Kreyssig wurde als Sohn eines Kaufmanns und Getreidegroßhändlers geboren. Nach der Grundschule besuchte er ein Gymnasium in Chemnitz. Er legte das Notabitur ab und meldete sich 1916 als Freiwilliger in der deutschen Armee. In den zwei letzten Kriegsjahren gelangte er nach Frankreich, ins Baltikum und nach Serbien. Nach Kriegsende studierte er zwischen 1919 und 1922 Rechtswissenschaft an der Universität Leipzig, wo er sich der Landsmannschaft Grimenisa anschloss.[1] 1923 wurde Kreyssig promoviert und nahm ab 1926 eine Tätigkeit am Landgericht Chemnitz auf. Ab 1928 war er dort als Richter tätig.
Als einziger deutscher Richter prangerte er die Euthanasiemorde der Nationalsozialisten an. Als Vormundschaftsrichter hatte er bemerkt, dass sich Nachrichten über den Tod seiner behinderten Mündel häuften. In einem Schreiben vom 8. Juli 1940 meldete er seinen Verdacht, dass die Kranken massenhaft ermordet würden, dem Reichsjustizminister Franz Gürtner, wandte sich aber auch gegen die Entrechtung der Häftlinge in den Konzentrationslagern:[3]
„Recht ist, was dem Volke nützt. Im Namen dieser furchtbaren, von allen Hütern des Rechtes in Deutschland noch immer unwidersprochenen Lehre sind ganze Gebiete des Gemeinschaftslebens vom Rechte ausgenommen, vollkommen z. B. die Konzentrationslager, vollkommen nun auch die Heil- und Pflegeanstalten.“
– Lothar Kreyssig
Als ihm bedeutet wurde, dass die Euthanasie-Aktion von Hitler selbst veranlasst worden sei und in Verantwortung der Kanzlei des Führers ausgeführt werde, erstattete Kreyssig gegen Reichsleiter Philipp Bouhler Anzeige wegen Mordes. Den Anstalten, in denen Mündel von ihm untergebracht waren, untersagte er, diese ohne seine Zustimmung zu verlegen. Am 13. November 1940 wurde Kreyssig vom Reichsjustizminister vorgeladen. Gürtner legte ihm das Handschreiben Hitlers vor, mit dem dieser die „Aktion T4“ ausgelöst hatte und das deren alleinige Rechtsgrundlage darstelle. Mit den Worten „Ein Führerwort schafft kein Recht“ machte Kreyssig deutlich, dass er dieses nicht anerkenne. Der Reichsjustizminister stellte fest, dass er dann nicht länger Richter sein könne. Im Dezember 1940 wurde Kreyssig zwangsbeurlaubt.[2] Versuche der Gestapo, ihn ins Konzentrationslager zu bringen, scheiterten. Zwei Jahre später, im März 1942, wurde Kreyssig durch Erlass Hitlers in den Ruhestand versetzt.
Kreyssig widmete sich anschließend verstärkt der ökologischen Landwirtschaft und der Arbeit in der Kirche.
Kreyssig organisierte 1943 ein Versteck für die Jüdin Gertrude Prochownik (1884–1982), die Witwe des Malers Leo Prochownik (1875–1936), als diese in den Untergrund ging, um der drohenden Deportation in ein Konzentrationslager zu entgehen. Ab dem November 1944 bis zum Kriegsende versteckte Kreyssig Prochownik dann bei sich zu Hause.[4]
Nach 1945
Nach dem Ende des Nationalsozialismus erfolgte zwar eine Würdigung als Widerstandskämpfer. Als vermeintlicher Junker verlor er jedoch Teile seines Grundbesitzes.
