Reichskanzler war von 1871 bis 1945 die Amtsbezeichnung des Regierungschefs des Deutschen Reiches. In dieser Rolle stand er dem Kabinett – von 1871 bis 1918 der sogenannten Reichsleitung, von 1919 bis 1945 der Reichsregierung – vor. Von November 1918 bis August 1919 führten die Regierungschefs den Titel Vorsitzender des Rates der Volksbeauftragten bzw. Reichsministerpräsident.
Auch die Frankfurter Reichsverfassung vom 28. März 1849 sah nur Minister oder Reichsminister vor. Der Kaiser sollte die Minister ernennen, welche die Reichsgewalt ausüben sollten. Sie hätten eigens verantwortlich sein sollen und ein späteres Gesetz sollte diese Ministerverantwortlichkeit genauer regeln. Von einer Entlassung der Minister durch den Kaiser war nicht ausdrücklich die Rede.
Im Jahr 1867 wurde der Norddeutsche Bund gegründet, in dem Preußen der größte und dominierende Einzelstaat war. Im Jahr 1870 kamen durch die Novemberverträge die süddeutschen Staaten hinzu. In der Folge wurde der Bund in Deutsches Reich umbenannt. Auch andere Bezeichnungen änderten sich, wenngleich die Grundzüge des politischen Systems dieselben blieben.
und das Bundespräsidium, das immer vom preußischen König ausgeübt wurde.
Das Bundespräsidium setzte einen Bundeskanzler ein, der für die Anordnungen des Präsidiums die Verantwortung übernahm. Damit war er der einzige Bundesminister. Außerdem hatte der Bundeskanzler den Vorsitz im Bundesrat. Zwar war es nicht in der Verfassung vorgeschrieben, aber der Kanzler war gleichzeitig (meist) preußischer Ministerpräsident.
Innerhalb der Staatsorganisation sollte die Wahl des Kanzlerbegriffs einen untergeordneten Rang dieses Bundesorgans signalisieren, denn der neue „Kanzler“ des Bundes sollte – anders als die Regierungschefs der Bundesstaaten – eben kein vollwertiger Ministerpräsident sein.[1] Zudem symbolisierte der Kanzlertitel, wie in der preußischen Tradition etwa von Hardenbergs, auch eine starke monarchisch-bürokratische und damit letztlich antiparlamentarische Komponente. In beidem unterschied sich die 1867/71 geschaffene Exekutive des Bundes bzw. des Reiches ganz bewusst vom deutschen „Gesamt-Reichsministerium“ der Revolutionsjahre 1848/49, an dessen Spitze ein „Reichsministerpräsident“ gestanden hatte.
Diese Konstruktion wurde 1871 im durch die süddeutschen Staaten erweiterten Kaiserreich beibehalten. Faktisch waren die meisten Angehörigen der Reichsleitungen dennoch Minister, da die Reichsämter in der Regel in Personalunion mit den entsprechenden preußischen Ministerien verwaltet wurden. Im Range eines (seinem Monarchen verantwortlichen) Ministers auf Reichsebene stand jedoch allein der Reichskanzler, während die Leiter der Reichsressorts keine eigenständigen Minister, sondern „Staatssekretäre“ waren. Der Kanzler konnte diesen Beamten Weisungen erteilen.
Der Reichskanzler war zwischen 1871 und 1918 allein dem Deutschen Kaiser verantwortlich. Der Kaiser als Staatsoberhaupt des Deutschen Reiches berief und entließ den Reichskanzler. Der Kanzler hatte ohne (preußisches) Mandat auch kein Recht, vor dem Reichstag zu reden. Der preußische Ministerpräsident Otto von Bismarck war der erste Bundeskanzler, am 4. Mai 1871 wurde der Titel in Reichskanzler geändert. Schon im Norddeutschen Bund war der Reichskanzler gleichzeitig preußischer Ministerpräsident und Außenminister.
Durch die Oktoberreformen 1918 wurde unter anderem Artikel 15 der Reichsverfassung, der die Ernennung des Reichskanzlers durch den Kaiser regelte, um eine Bestimmung ergänzt. Demnach bedurfte „der Reichskanzler […] zu seiner Amtsführung des Vertrauens des Reichstags“. Diese Vorschrift, die erst kurz vor dem Ende des Kaiserreichs eingefügt wurde, ist später in die Weimarer Verfassung übernommen worden.
Mit der Novemberrevolution von 1918 wurde nicht nur das deutsche Kaisertum gestürzt, sondern auch das Amt des Reichskanzlers durch einen revolutionären „Rat der Volksbeauftragten“ abgelöst. Im Februar 1919 wurde erneut ein Kabinett auf Reichsebene gebildet, und zwar aufgrund des Gesetzes über die vorläufige Reichsgewalt. Es sah die Bildung eines Reichsministeriums vor, womit die Regierung insgesamt gemeint war. Der Vorsitzende dieser Reichsregierung erhielt dann den Titel eines Reichsministerpräsidenten (auch Präsident des Reichsministeriums).
