Hans Christian Ørsted wurde als einer der beiden Söhne des Apothekers Søren Christian Ørsted geboren. Da es bis 1814 keine allgemeine Schulbildung gab, erhielten Hans Christian und sein jüngerer Bruder Anders Sandøe Ørsted hauptsächlich Unterricht von einem deutschen Perückenmacher und seiner Frau, bei denen sie u. a. Deutsch, Mathematik und die Lutherischen Katechismen lernten.[1] Durch die Arbeit in der Apotheke seines Vaters, in der er mit zwölf Jahren anfing auszuhelfen, wurde Ørsteds Interesse an der Wissenschaft geweckt. Er erlangte seine weitere Bildung hauptsächlich autodidaktisch und ging 1793 nach Kopenhagen, um seine Aufnahmeprüfung an der Universität Kopenhagen abzulegen, an der er dann Naturwissenschaften und Pharmazie studierte. Die pharmazeutischen Examina legte er 1797 ab. 1799 erlangte er den Doktorgrad mit einer Dissertation über KantsNaturphilosophie mit dem Titel Über die Architektonik der Naturmetaphysik[2] und wurde 1800 Adjunkt.
Von 1801 bis 1804 unternahm er eine ausgedehnte Studienreise durch Europa. Unter anderem verbrachte er mehrere Monate in Frankreich und Deutschland, wo er persönlich bekannt wurde mit dem Naturforscher Henrich Steffens, dem in München getroffenen Ingenieur und Sozialreformer Franz von Baader, dem ihn philosophisch beeinflussenden Naturphilosophen Schelling und dem Physiker Johann Wilhelm Ritter. Ritter war Erfinder des ersten Akkus, der Ritter’schen Ladungssäule, beschäftigte sich mit Galvanismus und gilt als Mitbegründer der Elektrochemie. Mit Ritter verband Ørsted eine langjährige Freundschaft, und dessen naturphilosophische Ideen und Ansichten gehörten zu den Grundsteinen für Ørsteds spätere Forschungen zum Elektromagnetismus. 1806 wurde Ørsted außerordentlicher Professor für Chemie und Physik an der Universität Kopenhagen. Dort wurde er 1817 ordentlicher Professor für Physik und amtierte 1825/26 und 1840/41 als Rektor.[3]
Im Januar 1812 wurde er in der Kopenhagener FreimaurerlogeFriedrich zur gekrönten Hoffnung aufgenommen und an seinem Hochzeitstag 1814, an dem er Inger Birgitte Ballum heiratete, ernannten ihn die Kopenhagener Logen zum Ehrenmitglied.[4][5][6] Ørsted hatte mit seiner Frau drei Söhne und vier Töchter.[7] Der Schriftsteller Hans Christian Andersen (1805–1875) unterhielt eine langjährige Freundschaft zu Ørsted[8][7] und wurde von dessen naturphilosophischen Ansichten beeinflusst, was sich nach Ansicht von John L. Greenway besonders in seinem MärchenDie Glocke widerspiegelt. Als Literaturkenner und überzeugt von Andersens Talent, war Ørsted 1835 eine treibende Kraft zur Veröffentlichung von Andersens Märchen (dänischEventyr, fortalte for Børn 1835–1848, dt. „Märchen, für Kinder erzählt“).[9] Die ganzheitliche Weltsicht wiederum trieb Ørsted dazu, den Zusammenhang der Naturkräfte nicht bloß mit mathematischen Formeln zu beschreiben, sondern mit einer poetisch-philosophischen Sprache.
1824 gründete er die Dänische Gesellschaft zur Verbreitung der Naturlehre. Auf Initiative von Ørsted wurde 1829 in Kopenhagen die Polytechnische Lehranstalt (dänischDen Polytekniske Læreanstalt; Vorgänger von Dänemarks Technischer Universität) gegründet, deren erster Rektor er seit der Eröffnung bis zu seinem Tod im Jahr 1851 war.[10][11] Als er im Alter von 73 Jahren in Kopenhagen verstarb, war er anerkannter Physiker, Chemiker und Astronom, und gilt heute als eine der führenden Persönlichkeiten des Goldenen Zeitalters Dänemarks. Seine Grabstätte liegt auf dem Assistenzfriedhof im Kopenhagener Stadtteil Nørrebro.
