Wiener Medizinische Schule, kurz auch Wiener Schule genannt, bezeichnet zwei, zwischen dem zweiten Viertel des 18. und dem zweiten Viertel des 20. Jahrhunderts[1] liegende bedeutende Zeiträume medizinischer Lehre und Forschung sowie praktizierter klinischer Medizin an den medizinischen Einrichtungen Wiens und deren von Wien ausgehenden Anwendung in Mittel- und Südosteuropa.
Die erste Wiener Medizinische Schule (oder ältere Wiener Schule) begann 1745, als Erzherzogin Maria Theresia den Niederländer Gerard van Swieten als Leibarzt an den Wiener Hof holte. Auf Vorschläge van Swietens und finanziell unterstützt durch den Hof, wurde 1754 die erste „moderne“ Klinik Wiens gegründet. Als deren ersten Direktor berief man den Arzt Anton de Haen, wie van Swieten ein Schüler von Boerhaave.[2] De Haens Nachfolger wurde Maximilian Stoll. Die Mediziner Leopold Auenbrugger und Anton Störck kamen als Assistenten an diese Klinik und führten später die medizinische Lehre und Forschung weiter. Weitere bedeutende klinische Lehrer, die aus der Schule hervorgingen waren laut Fischer[3] Jacquin, Laugier, Collin und Palluci. Auch Marcus Anton von Plenciz wird zu dieser Schule gezählt.
Mit dem Ersten Weltkrieg begann eine Zäsur der medizinischen Forschung in Wien, zumal in der Zwischenkriegszeit teilweise um Hungerlöhne gearbeitet und geforscht wurde.
Zahnmedizinische Wissenschaftler
Die ZahnmedizinerBernhard Gottlieb (1885–1950), Rudolf Kronfeld (1901–1940), Balint Orbán (1889–1974), Joseph Peter Weinmann (1896–1960), Albin Oppenheim (1875–1945) und Harry Sicher (1889–1974) trugen zum Ruf der Wiener Schule durch ihre Grundlagenforschung bei. Ihre Namen sind vielen hierzulande nicht bekannt, erst in Amerika – nachdem sie wegen ihrer jüdischen Abstammung nach der Annexion Österreichs durch die Nationalsozialisten vertrieben worden sind – gelangten sie zu großem Ruhm und ihre wissenschaftlichen Tätigkeiten wurden hoch geschätzt und vielfach geehrt. Die Karrieren der Wiener zahnärztlichen Wissenschaftler haben die wissenschaftlichen Grundlagen der klinischen Zahnheilkunde in den Vereinigten Staaten gestärkt, zur Entwicklung der Forschung und der Forschungseinrichtungen beigetragen und das Fachgebiet um die orale Biologie erweitert.[6]
Theodor Puschmann: Die Medicin in Wien während der letzten 100 Jahre. Perles, Wien 1884 (4 MF, Bibliothèque Nationale, Paris 1977).
Max Neuburger: Die Entwicklung der Medizin in Österreich. Fromme, Wien 1918.
Fritz Driak: Anteil der Wiener Schule an der Zahnheilkunde des XVIII. und XIX. Jahrhunderts. In: Wiener klinische Wochenschrift. Band 49, 1936, S. 951–964.
Rudolf Allers: Die Wiener Medizinische Schule. Heimat-Verlag, Brixlegg 1938 (Österreichische Bücherei Bd. 10/3A).
Die Wiener Medizinische Schule. In Ernst Marboe (Hrsg.): Das Österreich Buch. Österreichischer Bundesverlag, Wien 1948, S. 143–152.
Christian Probst: Der Weg des ärztlichen Erkennens am Krankenbett. Herman Boerhaave und die ältere Wiener medizinische Schule. Band 1 (1701–1787). Steiner, Stuttgart 1973 (= Sudhoffs Archiv. Beiheft 15), ISBN 3-515-00298-7.
Erna Lesky: Die Wiener medizinische Schule im 19. Jahrhundert. Böhlau, Graz 1978, ISBN 3-205-02022-7.
↑Karl Holubar, Helmut Wyklicky: Wiener Schule(n). 2005.
↑Vgl. Paul Diepgen, Heinz Goerke: Aschoff/Diepgen/Goerke: Kurze Übersichtstabelle zur Geschichte der Medizin. 7., neubearbeitete Auflage. Springer, Berlin/Göttingen/Heidelberg 1960, S. 31–32.
↑Georg Fischer: Chirurgie vor 100 Jahren. Historische Studie. [Gewidmet der Deutschen Gesellschaft für Chirurgie]. Verlag von F. C. W. Vogel, Leipzig 1876; Neudruck mit dem Untertitel Historische Studie über das 18. Jahrhundert aus dem Jahre 1876 und mit einem Vorwort von Rolf Winau: Springer-Verlag, Berlin/ Heidelberg/ New York 1978, ISBN 3-540-08751-6, S. 211 und 369.
↑Paul Diepgen, Heinz Goerke: Aschoff/Diepgen/Goerke: Kurze Übersichtstabelle zur Geschichte der Medizin. 7., neubearbeitete Auflage. Springer, Berlin/Göttingen/Heidelberg 1960, S. 37.
↑Ernst Kern: Sehen – Denken – Handeln eines Chirurgen im 20. Jahrhundert. ecomed, Landsberg am Lech 2000, ISBN 3-609-20149-5, S. 42.
↑Nellie W. Kremenak, Christopher A. Squier: Pioneers in Oral Biology: The Migrations of Gottlieb, Kronfeld, Orban, Weinmann, and Sicher From Vienna To America. In: Critical Reviews in Oral Biology & Medicine. 8, 2016, S. 108, doi:10.1177/10454411970080020101.