Der Bodnegger Bauernsohn Johann Baptist Hirscher besuchte zunächst die Klosterschule im nahen Kloster Weißenau (zu dem seine Heimatpfarrei Bodnegg gehörte). Nach der Aufhebung des Klosters mit dem Reichsdeputationshauptschluss 1803 wechselte er an das Gymnasium in der Bischofsstadt Konstanz, bevor er 1807 an der Universität FreiburgKatholische Theologie studierte. Von 1809 bis 1810 beendete er seine Ausbildung am Priesterseminar in Meersburg. Hirscher wurde 1810 zum Priester geweiht und war zwei Jahre lang Kurat in Röhlingen (heute zu Ellwangen). 1812 wurde er Repetent am Priesterseminar in Ellwangen.
Als Lyzealprofessor war er 1816 noch in Ellwangen, 1817 in Rottweil tätig.[2] Im Herbst 1817 wurde Hirscher auf einen Lehrstuhl für Moral- und Pastoraltheologie der Universität Tübingen berufen, den er 20 Jahre lang innehatte. 1820 wurde ihm dort der Ehrendoktortitel verliehen. 1835 erhielt er das Ritterkreuz des Ordens der Württembergischen Krone, womit der persönliche Adelstitel verbunden war.[3]
1837 wurde Hirscher Professor für Moraltheologie und Katechese an der Universität Freiburg. Von dort übte er 25 Jahre lang großen Einfluss auf die Theologie seiner Zeit aus. 1839 wurde er dort Domkapitular, 1850 Dekan des Domkapitels. Als Vertreter der Universität wurde er 1850 in die Erste Kammer des Großherzogtums Baden entsandt. Dieser Kammer gehörte er bereits von 1847 bis 1849 und nochmals von 1861 bis 1862 als vom Großherzog ernanntes Mitglied an.[4] 1863 zog er sich aus Altersgründen von der Lehre zurück, zwei Jahre später starb er in Freiburg und wurde auf dem Alten Friedhof begraben. Sein Grabmal schuf der Freiburger Bildhauer Josef Alois Knittel.[5]
Um 1846 nahm er den Neffen seiner Haushälterin Marie Luz (Lutz), Sebastian Luz, in sein Haus auf und ermöglichte ihm Gymnasialbesuch, Kunststudium und förderte ihn spirituell wie finanziell bis zu seinem Tod.
Hirscher sprach sich strikt gegen liberale Einflüsse im katholischen Schulwesen und für die konfessionell getrennten Schulen aus. Allerdings ist er auf dem Gebiet des Religionsunterrichtes für Reformansätze (u. a. Herausgabe eines Katechismus) verantwortlich. Hirscher war – damals revolutionär – gegen das Auswendiglernen, er zielte auf ein verstehendes Lernen und wollte das Lebensumfeld der Schüler in den Unterricht einbeziehen. Seine Gegner aus dem „Zweiten Mainzer Kreis“ plädierten für ein präzises Auswendiglernen des Katechismus (etwa des in Mainz benutzten Katechismus von Joseph Deharbe), durch das die Schüler das Glaubensgut wortgetreu verinnerlichen sollten. Durch seinen Ansatz kann Hirscher als der Vater des modernen korrelativen Religionsunterrichts bezeichnet werden.[6]
Zu seinen weitgehenden Reformvorschlägen für eine Modernisierung der Kirche gehörten andererseits die Einbeziehung von Laien bei Synoden und Abhaltung von Messen in der Volkssprache (zwei Forderungen, die das Zweite Vatikanische Konzil von 1962 bis 1965 schließlich einlöste) sowie die Laisierung des Klerus und die Abschaffung des Zölibats. Seine Reformforderungen brachten ihn in Gegensatz zur katholischen Lehrmeinung seiner Zeit, und zwei seiner Bücher wurden in den Index verbotener Bücher aufgenommen.