1820 beobachtete Ørsted während einer Vorlesung die Ablenkung einer Kompassnadel durch einen stromdurchflossenen Draht und entdeckte somit die magnetische Wirkung des elektrischen Stromes.[13][16] Er unternahm daraufhin hierzu weitere Experimente. Im gleichen Jahr konstruierte er das Piezometer. Ørsted war nicht der Erste, der einen Zusammenhang zwischen Elektrizität und Magnetismus entdeckte, denn bereits 18 Jahre zuvor (1802) hatte der Italiener Gian Domenico Romagnosi die gleichen Beobachtungen gemacht. Diese fanden aber zu jener Zeit keine Beachtung und gerieten in Vergessenheit. Der ohnehin zu holistischem Gedankengut neigende Ørsted erkannte sofort die Tragweite der Verknüpfung beider Phänomene. Er löste mit der Veröffentlichung[17] einer vier Seiten langen Abhandlung in lateinischer Sprache über seine Entdeckung[18] und Erkenntnisse die Entwicklung der Elektrizitätslehre und Elektrotechnik aus.
Weiterhin führte er Forschungen zu den Eigenschaften von Flüssigkeiten und Gasen durch, wobei sein Hauptaugenmerk auf deren Kompressibilität lag.
Philosophie
Ørsted führte als erster den Begriff Gedankenexperiment als Beziehung zwischen mathematischer und physikalischer Erkenntnis bei Kant ein. Die Prägung des Begriffs wird aber Ernst Mach zugeschrieben, da Ørsteds kantische Perspektive nahezu ohne begriffsgeschichtlichen Einfluss blieb.[19][20]
Rezeption
Johann Wolfgang von Goethe wurde auf die Pionierleistung von Ørsted aufmerksam und lud ihn ein, seine Experimente am Weimarer Hof vorzuführen. Anfangs war André-Marie Ampère skeptisch, ließ sich aber durch die Wiederholungen der Versuche überzeugen. Michael Faraday war von den Forschungsergebnissen beeindruckt und entdeckte elf Jahre später die elektromagnetische Induktion. Diese frühen Forschungen des 19. Jahrhunderts kulminierten in der Theorie der klassischen Elektrodynamik des Schotten James Clerk Maxwell, der mit seinen Gleichungen für Innovationen sorgte wie zum Beispiel Stromerzeugung, Antriebe, optische Erfindungen, Telegrafie und Mobilfunk.
2020 ehrte Dänemark Ørsted zum Jubiläum seiner Entdeckung vor 200 Jahren mit einer Sonderausstellung in Kopenhagen, in der die Originalgeräte seines Experiments gezeigt wurden.
Auch in der Anime-Serie Mushoku Tensei (Jobless Reincarnation in another world) findet sich Ørsted als einer der vier großen Gottheiten in der Welt von Pierre-Simon Laplace (hier: Erschaffer-Gottheit) wieder.
Schriften
H. C. Orsted’s Theory of Force: An Unpublished Textbook in Dynamical Chemistry (= Historisk-filosofiske meddelelser. Band 86). Royal Danish Academy of Sciences and Letters, C. A. Reitzel, Copenhagen 2003, ISBN 87-7876-326-6 (Scan in der Google-Buchsuche).
Der Geist in der Natur. Deutsche Originalausgabe des Verfassers, München 1850 (Scan in der Google-Buchsuche).
Der mechanische Theil der Naturlehre. Friedrich Vieweg und Sohn, Braunschweig 1851 (Scan in der Google-Buchsuche).
Versuche über die Wirkung des electrischen Conflicts auf die Magnetnadel. Selbstverlag 1820 (ufdc.ufl.edu [deutsch; Scan]; rhetos.de [deutschsprachige Transkription])
Karen Jelved, Andrew D. Jackson, Ole Knudsen (Hrsg.): Selected Scientific Works of Hans Christian Ørsted. Princeton University Press, 1998, ISBN 0-691-04334-5 (englisch).
Literatur
Robert M. Brain, Robert S. Cohen, Ole Knudsen (Hrsg.): Hans Christian Ørsted and the Romantic Legacy in Science: Ideas, Disciplines, Practices (Boston Studies in the Philosophy of Science). Springer Netherlands, Dordrecht 2007, ISBN 978-1-4020-2979-0 (englisch).
Bern Dibner: Oersted and the discovery of electromagnetism (= Publication. Band18). Burndy Library, Norwalk CT 1961, OCLC185917585 (englisch).
Dan Ch. Christensen: Hans Christian Ørsted: reading Nature’s mind, Oxford University Press 2014
An Rettig: Über Hans Christian Ørsted und die Geisteshaltung hinter der Entdeckung des Elektromagnetismus anno 1820. 2009 (uni-regensburg.de [PDF; 154kB] Hausarbeit WS08/09, Hauptseminar „Elektrodynamik im 19. Jahrhundert“, Lehrstuhl Wissenschaftsgeschichte, Universität Regensburg).
