Jerzy Stempowski stammt aus einer landadeligen Familie und ist der älteste Sohn des Publizisten, Übersetzers und sozialistischen Politikers Stanisław Stempowski (1870–1952), der für die Unabhängigkeit der Ukraine eintrat und 1920/21 Minister in der Regierung Symon Petljuras während der kurzlebigen Ukrainischen Volksrepublik war.[1] Der Vater übersetzte Tolstoi, Tschechow und Saint-Exupéry ins Polnische.[2] Über seine Mutter ist nichts bekannt. Jerzy Stempowski wuchs auf einem Landgut in Podolien am rechten Ufer des Dnjestr auf, dem ehemals polnischen Teil der Ukraine, wo die Stempowskis schon seit dem 17. Jahrhundert ansässig waren. Verschiedene Nationalitätengruppen lebten hier zusammen, es wurde Polnisch, Russisch, Ukrainisch und Jiddisch gesprochen. Im Bildungsbürgertum und beim Landadel war die französische Sprache und Kultur verbreitet.[3] Stempowski selbst verfügte neben dem Polnischen über Kenntnisse des Griechischen, Lateinischen, Englischen, Französischen, Deutschen, Russischen und Ukrainischen.[4]
Von 1911 bis 1913 studierte er Philosophie und Geschichte an der Jagiellonen-Universität in Krakau, anschließend Medizin in München, Philosophie und Literaturgeschichte in Genf und Zürich sowie zwischen 1916 und 1919 in Bern. 1915 arbeitete er in Zürich an einer Dissertation über antike und christliche Philosophiegeschichte und promovierte nach dem Ende des Ersten Weltkrieges. Die Schrift ist jedoch verlorengegangen. Er war ab 1917 Mitarbeiter der türkischen, ab 1919 der polnischen Gesandtschaft in Bern und arbeitete als Korrespondent für die polnische Nachrichtenagentur in Paris, Genf und Berlin.[5] Laut Timothy Snyder wurde er in dieser Zeit mit den zeitgenössischen Kunstströmungen des italienischen Futurismus und des Dadaismus vertraut.[6] Im Polnisch-Sowjetischen Krieg 1919–1921 sammelte er als reisender Journalist (unter dem Tarnnamen „Rajmond Nyhölm“) im Nahen Osten und im Kaukasus erstmals Informationen für den polnischen Geheimdienst.[4] In den 1920er Jahren wurde er, wie sein Vater, aktiver Freimaurer.
1926 kam er nach Polen zurück, schloss sich dem eher kleinen Kreis Warschauer Intellektueller an, die – meist aus altem, kosmopolitisch denkendem Adel und klassisch gebildet – für eine liberaldemokratische und sozialistische Politik eintraten,[7] und war unter anderem im diplomatischen Dienst tätig. Er unterhielt Beziehungen zu Intellektuellen und Politikern unter anderem aus der Ukraine und der Türkei und bemühte sich um eine Verständigung zwischen Polen, Ukrainern und Juden, u. a. durch die Unterstützung des sogenannten Wolhynien-Experiments[8] der polnischen Regierung.[9] Nach kurzer Zeit verließ er den Staatsdienst, da er das zunehmend autoritäre Regime unter Józef Piłsudski ablehnte; er schrieb fortan vor allem Theaterkritiken und Texte für das Feuilleton. Einflussreich wurde sein Essay Pan Jowialski i jego spakobiercy (1931; „Herr Jowialski und seine Erben“), der an der Oberfläche die Theaterstücke Aleksander Fredros besprach, tatsächlich aber Piłsudskis Politik kritisierte.[10] Darin führte er aus, dass Handeln allein Ordnungsvorstellungen nicht ersetzen könne und Irrationalismus sich auf lange Sicht selbst besiege; er nannte den „großen Theaterdirektor“ (kaum verborgen, wer gemeint war) so „ungeduldig und eifersüchtig“ wie einen „Tyrannen“, da dessen irrationales Handeln für Fragilität und Unbeständigkeit sorge.[11]
Zwischen 1935 und 1939 unterrichtete Stempowski am Staatlichen Institut für Theater in Krakau.[12]
Nach dem deutschen Überfall auf Polen im Zweiten Weltkrieg floh er im September 1939 gemeinsam mit Stanisław Vincenz[13] über die Grenze nach Ungarn in die Karpaten, wo er sich verbarg. Er schrieb darüber ein Essay, das in deutscher Übersetzung in dem Band Die Bibliothek der Schmuggler veröffentlicht ist. Im Frühjahr 1940 gelangte er über Jugoslawien und Italien in die Schweiz und ließ sich dort auf Einladung von Hans Zbinden nieder. Er lebte in Muri bei Bern, ab 1952 in Bern, und engagierte sich bis 1946 für polnische Flüchtlinge. Für die polnische Exilregierung in London verfasste er Berichte über die Situation im besetzten Polen.[14] Nach Ende des Krieges kehrte er nicht mehr nach Polen zurück.