Wegen der nicht hinreichenden Rechtsstaatlichkeit der in der Sowjetischen Besatzungszone arbeitenden Justiz entschied sich Kreyssig gegen die Wiederaufnahme seiner beruflichen Tätigkeit. Stattdessen folgte er einem Angebot des Bischofs Otto Dibelius und wurde 1945 Konsistorialpräsident der Kirchenprovinz Sachsen in Magdeburg. 1947 wurde er Präses der Synode der Kirchenprovinz. Dieses Amt hatte er bis 1964 inne.
Auf dem Kurmärkischen Kirchentag 1950, der vom 29. Mai bis zum 1. Juni in Potsdam stattfand, hielt er nach dem Eröffnungsgottesdienst durch den Generalsuperintendenten der KurmarkWalter Braun einen Vortrag zur Frage der Verantwortung der Christen in Kirche und Gesellschaft.[5]
Sein bedeutendstes Werk war jedoch die Aktion Sühnezeichen. 1958 rief Lothar Kreyssig zu deren Gründung auf. Junge Deutsche sollten in die ehemaligen Feindländer und nach Israel gehen, um dort um Vergebung und Frieden zu bitten. Durch praktische Arbeit sollten sie ein Zeichen der Versöhnung setzen. Erste Einsatzgebiete waren Norwegen, die Niederlande, Großbritannien, Frankreich und Griechenland. Mit dem Bau der Berliner Mauer war Kreyssig von den internationalen Aktivitäten seiner Organisation abgeschnitten. Er gab daher 1962 die Leitung ab und widmete sich dem Aufbau der Aktion Sühnezeichen in der DDR. Einer der ersten Einsätze dieser Initiative war die Enttrümmerung der zerstörten Magdeburger Kirchengebäude St. Petri und Wallonerkirche.
1971 übersiedelte Kreyssig mit seiner Frau nach West-Berlin. Ab 1977 lebte er in einem Altersheim in Bergisch Gladbach, wo er 1986 starb. Lothar Kreyssig wurde im Familiengrab in Hohenferchesar beigesetzt.
An seinem 100. Geburtstag wurde im Brandenburgischen Oberlandesgericht in Brandenburg an der Havel eine Gedenktafel enthüllt. Vor dem dortigen Gebäude des früheren Amtsgerichts, heute Sitz der Generalstaatsanwaltschaft des Landes Brandenburg, Steinstraße 61, erinnern zwei Stelen an Lothar Kreyssig, im Gebäudeinneren eine Tafel mit einem von seinem Biographen Konrad Weiß verfassten Text. Die Enthüllung dieser Gedenktafel erfolgte am 11. Juli 2007 durch seine Söhne Jochen und Uwe Kreyssig. Beide waren auch anwesend, als am 5. Mai 2008 vor dem Gebäude der Generalstaatsanwaltschaft eine von der Brandenburger Juristischen Gesellschaft gestiftete Gedenkstele erhüllt wurde, die an den 50. Jahrestag des Aufrufs von Lothar Kreyssig zur Gründung der Aktion Sühnezeichen erinnert. Am 22. Oktober 2006 fand im Bundesministerium der Justiz unter der Schirmherrschaft der Bundesjustizministerin Brigitte Zypries eine Gedenkveranstaltung anlässlich des 20. Todestages von Lothar Kreyssig unter großer Anteilnahme mit der Aktion Sühnezeichen Friedensdienste statt. Am 5. Juli 2008 wurde in Hohenferchesar, seinem Wohnort von 1937 bis 1972, ein Gedenkstein enthüllt.
Der Betreuungsgerichtstag e. V. verleiht ab 2012 alle zwei Jahre einen Förderpreis im Gedenken an Lothar Kreyssig. „Sein Mut, als Vormundschaftsrichter dem Willkürregime des Nationalsozialismus entgegenzutreten und den Mord an behinderten Menschen zu verhindern“, hatte Margot von Renesse bewogen, ihn als Namensgeber des Förderpreises vorzuschlagen.[10]
Boris Böhm: Lothar Kreyssig, Paul Gerhard Braune und Walter Schadeberg: Protagonisten des protestantischen Widerstands gegen die NS-Euthanasie. In: Verena Lorber, Andreas Schmoller, Florian Schwanninger (Hrsg.): NS-Euthanasie: Wahrnehmungen – Reaktionen – Widerstand im kirchlichen und religiösen Kontext (= Historische Texte des Lern- und Gedenkorts Schloss Hartheim; 4). Studien-Verlag, Innsbruck 2021, ISBN 978-3-7065-6176-1, S. 13–34.
