Georges-Arthur Goldschmidt kam 1928 in Reinbek bei Hamburg als Sohn des Oberlandesgerichtsrats Arthur Goldschmidt (1873–1947) und von Toni Katharina-Maria Jeanette Horschitz, genannt Kitty (9. Februar 1882 in Kassel – 2. Juni 1942 in Reinbek bei Hamburg), zur Welt. Sein Geburtsname war Jürgen-Arthur Goldschmidt.
Die ursprünglich jüdische Familie war im 19. Jahrhundert zum Protestantismus konvertiert, und Jürgen-Arthur wurde evangelisch-lutherisch getauft. Aber auch die Goldschmidts blieben vom Antisemitismus des aufkommenden Nationalsozialismus nicht verschont. Bereits 1937 wurde Jürgen-Arthur in Reinbek von dem dortigen Pastor Hermann Hartung (1904–1990), der sich gerne in seiner Marineuniform präsentierte[1], als „Nichtarier“ vom Kindergottesdienst ausgeschlossen.[2]
Die Judenverfolgung im nationalsozialistischen Deutschland veranlasste die Eltern im Mai 1938, Jürgen-Arthur gemeinsam mit seinem älteren Bruder Erich im Ausland in Sicherheit zu bringen. Die erstgeborene Tochter Ilse-Maria (1906–1982) lebte zunächst mit ihrem Ehemann, dem Philosophen Ludwig Landgrebe, in Prag und später in Belgien. Durch die deutschen Überfälle auf beide Staaten verlor Landgrebe seine universitären Aufgaben; das Ehepaar kehrte Ende 1940 mittellos nach Reinbek zurück; Landgrebe musste bis zum Ende der Nazi-Zeit seinen Lebensunterhalt mit kaufmännischen Hilfsarbeiten in Hamburg verdienen.
Die in Reinbek verbliebenen Eltern wurden im Februar 1942 aus der protestantischen Kirche ausgeschlossen. Es war wiederum der Reinbeker Pastor Hermann Hartung, der sich weigerte, der 1942 verstorbenen Mutter als „Glaubensschwester den letzten Segen zu geben“[3], weil sie eine „nichtarische Christin“ gewesen sei. Der Vater kam in Haft; er überlebte die Internierung im Ghetto Theresienstadt[4] und starb 1947 während der Eröffnungsfeier einer Volkshochschule in Reinbek, die er mitbegründet hatte.[5] Die Brüder haben ihre Eltern nie wiedergesehen.
Der Bruder Erich blieb in Frankreich, schrieb sich in Paris zunächst für Jura ein. Als die Einbürgerung auf sich warten ließ, meldete er sich zur Fremdenlegion und war in Indochina. Nach dem Besuch der Offiziersschule wurde er als Leutnant nach Algerien geschickt. Nach seiner Pensionierung im Range eines Majors wurde er Hauptkassierer der Bank Crédit Agricole; er starb 2010 in Draguignan.[6]
Goldschmidts Sohn Didier Goldschmidt (* 1959) ist Drehbuchautor und Filmregisseur.
Kindheit und Jugend im Exil
Jürgen-Arthur und Erich Goldschmidt wurden zunächst von einer Kurierin nach Florenz gebracht, wo Jürgen-Arthur Unterschlupf bei Paul Binswanger fand. Im März 1939 mussten die Brüder erneut vor den Nazi-Schergen flüchten und erreichten unter Lebensgefahr das französische Savoyen, wo Georges-Arthur in einem Internat bei Annecy unterkam. Die dortigen, ihn langzeitig traumatisierenden und konditionierenden Gewalterfahrungen hat er später unter anderem in seiner Erzählung Die Absonderung (1991) und in vielen seiner weiteren Werke verarbeitet. Während der deutschen Besetzung Savoyens (1943–1944) wurde er von Bergbauern versteckt gehalten, was ihn vor der Deportation bewahrte. Die ersten Jahre nach der Befreiung verbrachte Georges-Arthur Goldschmidt in einem jüdischen Waisenhaus in Pontoise bei Paris.
