Interessenjurisprudenz

Die Interessenjurisprudenz ist eine juristische Methodenlehre der Rechtswissenschaft. Sie wurde in den 1900er-Jahren aus dem Ansatz heraus entwickelt, dass Ziel des Rechts sein muss, Interessenkonflikte friedlich zu lösen. Im Fortschrittlichkeitssinne versucht die Interessenjurisprudenz sicherzustellen, dass rechtliche Modernisierungen einen Ausgleich der Interessenslagen erzielen. Dazu werden die Interessenbewertungen des Gesetzgebers zur Rechtsfortbildung herangezogen.

Geschichte

Die Interessenjurisprudenz wurde maßgeblich von Philipp Heck und Rudolf Müller-Erzbach entwickelt. Sie fußt auf der Ethik Jeremy Benthams und Rudolf von Jherings.[1] Im Anschluss an Jhering versteht die Interessenjurisprudenz jede gesetzliche Norm als Entscheidung des Gesetzgebers, bestimmte gesellschaftliche Interessenkonflikte zu befrieden. Der Richter, der ein Gesetz auslegt, muss sich diese Konflikte vor Augen führen, gleichsam „rekonstruieren“, um die Entscheidung des Gesetzgebers bei Erlass der Norm zutreffend zu erfassen. Der Rechtsanwender soll nach Heck erkennen, mit welcher Intention der Gesetzgeber bestimmte Interessen vorzugsweise behandelte beziehungsweise warum er für legislatorischen Ausgleich sorgte, wenn die Interessenskollisionen bestehen bleiben mussten.[2][3] Der Richter muss also ermitteln, welche Interessen sich in dem zu beurteilenden Fall gegenüberstehen und prüfen, ob und gegebenenfalls wie das Gesetz diesen Interessenkonflikt entschieden hat. Da sich die Methode der Interessensjurisprudenz nach Hecks Auffassung der „Lebensforschung“ und der „Lebenswertung“ verschrieben hat,[4] vermag der Richter auf Basis seiner erlangten Erkenntnisse, Recht zutreffend zu interpretieren und gegebenenfalls rechtsschöpfend tätig zu werden. Die Interessensjurisprudenz wurde von Max Weber in seiner Rechtssoziologie aufgegriffen.[5][6]

Die Interessenjurisprudenz kann als Weiterentwicklung der jheringschen Begriffsjurisprudenz begriffen werden. Nach dessen ursprünglichen Bestrebungen, ein methodisch von subjektiven Einflüssen befreites Recht zu etablieren, das sich zudem an Savignys rechtsgeschichtlichem Bewusstsein orientierte, rückte er schließlich davon ab, Recht über bloße Abstraktion der Begrifflichkeit zu definieren. Dies mit dem Erfolg, dass er in seinem unvollendet gebliebenen Werk Der Zweck im Recht (1877/83) erste rechtssoziologische Komponenten des Rechts insoweit vorwegnahm.[7] Die fundamentalen Überlegungen Hecks und die noch zaghaften Ansätze Jherings übertrug Franz von Liszt dann auf das Strafrecht (Der Zweckgedanke im Strafrecht 1882).

In der Zeit ab 1900 wurde der Ansatz in der deutschen Privatrechtsdogmatik vorherrschend und auch die Rechtsprechung übernahm die Methode.[8]

Inhaltliche Bedeutung

Die Interessenjurisprudenz geht von zwei zentralen Prämissen aus: erstens von der Bindung des Richters an das Gesetz, zweitens von der Unzulänglichkeit und Lückenhaftigkeit gesetzlicher Normen (sogenannte „Lückentheorie“). Zur Ausfüllung der erkannten Lücken des Gesetzes sind die im Gesetz niedergelegten Entscheidungen von Interessenkonflikten heranzuziehen.[9] Fehlt eine einschlägige Norm, die den zu beurteilenden Interessenkonflikt entscheidet, ist der Richter aufgefordert, rechtsschöpferisch tätig zu werden. Er muss seine Entscheidung danach ausrichten, wie das Gesetz die gegenüberstehenden Interessen in ähnlichen Fällen gegeneinander abgewogen hat. Vom Richter ist also nicht buchstabengenauer Gehorsam gegenüber dem Gesetz, sondern „interessengemäßer“ Gehorsam gefordert. Dieses Verfahren war als Gesetzes-/Rechtsanalogie zwar längst bekannt, erfuhr aber über die Rückführung auf die Interessen der Parteien eine neue methodische Begründung.

Im Falle beabsichtigter Lücken im Gesetz, namentlich durch richterliches Ermessen auf Rechtsfolgenseite oder unbestimmte Rechtsbegriffe auf Tatbestandsseite, sollte der Richter so entscheiden, wie er es in der Rolle des Gesetzgebers tun würde. Diese Aufforderung ist beispielsweise im Art. 1 des Schweizerischen Zivilgesetzbuches normiert worden.[10]

Im Dritten Reich wurde die Interessenjurisprudenz als zu individualistisch abgelehnt. Die nationalsozialistische Rechtsphilosophie kritisierte, dass die Interessenjurisprudenz die nationalen und gemeinschaftlichen Interessen mit materiellen Einzelinteressen auf eine Stufe stelle und die Einheit von Gemeinschafts- und Sonderinteressen vernachlässige.[11]

Auf die Interessenjurisprudenz baut die sogenannte Wertungsjurisprudenz auf: Dem Gesetz liegt eine Bewertung seitens des Gesetzgebers zugrunde. Diese bewerteten Interessen werden Inhalt von Rechtsnormen.[12]

Literatur

Einzelnachweise

  1. Helmut Coing: Rechtsphilosophie, S. 136, 48 f.
  2. Johann Edelmann: Die Entwicklung der Interessensjurisprudenz. Bad Homburg. 1967.
  3. Vergleiche auch Philipp Heck: Gesetzesauslegung und Interessenjurisprudenz, AcP 112 (1914), 1 ff.
  4. Vergleiche auch Philipp Heck: Begriffsbildung und Interessensjurisprudenz. 1932. S. 17 („Primat der Lebensforschung und Lebenswertung.“)
  5. Jens Petersen: Max Webers Rechtssoziologie und die juristische Methodenlehre. 3. Auflage, Mohr Siebeck 2020. ISBN 978-3-16-159120-4. S. 4 f.
  6. Heinrich Schoppmeyer: Juristische Methode als Lebensaufgabe: Leben, Werk und Wirkungsgeschichte Philipp Hecks. Dissertation, 2001. S. 162.
  7. Uwe Wesel: Geschichte des Rechts. Von den Frühformen bis zur Gegenwart. 3. überarbeitete und erweiterte Auflage. Beck, München 2006, ISBN 3-406-47543-4. Rn. 293.
  8. Helmut Coing: Europäisches Privatrecht 1800–1914, München 1989. § 7 V, S. 51–53.
  9. Hans-Peter Haferkamp: Lebensbezüge in der Zivilrechtsdogmatik des 19. und 20. Jahrhunderts, in: Spomenica Valtazara Bogišića (Gedächtnisschrift für Valtazar Bogišića), Band 1, Belgrad 2011, S. 301–313 (302).
  10. Art. 1 ZGB, abgerufen am 17. Juli 2018.
  11. Karl Larenz: Rechts- und Staatsphilosophie, S. 23.
  12. Helmut Coing: Allgemeine Rechtsgrundsätze in der Rechtsprechung des Reichsgerichts zum Begriff der „guten Sitten.“ In: NJW I (1947/48). S. 213–217.

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