Die Kinderarbeit und andere Auswüchse der industriellen Revolution verurteilte Hirscher scharf in seiner Schrift Die socialen Zustände der Gegenwart und die Kirche von 1849. Die Probleme von Waisen und verwahrlosten Kindern beschrieb er in seiner Streitschrift Die Sorge für sittlich verwahrloste Kinder. Er forderte eine straffe Organisation der „Rettungsarbeit“ für diese Kinder unter Leitung der Bischöfe. Vom Freiburger Erzbischof Hermann von Vicari erhielt er daraufhin den Auftrag, „Erziehungshäuser“ zu gründen (etwa das Kinder- und Jugendheim St. Kilian in Walldürn). Hirscher warb für diesen Zweck viele Spenden ein und stiftete auch selbst großzügig; dafür veräußerte er auch Teile seiner über die Jahre zusammengetragenen bemerkenswerten Kunstsammlung.
In seinem Katechismus der christkatholischen Religion (1842) findet sich als „Anhang“ zum „Vierten Hauptstück“ ein Abschnitt „Von dem Verhalten der Gotteskinder gegen die Thiere“ (S. 161f.), eine frühe katholische Reaktion auf die Gründung des ersten Tierschutzvereins Deutschlands durch den evangelischen Liederdichter und Pfarrer Albert Knapp, angestoßen von der Schrift Bitte der armen Thiere (1822) des evangelischen Pfarrers Christian Adam Dann.
Hirscher hat zu Themen der Kunst nicht maßgeblich veröffentlicht, aber er war eng vernetzt mit seinem Lehrer Ignaz Heinrich von Wessenberg. Seinen Schüler im theologischen Bereich Georg Martin Dursch inspirierte er selbst zum Sammeln. Auf ihn gehen einerseits die Sammlung Dursch, eine einzigartige, homogene Sammlung mittelalterlicher Skulpturen Schwabens und andererseits mit seiner Gemäldesammlung, der Grundstock des Diözesanmuseum Rottenburg zurück. Dem künstlerisch begabten Neffen seiner Haushälterin Sebastian Luz ermöglichte er ein Stipendium an der Stuttgarter Kunstakademie und blieb mit ihm in ständigem beratendem brieflichen Austausch. Seine Sammlung wurde von Kunstkennern seiner Zeit rege besucht und wurde in kunsthistorische Schriften, zum Beispiel von Carl Grüneisen, oder Gustav Friedrich Waagen erwähnt.[9]
Seine Sammlung lässt sich hauptsächlich durch seine Verkaufsangebote und tatsächliche Veräußerungen rekonstruieren. Bereits drei Jahre nach Beginn seiner Sammeltätigkeit unterbreitete er 1821 ein Kaufangebot an Ludwig zu Oettingen-Wallerstein. Hirscher war beruflich von Ellwangen nach Tübingen gewechselt und hatte Schwierigkeiten, seine bereits auf 50 Gemälde angewachsene Sammlung adäquat unterzubringen. Oettingen-Wallerstein, der sich zu diesem Zeitpunkt mit seiner Sammlung bereits finanziell übernommen hatte, musste ablehnen.[12]
Er unterbreite diesem bereits 1821 ein Kaufangebot, was aber von nicht angenommen wurde.[13]
1834 verkaufte Hirscher 61 Tafelgemälde an den Stuttgarter Obertribunalprokurator Carl Gustav Abel (1798–1875). Der Weiterverkauf dieser Sammlung im Jahr 1859 an den Württembergischen König bildeten den Grundstock der Staatlichen Gemäldesammlung. Weitere größere Verkäufe erfolgten an die Berliner Gemäldegalerie im Jahr 1850 und an die Gemäldesammlung des Badischen Großherzugtums in Karlsruhe im Jahr 1858. Kurz vor seinem Tod verkaufte er 1865 weitere Kunstwerke an Württemberg.[14]
Die 250 Gemälde und Schnitzwerke, die sich aus den Unterlagen über die Verkäufe rekonstruieren lassen, stellen eines der geschlossensten Ensembles spätmittelalterlicher Kunst dar, die ein Privatsammler in Süddeutschland jemals zusammengetragen hat.