Leben in Frankreich als Lehrer, Übersetzer und Schriftsteller
1949 wurde er französischer Staatsbürger und konvertierte zum Katholizismus.[7] Nach dem Abitur im Jahr 1948 nahm er an der Sorbonne ein Germanistikstudium auf, 1957 legte er das französische Lehrexamen ab und unterrichtete von da an bis zu seiner Pensionierung 1992 an verschiedenen Gymnasien in und um Paris.
Schriftstellerisch betätigte sich Goldschmidt erstmals in den 1960er-Jahren. Er begann für namhafte Zeitschriften zu schreiben, teilweise in Zusammenarbeit mit seiner Frau Lucienne Geoffrey, es folgten erste Essays und Romane in französischer Sprache. Neben seiner Tätigkeit als Schriftsteller machte sich Goldschmidt auch als Literaturkritiker und Übersetzer einen Namen. Zu den von ihm übersetzten Autoren und Philosophen gehören Friedrich Nietzsche, Walter Benjamin, Franz Kafka, Adalbert Stifter, Johann Wolfgang Goethe sowie der mit ihm befreundete Österreicher Peter Handke, welcher seinerseits wiederum einige Werke Goldschmidts ins Deutsche übertragen hat.
Seit 1995 ist er Mitglied der Darmstädter Akademie. 1997 wurde Goldschmidt die Ehrendoktorwürde der Universität Osnabrück verliehen, eine Auszeichnung, mit der, so der Fachbereich Sprach- und Literaturwissenschaft der Universität Osnabrück, sein Einsatz als „einzigartiger Grenzgänger und Brückenbauer“ zwischen Deutschland und Frankreich gewürdigt werden soll. Weiterhin heißt es von Seiten des Fachbereichs zu Goldschmidts literarischem Werk:
„Georges-Arthur Goldschmidt hat die historische Verantwortung Deutschlands und das Verbrechen des Antisemitismus in ihren extremen Konsequenzen für den Einzelnen sichtbar gemacht. Seine autobiographische Prosa läßt die Dimension der inneren Gefährdung dessen, der ins Räderwerk der Verfolgung gerät, auf erschütternde Weise erkennen.“[8]
2009 wurde ihm die Ehrenbürgerschaft seiner Geburtsstadt Reinbek angetragen. 2022 war er Mitgründer des PEN Berlin.[9]
Sprach- und Übersetzungsdenken
Die französische Sprache ist für Goldschmidt die Sprache der hospitalité, der Gastfreundlichkeit. Ein Grund für ihn, seine französischen Texte in seine deutsche Muttersprache zurückzuübersetzen, besteht darin,
„weil mit dem damaligen Entsetzen nicht alles gesagt sein durfte, weil die deutsche Sprache doch so ganz anderes sagt und sie damals so wundervoll von Menschen gesprochen wurde wie zum Beispiel Hans oder Sophie Scholl […]. Durch die Sprache des Schutzes kam mir die Muttersprache zurück, erhalten, wie unverwundet und nicht verschandelt, wie nicht vom Vokabular des Mordens betroffen, was mir blieb, war die Sprache Joseph Eichendorffs oder Heinrich Heines.“[10]
Das kulturvermittelnde Übersetzen, im Sinne der hospitalité, schließlich, bedeute, dem anderen seine Menschlichkeit zeigen:
„Nichts ist unangenehmer als eine Unterhaltung in fremder Sprache, die man nicht versteht, weil Sprechen zum Verstehen drängt, zur Menschlichkeit des anderen, denn Mensch bin ich ja gerade durch das Verstehen, nicht der Zeichen, sondern des Sprechens, und nur Menschen sprechen.“[11]
Das Übersetzen erschließt für Goldschmidt, bewusst oder unbewusst, einen Moment des Verstehens einer eigenen Identität. Das Spannungsverhältnis seiner Identitäten scheint Goldschmidt gleichsam räumlich zu fühlen:
„Je tiefer man in einer Sprache sitzt, desto mehr wird man von ihr besessen und desto mehr braucht man eine andere Sprache, um auf Distanz bleiben zu können.“[12]
