Leone da Modena

Leone da Modena
Cérémonies et coutumes parmi les Juifs, 1682

Leone da Modena (Jehuda Arje di Modena, auch Leo Mutinensis, Judah Aryeh[1]; geboren am 23. April 1571 in Venedig; gestorben am 21. März 1648[2] ebenda) war ein jüdisch und profanwissenschaftlich gebildeter Autor, Dichter, Lehrer und (von Juden und Christen gleichermaßen) gesuchter Prediger, venezianischer Rabbiner[3], Übersetzer[4], Verfasser einer Autobiographie und zahlreicher Schriften verschiedensten Inhalts und gilt als eine der kompliziertesten und undurchsichtigsten Persönlichkeiten der jüdisch-italienischen Kultur seiner Zeit.[5]

Leben

Leone entstammte einer wohlhabenden Familie französischer Herkunft, die sich zunächst in Viterbo und dann in Modena – daher der Name, niederließ. Den späteren Wohnsitz Ferrara verließ die Familie aufgrund des Erdbebens 1570 und ging dann nach Venedig, wo Leone Modena geboren wurde. Schon in seiner frühesten Kindheit entwickelte dieser ungewöhnliche geistige Fähigkeiten (erste Haftara-Lesung in der Synagoge noch vor Vollendung seines dritten Lebensjahres). Er genoss eine gute Erziehung und umfassende Ausbildung in jüdischen und allgemeinen Gegenständen einschließlich Musik- und Gesangsunterricht durch wechselnde Privatlehrer. So war er unter anderem (1581–1582 in Padua) Schüler von Schmuel Archevolti. Da Modena wurde ein berühmter Prediger, der mit seinen zahlreichen Schriften und seinem Wissen auch bei Christen Aufmerksamkeit fand. Allerdings war er aufgrund der prekären finanziellen Situation seiner Familie gezwungen, sich mit allerlei, zum Teil unwürdigen Beschäftigungen über Wasser zu halten. In seiner Autobiographie zählt er 26 verschiedene Tätigkeiten auf, die er während seines Lebens ausgeübt hat, darunter Vorbeter, Lehrer, Dolmetscher, Schreiber, Korrektor, Buchhändler, Kaufmann, Heiratsvermittler, Musiker und Amulettenverfertiger.

Er wirkte in Venedig. In seinen (hebräisch oder italienisch geschriebenen) Schriften kommt häufig der für das damalige intellektuelle Judentum Italiens kennzeichnende Zwiespalt zwischen neuen wissenschaftlichen Erkenntnissen und Traditionstreue zum Ausdruck. So verteidigte er in magen we tzinnah („Schild und Spieß“) die mündliche Tradition und kritisierte Uriel da Costa, während er in qol sakal („Torenstimme“) Traditionskritik zu Wort kommen ließ.

Von seiner antichristlichen Streitschrift magen wa chereb wurden nur fünf von neun geplanten Teilen fertig. Darin behandelte er mit scharfsinnigen Argumenten und vielen exegetischen Bemerkungen die Themen Erbsünde, Trinität, Inkarnation, Jungfrauengeburt und Maria sowie die Frage, ob der Messias bereits erschienen sei.

Seine auf Anforderung des englischen Botschafters verfasste italienische Beschreibung der jüdischen Bräuche (Historia de' riti Ebraici, Paris 1635 [? Vgl. u.]) fand auch unter Nichtjuden weite Verbreitung und erwies sich – obwohl auch in judenfeindlichem Sinne benutzt – als effektiver Beitrag zur Apologetik.

In ari nohem („Brüllender Löwe“) attackierte er die Kabbalah und widerlegte das behauptete hohe Alter des Buches Zohar.

Leone führte ein unruhiges Leben: Er nahm einen Beruf nach dem anderen auf und wurde ein besessener Spieler, was ihn und seine Familie oft in finanzielle Bedrängnis brachte. Inkonsequent, wie er war, schrieb er in einem Stück mit dem Titel sur me ra, „Halte dich vom Bösen fern“, einen Dialog sowohl gegen als auch für das Glücksspiel.