Die katholische Lehre vom Ablasse, pragmatisch dargestellt. Tübingen 1826, 5. Aufl. 1844 (DjVu-Format)
Betrachtungen über sämmtliche Evangelien der Fasten mit Einschluß der Leidensgeschichte. Für Homileten und Bibel-Leser; Zugleich als Beitrag zur praktischen Schrift-Erklärung. Tübingen 1829
Katechetik, oder: der Beruf des Seelsorgers die ihm anvertraute Jugend im Christenthum zu unterrichten und zu erziehen nach seinem ganzen Umfang dargestellt. Tübingen 1831
Die christliche Moral als Lehre von der Verwirklichung des göttlichen Reiches in der Menschheit. 3 Bände, 1835–1836 (GoogleBooks-Digitalisate; 1. Aufl.: Bd. 1, Bd. 2, Bd. 3; 5. Aufl. 1851: Bd. 1, Bd. 2, Bd. 3)
Betrachtungen über die sonntäglichen Evangelien des Kirchenjahrs, 2 Teile. Tübingen 1837–1843
Die Geschichte Jesu Christi, des Sohnes Gottes und Weltheilandes. Tübingen 1839
Katechismus der christkatholischen Religion. Hechingen, Carlsruhe und Freiburg 1842
Die katholische Lehre vom Ablasse mit besonderer Rücksicht auf ihre praktische Bedeutung. Laupp [u. a.], Tübingen 1844 (Digitalisat)
Der kleinere Katechismus der christkatholischen Religion. Freiburg 1845
Erörterungen über die großen religiösen Fragen der Gegenwart. 3 Bände, 1846/1847/1855 (GoogleBooks Bd. 1/2)
Die Nothwendigkeit einer lebendigen Pflege des positiven Christenthums in allen Klassen der Gesellschaft. Den deutschen Regierungen, zunächst dem deutschen Parlamente zur Würdigung vorgelegt. Tübingen 1848
Die socialen Zustände der Gegenwart und die Kirche. Tübingen 1849 (GoogleBooks)
Die kirchlichen Zustände der Gegenwart. Tübingen 1849 (GoogleBooks)
Beiträge zur Homiletik und Katechetik. Tübingen 1852
Das Leben der seligsten Jungfrau und Gottesmutter Maria. Freiburg 1853
Zur Orientirung über den derzeitigen Kirchenstreit, Freiburg 1854
Hauptstücke des christkatholischen Glaubens. Für Schule und Haus. Tübingen 1857
Betrachtungen über sämmtliche sonntägliche Episteln des Kirchenjahres, 2 Bände. Freiburg 1860
Selbsttäuschungen. Aufgezeichnet und zur Beförderung der Selbsterkenntniss an’s Licht gestellt. Freiburg 1865
Franz Bläcker: Johann Baptist von Hirscher und seine Katechismen in zeit- und geistesgeschichtlichem Zusammenhange. Ein Beitrag zur Katechismusfrage der Gegenwart. (= Untersuchungen zur Theologie der Seelsorge; Band 6). Herder, Freiburg 1953
Diözesanmuseum Rottenburg (Hrsg.) Glaube – Kunst – Hingabe. Johann Baptist Hirscher als Sammler, Katalog zur gleichnamigen Ausstellung, Ostfildern 2015, Jan Thorbecke Verlag, ISBN 978-3-7995-0690-8
Joachim Faller: „Mir scheint, es wäre an der Zeit zu handeln …“. Johann Baptist von Hirscher. Werk und Wirken in einer Epoche des Umbruchs (1845–1865). (= Forschungen zur oberrheinischen Landesgeschichte; Band 52). Alber, Freiburg / München 2006, ISBN 3-495-49952-0
Walter Fürst: Wahrheit im Interesse der Freiheit. Eine Untersuchung zur Theologie J. B. Hirschers (1788–1865) (= Tübinger theologische Studien; Band 15). Grünewald, Mainz 1979, ISBN 3-7867-0739-1
Walter Fürst, Werner Groß: Der edle Hirscher. Beiträge zu seiner Biographie und Theologie. Institut für Fort- und Weiterbildung der Kirchlichen Dienste in der Diözese Rottenburg-Stuttgart, Rottenburg 1988
Norbert Greinacher: Johann Baptist Hirscher. Reform der Kirche damals und heute. In: Theologische Quartalschrift. 168. Jg. 1988, H. 2, S. 98
Werner Groß: Johann Baptist Hirscher und die Erneuerung der Meßfeier. In: Theologische Quartalschrift. 168. Jg. 1988, H. 2, S. 115
Erwin Keller: Johann Baptist Hirscher. (= Wegbereiter heutiger Theologie; Band 1). Styria, Graz u. a. 1969 (hauptsächlich Texte Hirschers)
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