Streitraum ist eine Veranstaltungsreihe, die seit Februar 2000 von der Schaubühne am Lehniner Platz in Berlin angeboten wird. Jede Spielzeit steht unter einem aktuellen politischen, gesellschaftlichen oder wirtschaftlichen Oberthema. In vier- bis sechswöchigem Abstand werden in moderierten Podiumsgesprächen einzelne Aspekte des Themas von internationalen Gästen aus Sozial- und Geisteswissenschaften, Politik und Kultur sowie Experten aus den Bereichen Technik, Medien und Naturwissenschaft beleuchtet.
Streitraum wird kuratiert von der Journalistin und Autorin Carolin Emcke, die seit 2004 auch moderiert. Zu Beginn jeder Veranstaltung stellt sie klar, warum der Name Streitraum ein „Etikettenschwindel“ ist: Es werde nicht gestritten, sondern gemeinsam nachgedacht. Am Ende öffnet sich das Forum für Fragen aus dem Publikum.[1] Für jede Spielzeit gibt es ein Oberthema aus dem politischen, gesellschaftlichen oder wirtschaftlichen Bereich.
Geschichte
Die Schaubühne am Lehniner Platz in Berlin veranstaltet seit Januar 2000 die Reihe Streitraum und lädt dazu in vier- bis sechswöchigem Rhythmus jeweils Sonntag um 12 Uhr Experten aus den Kultur-, Sozial- oder Geisteswissenschaften des In- und Auslands ein.
Die Anfänge des Streitraums gehen ins Jahr 1996 zurück. Damals wurde die Reihe in der Baracke am Deutschen Theater Berlin unter der Leitung von Jens Hillje angeboten.[2]
Beispiel für Themenstrukturierung über eine Spielzeit
Das Thema der Spielzeit 2014/2015, Auf der Suche nach der Demokratie – oder: Öffentlichkeit und Misstrauen, wurde mit Keine Demokratie. Nirgends?[3] eröffnet. Im Gespräch mit Deirdre Curtin, Professorin für Europäisches Recht, ging es um die Rolle von Wirtschaft und Geheimdiensten als politische Akteure.
In der darauffolgenden Veranstaltung diskutierten Alain Badiou und Thomas Ostermeier aus der Sicht von Philosophie und Theater die Frage der Legitimität und Autorität von Demokratie.[4]
Zwei Streitraum-Termine im Abstand von einigen Monaten wurden für einen Blick auf die aktuelle politische Situation in Russland und der Ukraine angesetzt. Unter dem Titel Denk ich an Russland …[5] tauschten sich Carolin Emcke und ihre Gäste, darunter Alice Bota, Nino Haratischwili und Katja Petrowskaja, darüber aus, welche Bedeutung Fiktion für einen Blick auf die aktuelle politische Situation in diesen Regionen hat.
Eine weitere Veranstaltung konzentrierte sich auf die Innenpolitik: Der NSU-Prozess war das Thema von Rechtsradikalismus – im blinden Fleck der Demokratie?[6] mit Aiman Mazyek, Christoph Möllers, Özlem Topçu und der Anwältin Antonia von der Behrens.