Durch einen rabbinischen Erlass (haskamah) erklärte er im Jahre 1605 mehrstimmige Chormusik in der Synagoge für zulässig, was der Komponist Salamone Rossi, ein enger Freund da Modenas, auch mit zahlreichen Kompositionen in die Tat umsetzte (ha-schirim 'ascher li-schlomo, „Die Lieder des Salomon“, Venedig 1622 f.).

Mit seiner Frau Rachel Lewi, die er am 6. Juli 1590 heiratete, hatte Leone Modena vier Söhne und drei Töchter. Sein Lieblingssohn Mordechai starb im November 1617 bei alchimistischen Experimenten, in deren Folge ihn sein Vater tödlich vergiftet hatte. Ein anderer Sohn wurde bei einer Rauferei erschlagen, ein weiterer Sohn ging nach Griechenland und blieb verschollen. Leons Frau soll darüber, wahnsinnig geworden, verstorben sein. Besonders der Tod Mordechais traf Leone Modena schwer, er unterzog sein bisheriges Leben einer strengen Selbstprüfung, deren Frucht die äußerst widersprüchliche Autobiographie chajje Jehuda ist, eine offen-ehrliche Abrechnung, in der er sich als gescheiterte Existenz bekennt und mit der er in seiner Zeit einzigartig dasteht. Sie enthält schonungslose Berichte über seine Liebe zur verstorbenen Braut, seine unglückliche Ehe mit ihrer Schwester, sein Scheitern in den verschiedensten Berufen, seine Verluste im Spiel, sein hilfloses Ankämpfen gegen die Spielleidenschaft, aber auch über seine glänzenden Erfolge. An den Schluss stellte er sein Testament mit einer detaillierten Regelung seines Begräbnisses.

Werke/Ausgaben (Auswahl)

  • Eldad u-medad, verfasst 1583, Dialog über die Zulässigkeit oder Schädlichkeit des Kartenspiels, gedruckt 1595[6]
  • Qinah schemo („Klagelied“), 1584 (hebräische Elegie auf den Tod seines Erziehers Mose Basola = Mosche b. Benjamin della Rocca Basola)[7]
  • Magen we-tzinnah („Schild und Spieß“) (gegen da Costas Traditionskritik)
  • Qol sakal („Torenstimme“)[8]
  • Scha'agat arjeh („Das Brüllen des Löwen“), weitere Apologie der rabbinischen Tradition und vergleichsweise schwacher Versuch der Widerlegung von qol sakal
  • Sod jescharim („Geheimnis der Gerechten“), Venedig 1595 (Sammlung „wissenschaftlicher“ Merkwürdigkeiten und Rätsel)[9]
  • Sur me ra, Venedig 1595 f. („Meide das Böse“; vgl. u. Anmerkungsteil)
  • Zemach zaddiq („Spross des Gerechten“), Venedig 1600, christianisierender jüdischer Ethik-Traktat[10]
  • Midbar Jehudah, Venedig 1602, Auswahl seiner Predigten und öffentlichen Vorträge
  • Magen wa-cherev („Schild und Schwert“), Polemik gegen das Christentum, Fragment, herausgebracht u. a. Jerusalem 1960, englisch Lewiston 2001
  • Pessach-Haggada, Hebräisch und Italienisch (in hebr. Lettern), nebst Auszug aus Isaak Abrabanels Kommentar, einschl. Holzschnitten, Venedig 1609, 1663, 1693
  • Galut Jehudah („Das Exil Jehudas“), hebräisch-italienisches Wörterbuch, Venedig 1612
  • Lev ha-arjeh („Herz des Löwen“), Venedig 1612 (Traktat über die Mnemotechnik)
  • Ben Dawid (Abhandlung über Metempsychose, d. h. Streitschrift gegen die Möglichkeit einer solchen), zuerst gedruckt in ta'am sekenim, 1855
  • Chajje Jehuda („Leben des Jehuda“), ca. 1618 (Autobiographie)
  • Bet lechem Jehudah, Venedig 1624 f. (Index/Realwörterbuch zur Sammlung talmudischer Aggadot En Ja'acov); dann wieder Prag 1705
  • Bet Jehudah („Das Haus des Jehuda“), Venedig 1628 (Ergänzungen zu bet lechem jehudah); weiter: Krakau 1643, Verona 1643, Prossnitz 1649, Prag 1668
  • Ziqne Jehudah („Die Ahnen des Jehuda“), Sammlung seiner Responsen (zuerst Jerusalem 1956)
  • Historia dei Riti ebraici ed observanza degli Hebrei di questi tempi, Paris 1635[11]
  • Ari nohem („Brüllender Löwe“), vollendet 1638, zuerst gedruckt Leipzig 1840; hrsg. von Nechama Leibowitz Jerusalem 1971
  • Pi Arjeh („Maul des Löwen“), Ergänzungen zum hebr.-ital. Wörterbuch/kleines rabbinisch-italienisches Vokabular (Padua 1640, Venedig 1648)
  • Jom se jehi mischkal kol chatosai (Gebet zu Jom kippur katon)
  • Ma'adanne melech (Schachbuch, irrtümlich dem Jedaja Bedarschi zugeschrieben)
  • Isaak Samuel Reggio (Hrsg.): Bechinat ha-qabbalah („Prüfung der Tradition“), Görz 1852[12]
  • Leo Modenas Briefe und Schriftstücke, hrsg. v. Ludwig Blau, Budapest 1905–1906 (Jahresberichte der Landesrabbinerschule 28 und 29)
  • Chajje Jehuda, Autobiographie L. d. Modenas, hrsg. v. A. Kahana, Kiew 1912; engl. M. R. Cohen, Princeton 1988[13]
  • Jüdische Riten, Sitten und Gebräuche. Hrsg., übers. und kommentiert von Rafael Arnold. Wiesbaden : Marixverlag, 2007

