1952 siedelten Segal und seine Frau Lilli, die beide die sowjetische Staatsbürgerschaft angenommen hatten, auf sowjetische Empfehlung in die Deutsche Demokratische Republik (DDR) über. 1953 wurde er an die Humboldt-Universität zu Berlin berufen und mit dem Aufbau eines Instituts für Allgemeine Biologie beauftragt, das sich in der Folge auf die Ausbildung von Biophysikern spezialisierte. Er leitete das Institut bis zu seiner Emeritierung im Jahre 1971. Daneben lehrte er nach der Kubanischen Revolution drei Jahre in Kuba sowie drei Semester in Mexiko. Zwischen 1952 und 1955 war er Informant des MfS. Ende 1955 erhielt sein Führungsoffizier bei der Staatssicherheit die Anweisung von einem sowjetischen KGB-Offizier, keine Treffen mehr mit Segal durchzuführen, weil sie selbst mit ihm arbeiten wollten.[3]
In den 1950er-Jahren gehörte er zu den wichtigsten Vertretern des Lyssenkoismus in der DDR.[4] Seine Forschungsgebiete waren die Struktur der Proteinmoleküle, die Rolle der Proteine in elementaren Zellfunktionen und die Immunologie. Nach seiner Emeritierung 1971 setzte Segal seine Arbeiten mit verstärkter Orientierung auf biophysikalische Probleme der Medizin fort.
Seine Urne und die seiner Ehefrau Lilli (Teddy) Segal (1913–1999) wurden auf dem Zentralfriedhof Berlin-Friedrichsfelde in der Gräberanlage für Opfer des Faschismus und Verfolgte des Naziregimes beigesetzt.
HIV-Forschung
In seinen letzten Lebensjahren bildete das HI-Virus Segals hauptsächliches Forschungsgebiet, dem er mehrere Buchveröffentlichungen widmete. In einem Buch von 1991 schlägt er vor, eine Impfung gegen AIDS mit Antigenen der inneren Proteinstruktur des Virus (Nukleokapsid Eiweiß p24) zu entwickeln. Die äußere Hülle (env, Eiweiß gp120) hätte Funktionen für das Immunsystem, deshalb störe eine Impfung mit diesem Antigen. Beim Eindringen des Virus in die Wirtszelle bleibt ein Teil des p24 an der Oberfläche der Wirtszelle hängen. Nach einer erfolgreichen Immunisierung gegen p24 vernichte das Immunsystem somit die befallenen Zellen (durch die produzierten Antikörper anti p24) und verringere die Viruslast.[5] AIDS könne geheilt werden durch Bestrahlung von Blut mit ultraviolettem Licht.[6] Beide Thesen gelten in der Forschung zu AIDS und HIV als irrig.
Segals Argumentation baute auf mehreren Säulen auf. Er zog in Zweifel, dass HIV vor 1978 in der Bevölkerung existiert habe, und verweist darauf, dass in afrikanischen Blutkonserven der 1970er und frühen 1980er Jahre, auch bei späteren Analysen keine HIV-positiven Proben gefunden werden konnten. Stattdessen beschrieb Segal, wie die AIDS-Pandemie von New York und San Francisco ausgehend Ende der 1970er Jahre ihren Anfang nahm. Erst in solchen afrikanischen Blutkonserven, die zeitlich nach ersten Epidemien in den beiden amerikanischen Städten angelegt wurden (nach 1981), sei HIV dann – in rapide steigender Häufigkeit – nachweisbar. Weiterhin behauptete Segal, dass sowohl Analysen aus Heteroduplex-Hybridisierung als auch computergestützte Vergleiche der Nukleotidsequenzen die Vermutung nahelegen, dass HIV-1 tatsächlich ein Visna-Virus sei, das um eine etwa 300 Nukleotide lange Sequenz aus HTLV-I ergänzt worden sei, und die Verwandtschaft von HIV-1 zu den damals bekannten SIV-Stämmen sei wesentlich geringer als zum Visna-Virus. Das Auftreten von HIV-2 und pathogener SIV-Stämme, die erstmals bei in Gefangenschaft lebenden Affen in den USA entdeckt wurden, interpretierte Segal als Resultate weiterer US-amerikanischer Experimente. In freier Wildbahn vorkommendes SIV sei grundsätzlich apathogen und habe keinerlei Eigenschaften eines Immunschwächevirus, die Namensgebung Simiane Immundefizienz-Virus sei eine gezielte Irreführung. Als dritten Strang zitierte Segal das Protokoll einer Sitzung der Unterkommission des Bereichs für das US-Verteidigungsbudget für 1970 mitsamt Abdruck des angeblichen Originaltexts als Faksimile, demnach im Juni 1969 geplant worden sei, aufgrund der starken Fortschritte der molekularbiologischen Möglichkeiten eine nicht-natürliche Biowaffe zu erforschen, gegen die keine Immunabwehr erworben werden kann. Das Ausbrechen von HIV in den USA deutete Segal als Folge der sehr langen Latenzzeit von AIDS, die es ermöglicht habe, dass scheinbar nicht-erkrankte Häftlinge, an denen das Virus getestet würde, freigelassen worden seien. Schließlich referierte Segal die Fachliteratur als auch die damaligen Standpunkte der WHO, demnach auch im internationalen Fachkreis vielfach die Position vertreten würde, dass ein natürlicher Ursprung von HIV in Afrika als unwahrscheinlich anzunehmen sei.[7]