Einzelnachweise
↑Robert M. Brain, Robert S. Cohen, Ole Knudsen (Hrsg.): Hans Christian Ørsted and the Romantic Legacy in Science: Ideas, Disciplines, Practices (Boston Studies in the Philosophy of Science). Springer Netherlands, Dordrecht 2007, ISBN 978-1-4020-2979-0, S.24ff. (Scan in der Google-Buchsuche).
↑Allgemeine deutsche Real-Encyklopädie für die gebildeten Stände. F.A. Brockhaus Verlag, Leipzig 1835, S.137 (Scan in der Google-Buchsuche).
↑William R. Denslow, Harry S. Truman: 10,000 Famous Freemasons from K to Z Part Two. Kessinger Publishing, [Whitefish, Mont.] 1957, ISBN 1-4179-7579-2.
↑Eugen Lennhoff, Oskar Posner, Dieter A. Binder: Internationales Freimaurer Lexikon. 5. Auflage. Herbig Verlag, München 2006, ISBN 3-7766-2478-7, S.620.
↑Verein deutscher Freimaurer (Hrsg.): Allgemeines Handbuch der Freimaurerei. Dritte, völlig umgearbeitete Auflage von Lennings Encyklopädie der Freimaurerei. Max Hesses Verlag, Leipzig 1900, OCLC600902221.
↑ abIoan James: Remarkable Physicists – From Galileo to Yukawa. Cambridge Univ. Press, 2004, ISBN 0-521-01706-8, S.102–106.
↑John L. Greenway: „Reason in Imagination is Beauty“: Ørsted’s Acoustics and Andersen’s „The Bell“. In: Jon Stewart: Kierkegaard and his Contemporaries. The Culture of Golden Age Denmark (= Kierkegaard Studies Monograph Series 10). Walter de Gruyter, 2003, ISBN 3-11-017762-5, S.262–271 (Scan in der Google-Buchsuche).
↑ abWolfgang H. Müller: Streifzüge durch die Kontinuumstheorie. Springer-Verlag, 2011, S. 284 (Scan in der Google-Buchsuche).
↑Ludwig Darmstaedter, René Du Bois-Reymond, Carl Schaefer: Handbuch zur Geschichte der Naturwissenschaften und der Technik. Springer-Verlag, 1908, S. 334.
↑Norbert Welsch, Jürgen Schwab, Claus Liebmann: Materie: Erde, Wasser, Luft und Feuer. Springer-Verlag, 2013, S. 78 (Scan in der Google-Buchsuche).
↑John Joseph Fahie, A History of the Electric Telegraph to the Year 1837. E. & F. N. Spon, London 1884, OCLC559318239, S. 273 (Scan – Internet Archive).
↑Marco Buzzoni: Kant und das Gedankenexperiment. Über eine kantische Theorie der Gedankenexperimente in den Naturwissenschaften und in der Philosophie. In: Deutsche Zeitschrift für Philosophie. Vol. 59, No. 1, 2011, S. 93–107.
↑Ulrich Kühne: Gedankenexperiment und Erklärung. In: Bremer Philosophica. Vol. 5, 1997, S. 1–51 (pitt.edu [PDF; 408 kB]).
↑Der Orden Pour le Mérite für Wissenschaften und Künste (Hrsg.): Die Mitglieder des Ordens. 1. Band: 1842–1881. Gebrüder Mann Verlag, Berlin 1975, ISBN 3-7861-6189-5, S.78 (orden-pourlemerite.de [PDF; 18,6MB]).
↑Holger Krahnke: Die Mitglieder der Akademie der Wissenschaften zu Göttingen 1751–2001 (= Abhandlungen der Akademie der Wissenschaften zu Göttingen, Philologisch-Historische Klasse. Folge 3, Band 246; = Abhandlungen der Akademie der Wissenschaften in Göttingen, Mathematisch-Physikalische Klasse. Folge 3, Band 50). Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen 2001, ISBN 3-525-82516-1, S. 181.
↑Peter Stauning: The Ørsted Satellite Project. Danish Meteorological Institute (DMI), 14. Februar 2008 (unibz.it [PDF; 1,1 MB]).
↑Bill Glover: The Great Northern Telegraph Company. History of the Atlantic Cable & Undersea Communications. In: The Great Northern Telegraph Company, 2011, zuletzt geändert am 4. März 2017, abgerufen am 28. Mai 2013.