Wolf Kahl: Lothar Kreyssig – Amtsrichter im Widerstand und Prophet der Versöhnung. In: Deutsche Richterzeitung, Jg. 2008, S. 299–302.
Helmut Kramer: Lothar Kreyssig (1898 bis 1986), Richter und Christ im Widerstand. In: Redaktion Kritische Justiz (Hrsg.): Streitbare Juristen. Nomos, Baden-Baden 1989, ISBN 3-7890-1580-6, S. 342–354.
Martin Kramer: Kreyssig, Lothar Ernst Paul. In: Guido Heinrich, Gunter Schandera (Hrsg.): Magdeburger Biographisches Lexikon 19. und 20. Jahrhundert. Biographisches Lexikon für die Landeshauptstadt Magdeburg und die Landkreise Bördekreis, Jerichower Land, Ohrekreis und Schönebeck. Scriptum, Magdeburg 2002, ISBN 3-933046-49-1 (Artikel online).
Karl-Klaus Rabe: Umkehr in die Zukunft – Die Arbeit der Aktion Sühnezeichen/Friedensdienste. Lamuv Verlag, Göttingen 1983, ISBN 3-921521-90-4.
Hubert Schorn: Der Richter im Dritten Reich. Vittorio Kostermann, Frankfurt am Main 1959, S. 49–50, 339–345.
Anke Silomon: Widerstand von Protestanten im NS und in der DDR. In: Aus Politik und Zeitgeschichte, 14/2009 30. März 2009, S. 33–38.
Uwe Wesel: Recht, Unrecht und Gerechtigkeit. Von der Weimarer Republik bis heute. München 2003, S. 76–79.
Susanne Willems: Lothar Kreyssig – Vom eigenen verantwortlichen Handeln. Aktion Sühnezeichen/Friedensdienste, Berlin 1995, ISBN 3-89246-032-9.
Susanne Willems. In: Verfolgung, Alltag, Widerstand – Brandenburg in der NS-Zeit. Verlag Volk & Welt, Berlin 1993, ISBN 3-353-00991-4, S. 383–410.
Unrecht beim Namen genannt. Gedenken an Lothar Kreyssig am 30. Oktober 1998. Hrsg. vom Brandenburgischen Oberlandesgericht. Nomos Verlagsgesellschaft, Baden-Baden 1998, ISBN 3-7890-5878-5.
Text- und Bildquellen zur Biografie von Kreyssig u. a. auf der Homepage der Online-Ausstellung „Widerstand!? Evangelische Christinnen und Christen im Nationalsozialismus“ der Forschungsstelle für kirchliche Zeitgeschichte in München bei der Evangelischen Arbeitsgemeinschaft für Zeitgeschichte.
Einzelnachweise
↑Anschriftenverzeichnis der Alten Herren der Deutschen Landsmannschaft.
↑ abcErnst Klee: Das Personenlexikon zum Dritten Reich. Wer war was vor und nach 1945. 2. aktualisierte Auflage. Fischer Taschenbuch Verlag, Frankfurt am Main 2005, S. 340.
↑Brief vollständig abgedruckt bei Götz Aly (Hrsg.): Aktion T4 1939–1945 – Die Euthanasie-Zentrale in der Tiergartenstraße 4. Berlin 1989, ISBN 3-926175-66-4, S. 53–55. Zitat auch bei Ernst Klee: Das Personenlexikon zum Dritten Reich. Fischer Taschenbuch 2005, S. 340.