Und dieses Spannungsverhältnis[13] erfährt er als positives, bereicherndes Moment, das davor gehütet habe, dem Deutsch der Nazis zu verfallen.[14]
seit 2004: Das „Georges-Arthur-Goldschmidt-Programm“, ein Ausbildungsprogramm für junge Literaturübersetzer – organisiert von der Frankfurter Buchmesse, dem Deutsch-Französischen Jugendwerk, dem Bureau International de l’Édition Française und der Schweizer Kulturstiftung Pro Helvetia – trägt seinen Namen. Goldschmidt ist der Schirmherr.[15]
2021: Nominierung für den Deutschen Buchpreis (Longlist) mit Der versperrte Weg
Die Begründung der Jury für die Verleihung des Geschwister-Scholl-Preises: „Der Geschwister-Scholl-Preis wird in diesem Jahr einem Buch verliehen, mit dem sein Autor nach zwei thematisch ähnlichen Arbeiten zur deutschen Sprache zurückgefunden hat. Die Erzählung ‚Die Absonderung‘ zeichnet in höchst eindrucksvoller Weise die Erfahrungen eines Kindes nach, das zum Opfer der Willkürmaßnahmen einer Diktatur geworden ist. Georges-Arthur Goldschmidt veranschaulicht uns in beklemmenden Bildern das Erlebnis eines Opfers, das nicht anders kann, als nach und nach die Rolle des Opfers zu akzeptieren. Erfahrung und Sprache sind in dem Text eine vollendete Verbindung eingegangen. Sie bezeugt eine Nähe von beidem im Bewusstsein des Autors, von der dieser in der Absonderung selber spricht: ‚Als er am Spähwagen vorbeikam und so tat, als ginge ihn das nichts an, hörte er zwei Soldaten über ihn sprechen. Gierig beinahe hörte er nach dem Klang der Muttersprache. Jahrelang hatte er ihn nicht mehr gehört, und doch verstand er jedes Wort.‘ Dem Dichter Georges-Arthur Goldschmidt verdanken wir es, wenn wir von unserer Muttersprache und von uns selbst wieder etwas mehr verstehen.“[18]
Werke
Literatur und Essay (deutschsprachige Auswahl)
Der Spiegeltag. („Le miroir quotidien“, 1981). Ins Deutsche übertragen von Peter Handke. Suhrkamp, Frankfurt am Main, 1982.
Ein Garten in Deutschland. („Un jardin en Allemagne“, 1986). Ins Deutsche übertragen von Eugen Helmlé. Ammann, Zürich, 1988.
Der unterbrochene Wald. („La forêt interrompue“, 1991). Ins Deutsche übertragen von Peter Handke. Ammann, Zürich, 1992.
Die Absonderung. Erzählung. Ammann Verlag, Zürich 1991.
Der bestrafte Narziss. („Narcisse puni“, 1990). Ins Deutsche übertragen von Mariette Müller. Ammann, Zürich, 1994.
Die Aussetzung. Ammann, Zürich, 1996.
Als Freud das Meer sah. Freud und die deutsche Sprache. Ins Deutsche übertragen von Brigitte Große. Ammann, Zürich 1999.
Über die Flüsse. Autobiografie, Ammann, Zürich, 2001. Ins Deutsche übertragen vom Autor.
In Gegenwart des abwesenden Gottes. („En Présence du Dieu absent“, 2001). Ins Deutsche übertragen von Brigitte Große. Ammann, Zürich, 2003.
Die Faust im Mund. Essay. Übers. Brigitte Große. Ammann, Zürich 2008, ISBN 978-3-250-30021-2.
Meistens wohnt der den man sucht nebenan. Kafka lesen. Essay. Übers. Brigitte Große. S. Fischer, Frankfurt am Main 2010, ISBN 978-3-10-027824-1.
Ein Wiederkommen. („L’esprit de retour“, 2011). Erzählung. S. Fischer, Frankfurt am Main 2012, ISBN 978-3-10-027825-8. (Selbstübersetzung)
Der Ausweg. („Le recours“, 2005). Erzählung. S. Fischer, Frankfurt am Main 2014, ISBN 978-3-10-002209-7. (Selbstübersetzung)
Die Hügel von Belleville. („Les collines de Belleville“, 2015). Erzählung. S. Fischer, Frankfurt am Main, 2018, ISBN 978-3-596-70202-2 (Selbstübersetzung).