Eine inhaltliche Diskussion Segals Hypothese in wissenschaftlichen Publikationen erfolgte zu keinem Zeitpunkt. Jedoch stellte der Virologe Erhard Geißler klar, dass er Segals Fort Detrick-Hypothese in Bezug auf HIV als abwegig einschätzt.[9] Da Segal annahm, dass Viren nicht zur Rekombination in der Lage wären, erschien ihm eine künstliche Entstehung plausibel.[10] Nach Segals Tod wurde nachgewiesen, dass auch HIV, wie viele anderen Viren, zur Rekombination befähigt ist und diese sogar häufig auftritt.[11] Diese Möglichkeit natürlicher Evolution von Viren, bei der es auch zum genetischen Austausch zwischen unterschiedlichen Viren kommen kann, findet in Segals Überlegungen keine Berücksichtigung.
Veröffentlichung und Wirkung
Noch 1985 nahm Segal Kontakt mit dem Kölner Molekularbiologen Benno Müller-Hill auf, um sich mit diesem über seine These auszutauschen. Der Schriftverkehr zog sich bis April 1986 und endete mit der Einschätzung Müller-Hills: „Gerade weil das von ihnen [sic?] vermutete (nicht bewiesene) Verbrechen so groß ist, ist es meiner Ansicht nach unverantwortlich … damit an die Öffentlichkeit zu gehen“.[12]
Als er seine Hypothese dennoch in der DDR veröffentlichen wollte, erteilte ihm das Politbüro, das er eigentlich um Unterstützung gebeten hatte, im Zeichen der „friedlichen Koexistenz mit den USA“ Veröffentlichungs- und Forschungsverbot. Da Segal sowjetischer Staatsbürger war, blieb es ihm möglich, im Westen zu publizieren, solange Moskau nicht intervenierte – was auch nicht geschah, da Gorbatschow zu dieser Zeit Glasnost eingeleitet hatte. Eine Publikation gelang Segal erstmals in Form einer Broschüre, die auf einer Konferenz der Blockfreien Staaten verbreitet wurde, die im Spätsommer 1986 in Harare stattfand.[13] Segal ließ hierbei afrikanischen Journalisten ein Manuskript über seine Theorie zukommen, die dazu eine englischsprachige Buchbesprechung erstellten und unter dem Titel „Aids: USA – Home-Made Evil“ im simbabwischen Magazin Social Change and Development veröffentlichten. Diese Buchbesprechung wurde von Zeitungen im Vereinigten Königreich aufgegriffen.
Eine Veröffentlichung in der Bundesrepublik Deutschland gestaltete sich schwierig. Der Frankfurter Sexualwissenschaftler Volkmar Sigusch lehnte die Veröffentlichung einer Monographie Segals zum Thema ab, nachdem er das Manuskript gelesen hatte.[13]Stefan Heym organisierte daraufhin ein ausführliches Interview, das zunächst in der Zeit erscheinen sollte. Als diese ablehnte, ebenso wie in der Folge Der Spiegel, Stern und Quick,[14] erschienen Segals vermeintliche Enthüllungen in der taz.[15] Dieses Interview erregte internationale Aufmerksamkeit und inspirierte weitere Varianten der AIDS-Verschwörungstheorie.[16]
Segals Thesen sind bis in die Gegenwart beispielsweise in Afrika (wie Sam Nujoma, bis 2005 Präsident von Namibia oder FriedensnobelpreisträgerinWangari Maathai) und in den USA populär.[17] In Deutschland verteidigt noch heute die MLPD die Thesen Jakob Segals.[18] Neben der Behauptung des US-amerikanischen Ursprungs von AIDS wurden dabei bis vor wenigen Jahren auch Behandlungsstrategien gegen AIDS, wie sie Segal vorschlug, propagiert und teilweise auch erprobt. Dies erfolgte im Rahmen des der MLPD nahestehenden Fördervereins Neue Wege in der HIV-Therapie (FNV), der sich 2012 auflöste.[19]
Publikationen
mit Lilli Segal: AIDS – die Spur führt ins Pentagon, zusammen mit Manuel Kiper, Biokrieg, Verlag Neuer Weg, 2. ergänzte Auflage Oktober 1990, ISBN 3-88021-199-X.
