Paolo Mantegazza wurde im lombardischen Monza bei Mailand, als erstgeborener Sohn wohlhabender Eltern aus dem Großbürgertum geboren. Sein Vater war Giovan Battista Mantegazza, seine Mutter, Laura Solera Mantegazza, war eine der ersten Sozialreformerinnen Italiens, eine Freundin Garibaldis und Patriotin des „Risorgimento“[1]. Um 1850 gründete sie die erste „Tagesstätte“ für Kleinkinder armer Leute und 1870 die erste „Berufsschule“ für Frauen in Italien. Paolo Mantegazza schrieb 1876 ihre erste Biographie „La mia mamma“.
Mantegazza studierte zuerst in Pisa und Mailand Medizin und schloss sein Studium 1854 in Pavia ab. Danach bereiste er Indien und Südamerika, wo er in Argentinien und in Paraguay als Arzt praktizierte. 1858 kam er nach Italien zurück und wirkte in Mailand als Chirurg. 1860 wurde er als Professor für Pathologie an die Universität zu Pavia berufen, wo er das erste Institut für allgemeine Pathologie in Europa gründete. Der Mediziner und Physiologe und späterer NobelpreisträgerCamillo Golgi promovierte 1865 an diesem Institut. Die medizinische Fakultät der Universität in Pavia gehörte seit dem 17. Jahrhundert zu den führenden Forschungsstätten in Italien und galt in der Mitte des 19. Jahrhunderts als eine der fortschrittlichsten in Italien.
1870 wurde Mantegazza Professor der Anthropologie am Istituto di Studi Superiori in Florenz. Hier gründete er das Museo Antropologico-Etnografico di Firenze (anthropologisches und ethnographisches Museum) sowie 1871 mit Felice Finzi die noch heute erscheinende Fachzeitschrift Archivio per l'Antropologia e l'Etnologia. Zu jener Zeit standen Kultur und Wissenschaft in Italien weit mehr als heute unter dem Einfluss der katholischen Kirche. Mantegazza wurde immer wieder von kirchlichen Kreisen angefeindet, insbesondere weil er ein Verfechter des Darwinismus und Atheist war.[2] Von 1868 bis 1875 hatte er einen regen Briefwechsel mit Charles Darwin.
Mantegazza starb 1910 in seinem Sommersitz in San Terenzo.
Pionier der Drogenforschung
Bei seiner mehrjährigen Tätigkeit als Arzt in Südamerika beobachtete Mantegazza die Gewohnheit der einheimischen Kokabauern, die Blätter der Kokasträuche zu kauen. Im „Dienst der Wissenschaft“ begann er es ihnen nachzutun mit drei Tagesdosen von je drei Gramm Kokablättern. 1859 publizierte er die Schrift Sulle virtù igieniche e medicinali della coca e sugli alimenti nervosi in generale (Über die hygienischen und medizinischen Vorzüge des Koka und die Nervennahrung im Allgemeinen), für die er eine Auszeichnung erhielt und die sowohl in Italien wie auch im Ausland für großes Aufsehen sorgte. Aufgrund der Tatsache, dass Mantegazza in seinen Schriften zwischen coca und cocaina unterscheidet, wird vermutet, dass er bereits 1859 das Alkaloid Kokain aus den Kokablättern extrahiert und selbst eingenommen hatte. Mantegazza wird in der Literatur deshalb oft mit Kokain in Verbindung gebracht, doch sein Interesse für die Wirkungen psychotroper Substanzen reichte viel weiter, und er publizierte zahlreiche Schriften mit Abhandlungen über die berauschende Wirkung von diversen Rauschmitteln wie Alkohol, Mate, Guaraná, Opium, Haschisch, Kava oder auch Ayahuasca (agahuasca) und klassifizierte sie 1859 nach ihren Wirkungen, mehr als sechzig Jahre bevor Louis Lewin seine Klassifikation 1924 in seinem Werk Phantastica vornahm.
Sexualwissenschaft
Nahezu vergessen, zu seiner Zeit herausragend waren seine vielfachen Publikationen auf dem erst später konstituierten Gebiet der Sexualwissenschaft: Fisiologia del piacere (1854); Fisiologia dell'amore (1873); Igiene dell'amore (1886); Gli amori degli uomini – Saggio di una etnologia dell'amore (1886) und Fisiologia della donna (1893) – in denen er Beobachtungen, eigene Experimente und anthropologisch-ethnologische Ergebnisse umfangreicher Sammlungen, Recherchen und Reisen zusammenfasst im Sinne einer „Phänomenologie der heterosexuellen Liebe... die ihresgleichen in der Geschichte der Sexualwissenschaft sucht.“ – Schon mit 22 Jahren verfasst er „Grundzüge der Edonologie oder der Wissenschaft vom Genusse“ (heute als Hedonismus zu verstehen) und wendet sich gegen „falsche Puritaner“ bzw. den „trüben, stinkenden Nebel der Heuchelei“ (Volkmar Sigusch in: Deutsches Ärzteblatt 7/2007 – s. Weblink).