Ab 1947 arbeitete er dank der Unterstützung Jerzy Giedroycs[15] fest für die polnische Exilzeitschrift Kultura; als einer der wichtigsten Autoren dort[16] schrieb er Literatur- und Kulturkritiken sowie von 1954 bis 1969 unter dem Pseudonym Paweł Hostowiec die Kolumne Notatnik niespiesznego przechodnia(Notizen eines nicht beteiligten Passanten).[17] Dabei war er insbesondere an der politischen Ausrichtung der Zeitschrift beteiligt und vertrat, wie schon in der Vorkriegszeit, mittels einer „östlichen Politik“ eine enge Verbindung mit den demokratischen Bewegungen der Nachbarregionen, insbesondere in Litauen, Weißrussland und der Ukraine, aufzubauen und die frühere polnische Ostpolitik zu hinterfragen.[18] Seine Texte für das Feuilleton des Senders Radio Free Europe wurden gesammelt 1995 in Polen herausgegeben.[19]
Jerzy Stempowskis Werk umfasst Essays, biografische Erzählungen, Reisetagebücher und Briefe. Von Marcel Proust und Simone Weil beeinflusst, war er einer der ersten Schriftsteller, die die Form des Essays in die polnische Literatur einführten; auf ihn beziehen sich fast alle späteren polnischen Essayisten.[10] Er schrieb auf Polnisch und Französisch.
Ein Hauptthema seiner Texte ist die Krise der europäischen Zivilisation, so in dem Essayband Eseje dla Kassandry (1960; in englischer Übersetzung: Essays for Cassandra, 1990), in dem er auch Schicksale jüdischer und nicht-jüdischer Intellektueller und Schriftsteller, die er zwischen den beiden Weltkriegen kennengelernt hatte, schilderte.[21] Zusammen mit dem posthum veröffentlichten Band Od Berdycowa do Rzymu (1971; „Von Berdyczów nach Rom“) macht diese Sammlung etwa ein Viertel seiner an den unterschiedlichsten Stellen veröffentlichten Kurztexte zugänglich.[10] Auf Deutsch erschien 1998 in der Übersetzung von Agnieszka Grzybkowska die Bibliothek der Schmuggler, das Tagebuch seiner Reise durch Deutschland und Österreich im Herbst 1945, und 2006 der Band Von Land zu Land. Essays eines Kosmopolen. Er enthält drei essayistische Erzählungen, die zwischen 1942 und 1964 entstanden, in denen sich Stempowski mit der kulturellen Vielfalt sowie dem ethnischen und konfessionellen Nebeneinander im östlichen Mitteleuropa zu Beginn des 20. Jahrhunderts beschäftigte.[22] Die weiteren beiden Hauptthemen Stempowskis waren die Werte und Literatur der Antike und der Umgang des Menschen mit der Natur, die er melancholisch als – in Europa – weitgehend vom Menschen überformt beschrieb.[10]
Stempowski hat den Ausdruck nähere oder kleine Heimat geprägt, ein Konzept, das mehr mit dem geografischen Raum als mit dem Verlauf politischer Grenzen und Nationalitäten zu tun hat. Stanisław Vinzenz, ebenfalls ein polnischer Exilschriftsteller, bezeichnete ihn daher als Kosmopole, da nach seiner Meinung „der echte Universalismus […] seine Nahrung aus dem Regionalen“ beziehe, und Jerzy Stempowski sich mit seinem Schreiben diesen Namen verdient habe.[23]
Jerzy Stempowski korrespondierte unermüdlich mit polnischen und ukrainischen Intellektuellen und Schriftstellern, er hinterließ Tausende Briefe. Sein Briefwechsel von 1926 bis 1953 mit der Schriftstellerin Maria Dąbrowska, der Lebensgefährtin seines Vaters, wurde 2010 dreibändig in Polen verlegt.[24] In einem Brief an Józef Wittlin wies er auf den Gewinn hin, den polnische Exilschriftsteller aus dem Wissen um ihre „Vorfahren und Vorgänger im Exil“ ziehen könnten.[25]
Doch sein Projekt, eine Anthologie der Exilliteratur, beginnend bei der Verbannung Ovids, herauszugeben, mit der er „die Befreiung aus nationalen Mustern“ und die Annäherung von Schriftstellern an die Länder, in denen sie Exil fanden, befördern wollte, ist nie verwirklicht worden.[26]
Als literarischer Übersetzer aus dem Russischen trat er mit der polnischen Fassung des Romans Doktor Schiwago von Boris Pasternak(Doktor Żywago) in Erscheinung, die 1959 unter seinem Pseudonym Paweł Hostowiec beim Pariser Verlag Instytut Literacki veröffentlicht wurde. 1981 wurde seine polnische Übersetzung von Alexander Solschenizyns Erzählungen Zwischenfall auf dem Bahnhof Kretschetowka(Zdarzenie na stacji Kreczetowka) verlegt.