Bereits im August 1919 führte die Weimarer Reichsverfassung jedoch wieder die eingebürgerte Bezeichnung „Reichskanzler“ ein. Auch in der Weimarer Republik (1919–1933) wurde der Reichskanzler vom deutschen Staatsoberhaupt – nunmehr dem Reichspräsidenten – ernannt und entlassen, doch war er dem Reichstag gegenüber insoweit verantwortlich, als der Reichskanzler (und auch jeder Reichsminister) gemäß Art. 54 der Weimarer Verfassung[2] zurücktreten musste, wenn ihm der Reichstag durch ausdrücklichen Beschluss sein Vertrauen entzog. Bis zu einem solchen Misstrauensvotum konnte der Reichskanzler mithin ohne parlamentarische Mehrheit regieren. Zudem konnte der Reichspräsident gemäß Art. 48 der Weimarer Verfassung sogenannte Notverordnungen erlassen.
Hitler besaß verfassungsrechtlich nicht das Recht, auf einfachem testamentarischen Wege seine Nachfolge zu bestimmen, doch hatte er auf diese Weise am 29. April 1945 seinen engen Gefolgsmann Joseph Goebbels zu seinem Nachfolger als Reichskanzler bestimmt. Dies zeigte keine politische Wirkung, da das Reich damals bereits zu großen Teilen von den Alliierten besetzt war und Goebbels schon einen Tag nach Hitler, am 1. Mai 1945, ebenfalls Selbstmord beging. Der von Hitler auf dieselbe zweifelhafte Weise zum neuen Reichspräsidenten bestimmte Großadmiral Karl Dönitz beauftragte daraufhin am 2. Mai 1945 Reichsfinanzminister Graf Schwerin von Krosigk mit der Leitung der Geschäftsführenden Reichsregierung, wobei dieser den Titel des Reichskanzlers nicht mehr führte. Diese letzte nationalsozialistische Reichsexekutive, die weder über Legitimität noch über reale politische Macht verfügte, wurde am 23. Mai 1945 von den Alliierten verhaftet und Schwerin von Krosigk am 5. Juni 1945 auch formell abgesetzt.
Nachwirkungen
Deutsche Demokratische Republik
In der DDR war der Amtstitel des Regierungschefs zunächst „Ministerpräsident“, wobei dieser Titel allerdings sehr bald durch den eines „Vorsitzenden des Ministerrats“ verdrängt wurde, der sich an sowjetische Traditionen einer Räterepublik anlehnte. Im November 1989 kam aber der ursprüngliche Titel wieder in Gebrauch.
Werden der „Nachfolger“ Hitlers, Joseph Goebbels, und der diesem nachfolgende Leitende Minister (Lutz Schwerin von Krosigk) mit hinzugenommen, so sind es von Bismarck bis einschließlich Schwerin-Krosigk 24 Personen, die Reichskanzler, Reichsministerpräsident oder „Quasikanzler“ waren.
Am längsten gedient hat Bismarck. Er war fast auf den Tag genau 19 Jahre lang Reichskanzler, dazu knapp vier Jahre Bundeskanzler des Norddeutschen Bundes. In der Weimarer Zeit amtierte Wilhelm Marx, werden seine beiden Amtszeiten (vier Kabinette) zusammengerechnet, drei Jahre und 74 Tage.
Am kürzesten dauerte die Amtszeit von Joseph Goebbels (einen Tag, 30. April bis 1. Mai 1945), der von Hitler testamentarisch eingesetzt worden war. Schwerin-Krosigk war 22 Tage, Schleicher 57 Tage im Amt. Im Kaiserreich dauerte vor dem Ersten Weltkrieg die kürzeste Kanzlerschaft viereinhalb Jahre (Leo von Caprivi) und während des Krieges einen Monat (Max von Baden).
Nie Mitglied des Reichstags waren Max von Baden, Wilhelm Cuno, Hans Luther und Kurt von Schleicher. Hitler wurde erst während seiner Kanzlerschaft Reichstagsabgeordneter. Bei Amtsantritt kein Parlamentarier, wohl aber zuvor, war Georg von Hertling (1875–1890, 1896–1912). Ehemalige Fraktionsvorsitzende waren Scheidemann, Gustav Stresemann, Hermann Müller und Heinrich Brüning; der frühere Reichstagspräsident Constantin Fehrenbach war es nach seiner Kanzlerschaft wieder.
↑Dazu Katrin Stein, Die Verantwortlichkeit politischer Akteure, Mohr Siebeck, Tübingen 2009, S. 598: „Dementsprechend unterschieden sich die Amtsverhältnisse des Reichskanzlers und der Staatssekretäre unter der Bismarck’schen Reichsverfassung nicht von den Beamtenverhältnissen.“