Auf die Suche nach einer Klärung der Beziehung von Mensch und Stadt begab sich Carolin Emcke vier Wochen später mit dem indisch-amerikanischen Schriftsteller Suketu Mehta[7], während die nächste Veranstaltung, Misstrauen und Öffentlichkeit[8] mit Heinz Bude, Bernhard Pörksen und Sonja Zekri, die Vertrauenskrise des Journalismus zum Thema hatte.[9]
Der folgende Streitraum stellte eine Verbindung zu einem an der Schaubühne aufgeführten Stück her. Milo RausTheaterstückThe Civil Wars[10], das von der Schaubühne koproduziert worden war, eröffnete im April 2015 in diesem Theater das Festival Internationale Neue Dramatik (F.I.N.D.). Ausgehend von diesem Stück widmeten sich in der Podiumsdiskussion Milo Rau, die Leiterin des Instituts für Islamwissenschaft an der Freien Universität BerlinGudrun Krämer und die BundestagsabgeordneteFranziska Brantner mit Carolin Emcke der „Frage nach der Idee von Europa inmitten der Herausforderungen von Radikalisierung, Entsolidarisierung und Gewalt“.[11]
In der Abschlussveranstaltung der Spielzeit stellte der Kulturtheoretiker Klaus Theweleit Verbindungen zwischen seinen Analysen zur Lust am Töten und dem politischen Diskurs über Gewalt her.[12]
„Antisemitismus in Ungarn – Was tun?“ (2012)
Im Streitraum vom 15. Januar 2012 diskutierten zum Thema Antisemitismus in Ungarn – Was tun?[13] die Philosophin Ágnes Heller, der Publizist Paul Lendvai, der Theaterwissenschaftler Ivan Nagel und der Pianist András Schiff. Die Veranstaltung verfolgte die Absicht, das Erstarken von Antisemitismus und Fremdenfeindlichkeit in Ungarn zu untersuchen und wollte „darauf aufmerksam machen, was da jenseits aller europäischen Normen geschieht.“[14]
Während Schiff die Stimmung im Land „beängstigend“ nannte,[15] konnte Paul Lendvai keinen „von der Regierung gesteuerten“ Antisemitismus erkennen.[15] Doch es „sei in der Medienlandschaft ein offen antijüdischer Affekt gesellschaftsfähig geworden.“[16]
Ágnes Heller, die im Gegensatz zu den anderen Gästen noch in Ungarn lebt, nahm im Lauf der Diskussion die ungarische Bevölkerung „gegen allzu pauschale Verurteilungen in Schutz.“[17]
Lendvai und Heller brachten die gegenwärtige Situation mit den ungarischen Traumata des 20. Jahrhunderts in Verbindung:[17] den großen Gebietsverlusten nach dem Ersten Weltkrieg gemäß dem Vertrag von Trianon und dem Ungarischen Volksaufstand, bei dem sich Ungarn von der Welt im Stich gelassen gefühlt hatte. Ivan Nagel dagegen sah in der vermeintlichen Opferrolle Ungarns eine „Opferideologie“[17], die die Angehörigen der jüdischen Bevölkerungsgruppen erneut zum Sündenbock mache.
Die Diskutierenden waren sich einig in dem Wunsch nach einer „stärkeren Zivilgesellschaft, die auch konservative Stimmen mittragen“[15] sowie nach einem wachsamen Blick auf die „Einhaltung demokratischer Werte“[16] bei Wirtschaftshilfen von Europäischer Union und Internationalem Währungsfonds. In der abschließenden Diskussion kam aus dem Publikum der Vorschlag, ein Spendenkonto für „Gelder für die demokratische Opposition und unabhängige Medien“ zu schaffen.[17]
Sonderreihe „Streitraum extra“
Gelegentlich findet aus aktuellem Anlass auch ein Streitraum extra statt, dessen Gegenstand unabhängig vom Oberthema der Spielzeit ist. Beispiele hierfür waren 2013 Asyl in Deutschland!? Zur Situation der Flüchtlinge in Deutschland 20 Jahre nach dem ‚Asylkompromiss‘[18] und die Gespräche mit Andreas Huckele über Macht, Sexualität und Gewalt[19] sowie mit David Grossman über Trauer, Eine ausgesandte Frage.[20]
Jason Farago von BBC Culture bezeichnete den Streitraum als „an intelligent and aggressive public lecture series.“ ([23], deutsch: „ein Veranstaltungsformat mit geistreichen Podiumsdiskussionen, in denen kein Blatt vor den Mund genommen wird“) Roland Dantz, Oberbürgermeister der Stadt Kamenz, benutzte Streitraum als stehenden Begriff, als er 2015 anlässlich der Verleihung des Lessing-Preises des Freistaates Sachsen bei der Begrüßung der Preisträgerin Carolin Emcke sagte: „Wir befinden uns im Ratssaal oder besser dem Bürgersaal unserer Stadt. Hier prallen mitunter sehr unterschiedliche Ansichten aufeinander, wenn Sie so wollen, Weltanschauungen und damit, sehr geehrte Frau Carolin Emcke, begrüße ich Sie in einem Streitraum.“[24]
Finanzierung
Streitraum wird seit 2007 gemeinsam mit der Bundeszentrale für politische Bildung veranstaltet und von ihr finanziell gefördert.[25] Ihr Leiter, Thomas Krüger, war bei einigen Streitraum-Veranstaltungen Gast auf dem Podium. Die Kooperation ermöglicht mit 6,00 Euro (seit der Spielzeit 17/18) einen niedrigen Eintrittspreis, für Ermäßigungsberechtigte beträgt der Eintritt 2,00 Euro.[26]