2004 gab ein Schweizer Verlag ein bis dahin unveröffentlichtes Tagebuch von ihm heraus. Jerzy Stempowski hat es in französischer Sprache unter dem Titel Notes pour une ombre(Notizen für einen Schatten) geführt. Es besteht aus zwei Teilen, den ersten schrieb er in der Schweiz vom 28. August 1940 bis zum 10. Februar 1941, den zweiten auf einer Reise in die Dauphiné im Juli 1942.[27] Er beleuchtete darin die politische Entwicklung in Europa und verband diese Episoden mit langen Briefen an eine geliebte Frau, Ludwika Rettingerowa, die starb, zu einem Prosatext. Sie ist der Schatten, den er zwischen den Welten der Lebenden und Toten wandern ließ.
Von Land zu Land. Essays eines Kosmopolen. Hrsg. von Basil Kerski, aus dem Polnischen von Agnieszka Grzybkowska. Friedenauer Presse, Berlin 2006, ISBN 3-932109-49-X
Das Bernerland. Aus dem Französischen übersetzt und herausgegeben von Hilde Fieguth. Verlag Hans Huber, Bern 2001, ISBN 978-3-456-83855-7.
Bibliothek der Schmuggler. Auswahl von Essays, hrsg. von Basil Kerski, aus dem Polnischen von Agnieszka Grzybkowska. Rospo Verlag, Hamburg 1998, ISBN 3-930325-16-0.
Die Polen in den Romanen Dostojewskijs (1931). Übersetzung aus dem Polnischen Renate Schmidgall. In: Marek Klecel: Polen zwischen Ost und West. Polnische Essays des 20. Jahrhunderts. Eine Anthologie. Suhrkamp, Frankfurt a. Main 1995, ISBN 978-3-518-40702-8, S. 97–120.
Timothy Snyder: Sketches from a Secret War: A Polish Artist’s Mission to Liberate Soviet Ukraine. Yale University Press, New Haven CT 2007, ISBN 0-300-10670-X (Untersuchung über den polnischen Künstler Henryk Józewski mit einigen Erwähnungen Stempowskis, siehe Register S. 346).
Małgorzata Zemła: Der polnische Essay und seine kulturmodellierende Funktion (Jerzy Stempowski und Czesław Miłosz). Kubon & Sagner, München/Berlin 2009, ISBN 978-3-86688-059-7 (zugleich Dissertation, Universität München, 2006).
Łukasz Mikołajewski: From Centre to Province. Changing Images of Europe in the Writings of Jerzy Stempowski. In: Mark Hewitson, Matthew D’Auria (Hrsg.): Europe in Crisis: Intellectuals and the European Idea, 1917–1957. Berghahn, New York 2012, ISBN 978-0-85745-727-1, S. 183–197 (Vorschau).
Dokumentarfilm
Tomasz Kaminski (Regie): Jerzy Stempowski, Telewizja Polska, Krakau 1994 (42 Minuten)
↑Siehe zu diesem weiterführend Andrzej Chojnowski: Stanisław Stempowski on his Participation in the Government of the Ukrainian People’s Republic. In: Harvard Ukrainian Studies. Bd. 14, 1990, S. 144–159.
↑Timothy Snyder: Sketches from a Secret War: A Polish Artist’s Mission to Liberate Soviet Ukraine. New Haven CT 2007, S. xix.