Schriften (Auswahl)
Aufsätze
Sulle origine igieniche e medicinali della coca e sugli alimenti nervosi in generale. In: Annali Universali di Medicina, Bd. 167 (1859), S. 449–519.
Sull'introduzione in Europa della coca, nuovo alimento nervoso. In: Annali di Chimica applicati alla Medicina, Bd. 29 (1859), S. 18–21.
Lettere mediche. Lettera VIII, sul mate. In: Gazzetta medica Italiana-Lombarda, Bd. 4 (1859), S. 85–92.
Del guaranà, nuovo alimento nervoso. Ricerche sperimentali. In: Annali di Chimica applicati alla Medicina, Bd. 192 (1865), April, S. 8–13.
Monographien
Fisiologia del piacere. G. Bernardoni, Mailand 1854.
Physiologie des Genusses. Zenith-Verlag, Leipzig 1928 (übersetzt von H. Passarge).
Quadri della natura umana. Feste ed ebbrezze. Brigola, Mailand 1871 (2 Bde.).
Fisiologia dell'amore. G. Bernardoni, Mailand 1873.
Die Physiologie der Liebe (Die beliebtesten Romane der Weltliteratur; Bd. 11). Verlag der Schillerbuchhandlung, Berlin 1924.
Igiene dell'amore. G. Bernardoni, Mailand 1877.
Die Hygiene der Liebe. Zenith-Verlag, Leipzig 1927.
Fisiologia del dolore. Marzocco, Florenz 1948 (Nachdr. d. Ausg. Florenz 1880).
Gli amori degli uomini. Saggio di una etnologia dell'amore. G. Bernardoni, Mailand 1886.
Die Geschlechtsverhältnisse des Menschen (Die bunten Romane der Weltliteratur; Bd. 12). Verlag der Schillerbuchhandlung, Berlin 1925.[3]
La mia mamma (Piccola biblioteca del popolo italiano; Bd. 11). G. Barbèra, Florenz 1886.
Le estasi umane. Mantegazza Edizione, Mailand 1887 (2 Bde.).
Die Ekstasen des Menschen. Costenoble, Jena 1888 (2 Bde.).
Fisiologia dell'odio. Treves, Mailand, 1889
Die Physiologie des Hasses. Costenoble, Jena 1889
Fisiologia della donna. Treves, Mailand 1893.
Die Physiologie des Weibes. 8. Aufl. Verlag Neufeld & Henius, Berlin 1911.
L'Anno 3000. Viaggio verso Andropoli. Tipheret, Rom 2010, ISBN 978-88-649-6028-9 (EA Mailand 1887)
Das Jahr 3000. Ein Zukunftsroman. Verlag von Reeken, Lüneburg 2012, ISBN 978-3-940679-67-3 (EA Jena 1897)
Literatur
Monika Antes: Die Vermessung der Liebe. Paolo Mantegazza (1893–1910) und seine bahnbrechenden Entdeckungen. Verlag Königshausen & Neumann, Würzburg 2012, ISBN 978-3-8260-4688-9.
Monico Boni: L'erotico senatore. Vita e studi di Paolo Mantegazza (I sentieri dell'uomo; Bd. 6). Name, Genua 2002, ISBN 88-87298-64-5.
Pierre E. Frevert und Volkmar Sigusch: Paolo Mantegazza (1831–1910). In: Volkmar Sigusch und Günter Grau (Hrsg.): Personenlexikon der Sexualforschung. Campus Verlag, Frankfurt/M. 2009, S. 442–451, ISBN 978-3-593-39049-9.
Walter Pasini: Paolo Mantegazza. Ovvero l'elogio dell'eclettismo. Panozzo, Rimini 1999, ISBN 88-86397-46-1.
Volkmar Sigusch: Geschichte der Sexualwissenschaft. Campus Verlag, Frankfurt/M. 2008, S. 121–143 und 552–558, ISBN 978-3-593-38575-4.
Volkmar Sigusch: The birth of sexual medicine. Paolo Mantegazza as pioneer of sexual medicine in the 19th century. In: The Journal of Sexual Medicine, Bd. 5 (2008), Heft (1), S. 217–222, ISSN1743-6095.
Jaroslav Hasek: Die Schicksale eines geselligen Menschen, in der Kurzgeschichtensammlung "Wie ich dem Autor meines Nachrufs begegnete". Aufbau Verlag, Berlin & Weimar 1978, S. 99.
Quellen
Paolo Mantegazza: Trilogie der Liebe, 1873/86. In: Projekt Gutenberg-DE: Bibliothek der Sexualwissenschaft. 36 Klassiker der Sexualwissenschaft als Faksimile auf DVD. Verlag Hille & Partner, Hamburg 2008, ISBN 978-3-86511-524-9.
Paolo Mantegazza: L'anno 3000. Mailand 1897 (in Italienisch: HTML Volltext mit Konkordanz von IntraText Digital Library).
Paolo Mantegazza: Un giorno a Madera (in Italienisch: HTML Volltext mit Konkordanz von IntraText Digital Library).