mit Lilli Segal, Christoph Klug: AIDS ist besiegbar. Die künstliche Herstellung, die Frühtherapie und deren Boykott, Verlag Neuer Weg, Essen 1995, ISBN 3-88021-296-1.
AIDS. Zellphysiologie Pathologie und Therapie, Verlag Neuer Weg 1992, ISBN 3-88021-211-2.
mit Gunther Seng: Methoden der UV-Bestrahlung von Blut – HOT und UVB. Grundlagen, Klinik, Praxis. Hippokrates-Verlag, Stuttgart 1998, ISBN 3-7773-0984-2.
Jakob Segal, Ute Körner, Kate P. Leiterer: Die Entstehung des Lebens aus biophysikalischer Sicht, VEB Gustav Fischer Verlag 1983.
Segal, Jakob, in: Werner Röder; Herbert A. Strauss (Hrsg.): International Biographical Dictionary of Central European Emigrés 1933–1945. Band 2,2. München : Saur, 1983, S. 1068f.
↑1992 als mögliche sowjetische Desinformations-Kampagne entlarvt ("Operation Infektion")
Einzelnachweise
↑Charlotte Böhm: „Wir bleiben auf den Barrikaden“. In: Die Tageszeitung: taz. 7. Januar 1989, ISSN0931-9085, S.9 (taz.de [abgerufen am 3. Dezember 2023]).
↑Dr. Lilli Segal. In: DRAFD-Wiki. Verband Deutscher in der Résistance (DRAFD), abgerufen am 14. Januar 2024.
↑Jakob Segal: AIDS – Zellphysiologie, Pathologie und Therapie. Verlag Neuer Weg, Essen 1992.
↑Jakob Segal und Gunther Seng: Methoden der UV-Bestrahlung von Blut – HOT und UVB. Grundlagen, Klinik, Praxis. Hippokrates-Verlag, Stuttgart 1998.
↑ abJakob und Lilli Segal: AIDS – die Spur führt ins Pentagon, zusammen mit Manuel Kiper, Biokrieg, Verlag Neuer Weg, 2. ergänzte Auflage Oktober 1990, ISBN 3-88021-199-X.
↑Christopher Andrew and Vasili Mitrokhin: The Mitrokhin Archive. The KGB in Europe and the West, Gardners Books 2000, ISBN 0-14-028487-7, S. 319.
↑Andreas Anton, Michael Schetsche, Michael K. Walter: Konspiration: Soziologie des Verschwörungsdenkens. Springer-Verlag, 2013, ISBN 978-3-531-19324-3, S.121 (google.com).
↑Jonathan M. O. Rawson, Olga A. Nikolaitchik, Brandon F. Keele: Recombination is required for efficient HIV-1 replication and the maintenance of viral genome integrity. In: Nucleic Acids Research. 2018, doi:10.1093/nar/gky910 (englisch, oup.com).
↑ abAndreas Anton, Michael Schetsche, Michael K. Walter: Konspiration: Soziologie des Verschwörungsdenkens. Springer-Verlag, 2013, ISBN 978-3-531-19324-3, S.123 (google.com).
↑Andreas Anton, Michael Schetsche, Michael K. Walter: Konspiration: Soziologie des Verschwörungsdenkens. Springer-Verlag, 2013, ISBN 978-3-531-19324-3, S.130 (google.com).
↑Jack Z. Bratich: AIDS. In: Peter Knight (Hrsg.): Conspiracy Theories in American History. An Encyclopedia. ABC Clio, Santa Barbara/Denver/London 2003, Band 1, S. 43 f.
↑Johanna Lutteroth: „Das Propaganda-Virus des KGB“. In: Zeitgeschichten auf Spiegel online. 22. Juni 2012, abgerufen am 25. November 2013.
deutscher Biologe und Leiter des Instituts für Allg. Biologie an der Humboldt-Universität in Berlin, inoffizieller Mitarbeiter der DDR-Staatssicherheit