Hinterlassene Manuskripte

Zu den bedeutendsten, nur handschriftlich hinterlassenen Werken zählen seine Kommentare zu Pirke awoth, zu den fünf Megillot, über Mischle, die Psalmen, das Buch Samuel, die Pessach-Haggada, Kommentare zu den Haftarot, verschiedene Apokryphen-Übersetzungen sowie Kowez schirim, eine Sammlung seiner zerstreut erschienenen Gedichte.

Literatur

  • Abraham Geiger: Leon da Modena. Breslau 1856.
  • Heinrich Graetz: Geschichte der Juden. Bd. X, Leipzig 1868.
  • M. Stern: Der Kampf des Rabbiners gegen den Talmud. Breslau 1902.
  • N. S. Libowitz: Jehuda Arje Modenas Leben und Werke. New York 1902.
  • Salomon Wininger: Große Jüdische National-Biographie. Bd. IV, Druckerei Orient, Czernowitz 1930.
  • Simon Dubnow: Weltgeschichte des jüdischen Volkes. 1925 ff., Bd. VI, besonders Anhang, Note 4.
  • Samuel Meisels: Leon da Modena. In: Georg Herlitz (Hrsg.): Jüdisches Lexikon. Bd. III, Jüdischer Verlag, Berlin 1927.
  • E. Rivkin: Leon da Modena. 1952.
  • Shlomo Simonsohn: Leon Modena. London 1952
  • Günter Stemberger: Geschichte der jüdischen Literatur. München 1977.
  • J. Boksenboim (Hrsg.): Iggerot R. Jehudah Arjeh-mi Modena. Tel Aviv 1984.
  • H. E. Adelman: Success and Failure in the Seventeenth Century Ghetto of Venice. The Life and Thought of Leon Modena, 1571–1648. Michigan/London 1985.
  • Leon da Modena. In: Julius Hans Schoeps (Hrsg.): Neues Lexikon des Judentums. Bertelsmann Lexikon Verlag, Gütersloh/München 1992, ISBN 3-570-09877-X.
  • Robert Bonfil, David Malkiel (Hrsg.): The Lion Shall Roar: Leon Modena and His World (= Italia, Conference Supplement Series. Bd. 1). Magnes Press, Jerusalem 2003.
  • Gianfranco Miletto: Leon(e) Modena. In: Metzler Lexikon jüdischer Philosophen. Stuttgart/Weimar 2003.
  • Saverio Campanini: Leone Modena und die Reinkarnationslehre. In: G. Necker, R. Zeller (Hrsg.): „Und schaffst der Seelen Schar“. Die Diskussion um die Präexistenz der Seelen im 17. Jahrhundert. (Morgen-Glantz. Zeitschrift der Christian Knorr von Rosenroth-Gesellschaft, 24), 2014, S. 29–50.
Commons: Leone da Modena – Sammlung von Bildern, Videos und Audiodateien