↑Jerzy Stempowski beschreibt die Selbstverständlichkeit der französischen Bildungstradition in Osteuropa in seinem Essay Im Tal des Dnjestr. (1941) In: Bibliothek der Schmuggler (1998), S. 22–24; siehe dazu Hans-Christian Trepte: Exilländer und Exilzentren. Präferenzerwägungen und kulturgeschichtliche Hintergründe. In: Eva Behring u. a. (Hrsg.): Grundbegriffe und Autoren ostmitteleuropäischer Exilliteraturen 1945–1989. Franz Steiner, Stuttgart 2004, ISBN 978-3-515-08389-8, S. 67–136, hier S. 76 f.
↑ abTimothy Snyder: Sketches from a Secret War: A Polish Artist’s Mission to Liberate Soviet Ukraine. New Haven CT 2007, S. 27.
↑Timothy Snyder: Sketches from a Secret War: A Polish Artist’s Mission to Liberate Soviet Ukraine. New Haven CT 2007, S. 17.
↑Łukasz Mikołajewski: From Centre to Province. Changing Images of Europe in the Writings of Jerzy Stempowski. In: Mark Hewitson, Matthew D’Auria (Hrsg.): Europe in Crisis: Intellectuals and the European Idea, 1917–1957. Berghahn, New York 2012, ISBN 978-0-85745-727-1, S. 183–197, hier S. 184.
↑Das Wolhynien-Experiment war ein grenzüberschreitendes Projekt in den Jahren 1928–1938, das den Versuch unternahm „die ukrainische Nationalbewegung in Einklang mit dem polnischen Nationalstaat zu bringen“. In: Martin Aust: Polen und Russland im Streit um die Ukraine. Konkurrierende Erinnerungen an die Kriege des 17. Jahrhunderts in den Jahren 1934 bis 2006, Harrassowitz Verlag, Wiesbaden 2009, ISBN 978-3-447-05927-5, S. 167f. (Buchrezension für H-Soz-Kult von Elena Temper)
↑Timothy Snyder: Sketches from a Secret War: A Polish Artist’s Mission to Liberate Soviet Ukraine. New Haven CT 2007, S. 41, 44 und 136.
↑ abcdeKrzysztof Kozłowski: Stempowski, Jerzy. In: Tracy Chevalier (Hrsg.): Encyclopedia of the Essay. Fitzroy Dearborn, Chicago 1997, ISBN 1-884964-30-3, S. 815.
↑Timothy Snyder: Sketches from a Secret War: A Polish Artist’s Mission to Liberate Soviet Ukraine. New Haven CT 2007, S. 25–27.
↑Kurzbiografie Jerzy Stempowski, in: Marek Klecel: Polen zwischen Ost und West. Polnische Essays des 20. Jahrhunderts. Eine Anthologie. Suhrkamp, Frankfurt a. M. 1995, S. 354 f.
↑Timothy Snyder: Sketches from a Secret War: A Polish Artist’s Mission to Liberate Soviet Ukraine. New Haven CT 2007, S. 250.
↑Hans-Christian Trepte: Exilländer und Exilzentren. Präferenzerwägungen und kulturgeschichtliche Hintergründe. In: Eva Behring u. a. (Hrsg.): Grundbegriffe und Autoren ostmitteleuropäischer Exilliteraturen 1945–1989. S. 67–136, hier S. 98.
↑Eva Behring u. a. (Hrsg.): Grundbegriffe und Autoren ostmitteleuropäischer Exilliteraturen 1945–1989. Bibliografische Notizen: Jerzy Stempowski, S. 693.
↑Łukasz Mikołajewski: From Centre to Province. Changing Images of Europe in the Writings of Jerzy Stempowski. In: Mark Hewitson, Matthew D’Auria (Hrsg.): Europe in Crisis: Intellectuals and the European Idea, 1917–1957. Berghahn, New York 2012, ISBN 978-0-85745-727-1, S. 183–197, hier S. 183.
↑Zvi Y. Gitelman (Hrsg.): The Emergence of Modern Jewish Politics: Bundism and Zionism in Eastern Europe. University of Pittsburgh Press, Pittsburgh 2003, ISBN 978-0-8229-4188-0, S. 120.
↑Zitiert in: Grundbegriffe und Autoren ostmitteleuropäischer Exilliteraturen 1945–1989, S. 25.
↑Eva Behring: Wertebildung und Kanonisierung in der enzyklopädischen Literatur und in den literaturbetrachtenden Gattungen. In: dies. u. a. (Hrsg.): Grundbegriffe und Autoren ostmitteleuropäischer Exilliteraturen 1945–1989, S. 531–545, hier S. 540.