Dieser Artikel behandelt die Figur Dr. Watson, den Begleiter von Sherlock Holmes. Zum gleichnamigen Fehleranalyseprogramm in Microsoft Windows siehe Dr. Watson (Software), für andere Bedeutungen siehe Watson.
Sherlock Holmes empfindet Watsons Pragmatismus als Bereicherung und Ergänzung seines eigenen, etwas exzentrischen Charakters und schätzt ihn als Rezipienten seiner deduktiven Schlüsse. In Doyles Erzählungen erscheint Dr. Watson als gebildeter Mann von gesundem Menschenverstand, vor dem sich Holmes’ überragende Leistungen umso stärker abheben.
Dr. Watson (links) und Sherlock Holmes in einer Darstellung von Sidney Paget
Dr. Watsons Biographie, die im ersten Roman A Study in Scarlet (dt.: Eine Studie in Scharlachrot) erzählt wird, weist Parallelen zum Leben Doyles auf. Ebenso wie Doyle ist er Kriegsteilnehmer und Arzt. Watson kehrte verwundet und erkrankt aus dem Kriegseinsatz nach London zurück. Dort suchte er eine Wohnung, um sich in aller Ruhe zu kurieren. Bei der Wohnungssuche lernt er über einen gemeinsamen Bekannten den jungen Chemiker Sherlock Holmes kennen. Dieser hatte ein für ihn zu teures Appartement in der Baker Street 221b angemietet und suchte einen Mitbewohner.
In The Sign of Four heiratet Watson nach erfolgreicher Lösung des Falles Holmes’ ehemalige Klientin Miss Mary Morstan, gründet eine eigene Arztpraxis und zieht aus der gemeinsamen Wohnung aus. Dennoch findet er immer wieder Zeit, Sherlock Holmes bei seinen Fällen zu unterstützen. Während Holmes’ Abwesenheit nach seinem scheinbaren Tod in The Final Problem (dt.: Das letzte Problem) stirbt Watsons Frau, wie der Doktor in The Empty House (dt.: Das leere Haus) berichtet. Als Witwer zieht er für eine Weile zu Holmes zurück. In The Case Book of Sherlock Holmes (dt.: Sherlock Holmes’ Buch der Fälle) ist Watson wieder verheiratet, der Name seiner zweiten Frau wird nicht erwähnt.
In den Erzählungen und Romanen Doyles erscheint Watson als ein mittelgroßer, athletischer Mann in Holmes’ Alter, der auf Holmes’ weibliche Klienten oft attraktiv wirkt, und dessen Intellekt Holmes’ gleichsteht, auch wenn die beiden unterschiedliche Fähigkeiten und Bildungsschwerpunkte haben.[3] Holmes schätzt Watson als ebenbürtigen Konversationspartner, der ihm mit Informationen aushelfen kann, die dem Detektiv mangels Interesse fehlen. Beispielsweise hat Holmes geringe Kenntnisse menschlicher Anatomie und kein politisches Wissen.[4] In Anspielung auf Samuel Johnsons Biographen James Boswell sagt Holmes in A Scandal in Bohemia (dt.: Ein Skandal in Böhmen) zu Watson: „I am lost without my Boswell“.
Der Mittelname John H. Watsons wird in den Erzählungen nicht genannt und ist daher Grund diverser Spekulationen. Doyles Autorenkollegin Dorothy L. Sayers folgerte aus der Kurzgeschichte The Man with the Twisted Lip, in der Watsons Ehefrau ihren Mann „James“ nennt, der volle Mittelname müsse Hamish lauten, die schottische Variante des englischen James.[5] Einige nicht-kanonische Adaptionen, etwa die Fernsehserie Sherlock, übernehmen diesen Namen.
Stellung in der Kriminalliteratur
Mit der Figur des Dr. Watson schuf Doyle einen Prototyp der Kriminalliteratur, der seither in zahlreichen Detektivgeschichten Verwendung findet und häufig auch als „Watson-Figur“ oder als Sidekick bezeichnet wird. Er ist nicht der eigentliche, häufig als „genial“ gezeichnete Ermittler, der das Verbrechen aufklärt, sondern dessen treuer Begleiter, der das Geschehen berichtet und als Vermittler für den Leser dient, den er immer gerade mit so viel Informationen versorgt, wie es für den Handlungsfortgang notwendig ist. Dabei hat er gewöhnlich dreierlei Funktionen:
Er dient als Kontrast zum Protagonisten, dessen Genialität durch seine Bewunderung besonders hervorgehoben wird.
Er zeichnet all die Daten auf, auf denen die Schlussfolgerungen des Detektivs basieren.
Er verkörpert die gesellschaftliche Norm der Zeit. So ist Dr. Watson etwa ein klassischer Vertreter der bürgerlichen Moral des späten 19. und frühen 20. Jahrhunderts.
Des Weiteren ist Watsons Rolle und seine Funktion ein essentieller Bestandteil einer prototypischen Erzählanalyse. Da fast alle Sherlock Holmes Geschichten aus Watsons Sicht erzählt werden, sind diese auch stark von seiner Wahrnehmung abhängig. Watsons Funktion als expliziter Erzähler (en.: overt narrator) spiegelt sich im Text wider, indem er die äußeren Verhältnisse der Charaktere und Objekte, sowie die Sprache und Gedanken der Figur(en) beschreibt. Diese Art des Erzählers erlaubt auch eine Beurteilung und Kommentierung der Geschehnisse. Da diese essentiellen Funktionen von Doyle so hervorragend ausgearbeitet und auf Grund ihrer immensen Bedeutung nicht wegzudenken sind, ist Watson ein bedeutender Prototyp eines expliziten, auktorialen Erzählers in der ersten Person (en.: overt, authorial, first-person narrator)[6].
In der KrimikomödieGenie und Schnauze mit Ben Kingsley als Watson wird das Verhältnis der beiden satirisch umgekehrt. Dr. Watson ist hier ein genialer Detektiv, der, um seinen Ruf als Arzt zu wahren, einen geistig schlichten Schauspieler engagiert, die Rolle als Detektiv Holmes zu spielen.
In der Fernsehserie Elementary wird aus dem männlichen Dr. John Watson die weibliche Dr. Joan Watson. Zuvor gab es bereits in dem Film Die Rückkehr des Sherlock Holmes eine(n) weiblichen Watson, welche ein Nachkomme von Dr. John Watson und keine Variante von ihm darstellte.
↑Loren D. Estleman: On the Significance of Boswells in: Sherlock Holmes - The Complete Novels and Stories, Bantam, New York, 1986, S. VII–XVIII.
↑siehe: Conan Doyle: A Study in Scarlet, Chapter 2
↑Dorothy L. Sayers: Dr. Watson’s Christian Name. In: Unpopular Opinions. Victor Gollancz, London 1946, S. 148–151. Nach: Mitzi M. Brunsdale: Icons of Mystery and Crime Detection. From Sleuths to Superheroes. Greenwood, Santa Barbara 2010, ISBN 978-0-313-34532-6, S. 463.
↑Michael Meyer: English and American Literatures. 4. Auflage. A. Francke, Tübingen 2011, ISBN 978-3-8252-3550-5, S.69, 70, 71.
↑John Scaggs: Crime Fiction. Routledge, London 2005, ISBN 0-415-31825-4, S. 21, 25, 39.