Einzelnachweise

  1. Weitere Namensformen: Leo da Modena, Leon oder Leone Modena, Leo Juda Arje di Modena, Jehuda Arje (Leon) ben Isaak/Isaac da Modena etc. Mit Venedig fühlte sich Leone Modena sehr verbunden, so dass er die italienischen Ausgaben seiner Werke mit Leon Modena da Venezia zu unterzeichnen pflegte.
  2. Nach Wininger gest. 23. März 1649
  3. Seit 1612 bis zu seinem Tod. Nach anderen Angaben bereits seit 1593, nach wieder anderen Angaben seit 1609. Seine Ansichten in religiös-gesetzlichen Fragen waren von großem Gewicht. Von nah und fern wurde er um entsprechende Gutachten angefragt.
  4. So übersetzte er, um nur ein Beispiel zu nennen, Teile von Ludovico Ariostos Orlando Furioso ins Hebräische.
  5. Eine Leone da Modena kennzeichnende Charakterisierung durch Samuel Meisels in: Georg Herlitz (Hrsg.): Jüdisches Lexikon. Bd. III, Jüdischer Verlag, Berlin 1927, urn:nbn:de:hebis:30-180015078036, Sp. 1050–1052, hier Sp. 1052: L. d. M. war eine seltsame Erscheinung: ein Mann von umfassendem Wissen und kritischem Geist, war er dennoch zerfahren im Denken, unausgeglichen im Wesen und scheinbar so voller Widersprüche, daß ihn auf Grund seiner Schriften bald die Traditionstreuen, bald die Reformer zu den ihren zählen, Graetz ihn sogar einen „Wühler“ nennt. Tatsächlich war er, vermutlich nicht ganz unbeeinflußt von den ketzerischen Anschauungen des Uriel Acosta, wie dieser ein Zweifler, ohne aber dessen Konsequenzen zu ziehen. Im ewigen Zwiespalt mit sich selbst, übte er an der Tradition oft heftige Kritik, um bald wieder sich selbst Beweise für ihre Berechtigung zu erbringen.
  6. Übersetzt ins Lateinische, Deutsche, Italienische und Französische
  7. Die allerdings in anderer Trennung auch italienisch gelesen werden kann: chi nasce mor: „Wer geboren wird, stirbt“, was zugleich die virtuose Sprachbeherrschung des erst Dreizehnjährigen zeigt. Im Text wechselt jede hebräische Verszeile mit einer italienischen, die sich gegenseitig aufeinander reimen. Jedes Verspaar ist darüber hinaus so kunstvoll konstruiert, dass hebräische und italienische Zeile Silbe für Silbe gleich klingen.
  8. In der ein erfundener Amittai b. Jedajah ibn Raz aus Alkala = „Der Wahrhaftige, Sohn des Geheimnisses [das nur Gott kennt]“ das pure Gegenteil von dem behauptet, was in magen we tzinnah ausgeführt wurde. Die Vervielfältigung der Gebote sei blosses Mittel, mit dem die Gelehrten über das jüdische Volk herrschen wollten etc.
  9. Weitere Ausgaben: Verona 1647, Amsterdam 1649, Frankfurt am Main 1702
  10. Aus dem Italienischen ins Hebräische übersetzt, beigegeben belehrende Fabeln und Holzschnitte
  11. Nach anderen Quellen Paris 1637. Vollständige Ausgabe Venedig 1638. Das Werk wurde 1684 (oder früher?) von Richard Simon ins Französische, einige Jahre später ins Lateinische, Englische und Holländische übersetzt; eine hebräische Übersetzung von Salomo Rubin erschien in Wien 1867 unter dem merkwürdigen Titel Schulchan Aruch.
  12. Erstdruck von Qol sakal, zusammen mit Scha'agat arjeh und einer kurzen Biographie da Modenas
  13. M. R. Cohen (Hrsg.): The Autobiography of a Seventeenth-Century Venetian Rabbi. L. M.s „Life of Judah“

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