel, die zur selben Zeit in Konstantinopel laufenden Verhandlungen zwischen dem Osmanischen Reich und Bulgarien dahingehend zu beeinflussen, dass es zu keinem Frieden zwischen beiden Ländern kommt. Die bulgarischen Flüchtlinge wurden in den folgenden Tagen und Wochen von türkischen Freischärlern, unterstützt von Verbänden der Teşkilât-ı Mahsusa, Richtung Bulgarien vertrieben, wobei viele Bulgaren zu Tode kamen.[5] In der Schlacht um Feres, in der die Stadt komplett zerstört worden war, versuchten einige Dutzend bulgarische Komitadschi, unter der Führung von Dimitar Madscharow, die Flüchtlingskonvois gegen die türkische Übermacht und griechischen Andarten zu verteidigen.
Als nach dem Krieg die bulgarisch-orthodoxe Kirche ihre Mitglieder im europäischen Teil der Türkei aufzählte, kam sie auf ca. 3000 Gläubige im Vergleich zu ca. 400.000 vor Kriegsausbruch. Deshalb spricht man in Bulgarien bis heute von der Tragödie Thrakiens. Der Friedens- und Freundschaftsvertrag von Angora (bulg. Ангорски договор/Angorski dogowor, von Angora, der alte Name Ankaras), der am 18. Oktober 1925 zwischen dem Königreich Bulgarien und der Türkei unterzeichnet wurde und später von beiden Seiten ratifiziert wurde, regelte eine Entschädigung für den Verlust des Grundbesitzes der bulgarischen Bevölkerung, die im Zuge der Balkankriege von 1912 bis 1913 aus Ostthrakien und Kleinasien vertrieben worden waren. Die Umsetzung des Vertrages durch die Türkei in diesem Punkt steht jedoch noch immer aus. Dieses Problem wurde vom Europäischen Parlament 2008 als Punkt in die Agenda der EU-Beitrittsverhandlungen mit der Türkei aufgenommen[6]. In dem Protokoll fordert das Europaparlament die türkische Regierung auf, unter anderem die Entschädigungsverfahren für die bulgarischen Flüchtlinge aus Thrakien zu beschleunigen. Nach offiziellen Angaben der bulgarischen Regierung von 1983, sind noch Zahlungen in Höhe von 10 Milliarden US-Dollar des türkischen Staats offen.[7][8][9][10]
2010 gab die bulgarische Regierung bekannt, ihr Vetorecht, in Bezug auf die Entschädigung der thrakischen Bulgaren, bei einem möglichen EU-Beitritt der Türkei in Betracht zu ziehen.[11]
Kultur
Unter den thrakischen Bulgaren war das Nestinarstwo (bulg. Нестинарство, eine Art Feuerlauf mit religiösem Hintergrund) weit verbreitet. Heute trifft man diesen Brauch nur noch in einigen Dörfern des Strandschagebirges an.
Typische Musikinstrumente bei den thrakischen Bulgaren sind die Streichlaute Gadulka, die Längsflöte Kaval und die Sackpfeife Gajda.
Ljubomir Miletitsch: Разорението на тракийскитеѣ българи презъ 1913 година (bulg. Rasorenieto na trakijskite balgari pres 1913 godina), Verlag Balgarski Bestseller, Sofia, 2003, ISBN 954-9308-14-6
Валентина Ганева-Райчева, Магдалена Елчинова, Меглена Златкова, Николай Вуков (Hrsg.): Миграции от двете страни на българо-турската граница: наследства, идентичности, интеркултурни взаимодействия. (aus dem Bulg. Migrationen auf beiden Seiten der bulgarisch-türkischen Grenze: Vermächtnisse, Identitäten, interkulturelle Interaktionen) Sofia, 2012, ISBN 978-954-8458-41-2; PDF
↑Ulrich Büchsenschütz: Nationalismus und Demokratie in Bulgarien seit 1989 in Egbert Jahn (Hrsg.): Nationalismus im spät- und postkommunistischen Europa. Band 2: Nationalismus in den Nationalstaaten, Verlag Nomos, 2009, ISBN 978-3-8329-3921-2, S. 573
↑Hüsein Mehmed: Die Pomaken und Torbeschen in Moesien, Thrakien und Makedonien. Sofia 2007
↑Hüsamettin Ertürk, İki Devrin Perde Arkası, İstanbul 1957, sf. 115–116.
↑Vgl.: Ljubomir Miletitsch: Разорението на тракийскитеѣ българи презъ 1913 година (bulg. Razorjawaneto na trakijskite balgari prez 1913 godina); Ljubomir Miletitsch: История на Гюмюрджинската република (bulg.; deutsche Übersetzung des Titels: „Die Geschichte der Gjumjurdschina Republik“); Stajko Trifonow: Thrakien. Der administrative Aufbau, Das politische und wirtschaftliche Leben in den Jahren 1912–1915; Erinnerungen (Memento vom 1. Juli 2008 im Internet Archive) von Dimitar Madscharow