Wolfgang Asholt (Hrsg.): Studien zum Werk von Georges-Arthur Goldschmidt. Osnabrück 1999.
Klaus Bonn: Zur Topik von Haus, Garten und Wald, Meer. Georges-Arthur Goldschmidt. Bielefeld 2003, ISBN 3-89528-395-9.
Michaela Holdenried: Das Ende der Aufrichtigkeit? Zum Wandel autobiographischer Dispositive am Beispiel von Georges-Arthur Goldschmidt. In: Archiv für das Studium der neueren Sprachen und Literaturen. 149. Jg. (1997), Bd. 234, H. 1, S. 1–19.
Günther Rüther: Wohnen zwischen den Sprachen: Der deutsch-französische Autor Georges-Arthur Goldschmidt. Einführung in Leben und Werk. In: Französische Gegenwartsliteratur (= Begegnungen mit dem Nachbarn. Band 3). Konrad-Adenauer-Stiftung, Sankt Augustin 2004, ISBN 3-937731-33-4, S. 127–137 (Kurzfassung online; PDF-Datei, 39 kB).
Anne-Kathrin Reulecke: Poetik der Zweisprachigkeit. Autobiographie und Übersetzung bei Georges-Arthur Goldschmidt. Poétique du bilinguisme. Autobiographie et traduction chez Georges-Arthur Goldschmidt Reihe Conférences. Traduit de l’allemand par Franck Lemonde. (Reihe: Franz Hessel Lectures / Conférences Franz Hessel). Hg. v. Stephan Braese / Céline Trautmann-Waller. Paris: Editions de l’éclat 2018. ISBN 978-2-84162-439-3.
Tim Trzaskalik: Gegensprachen. Das Gedächtnis der Texte. Georges-Arthur Goldschmidt. Frankfurt 2007, ISBN 978-3-86109-178-3.
Renate Göllner: Masochismus und Befreiung: Georges-Arthur Goldschmit. In: Gerhard Scheit, Manfred Dahlmann (Hrsg.): sans phrase. Zeitschrift für Ideologiekritik. Heft 8, Frühjahr 2016. ça ira, Freiburg/Wien, 2016, S. 180–191
Patrick Suter, Barbara Mahlmann-Bauer (Hrsg.): Georges-Arthur Goldschmidt, Überqueren, überleben, übersetzen. Wallstein Verlag, Göttingen 2018.
Jenny Willner: Sprache, Sexualität, Nazismus. Georges-Arthur Goldschmidt und die deutsche Sprache, in: Sprache(n) im Exil. Jahrbuch für Exilforschung 32, hg. v. Dörte Bischoff, Christoph Gabriel und Esther Kilchmann. München: Edition Text + Kritik 2014. ISBN 978-3-86916-374-1
David Hellbrück: Versuch, Georges-Arthur Goldschmidts „Vom Nachexil“ zu verstehen. In: Gerhard Scheit, Manfred Dahlmann (Hrsg.): sans phrase. Zeitschrift für Ideologiekritik. Heft 17, Winter 2021. ça ira, Freiburg/Wien, 2017, S. 198–208
Herta Müller: Von ihm selbst war nur irgendjemand dabei oder Die Umgebung als Heimwehschutz. In: Herta Müller: Eine Fliege kommt durch einen halben Wald. Hanser, München 2023, S. 86–94.
Interviews und Gespräche
Schwarzfahrer des Schicksals. In: Martin Doerry (Hg): „Nirgendwo und überall zu Haus.“ Gespräche mit Überlebenden des Holocaust. DVA, München 2006, ISBN 978-3-421-04207-1. S. 186–194. (auch als CD)
Des Pudels Kern. Ein Gespräch (mit Tim Trzaskalik). Matthes & Seitz, Berlin 2008, ISBN 978-3-88221-737-7.
Gero von Boehm: Georges-Arthur Goldschmidt. 6. Juni 2002. Interview in: Begegnungen. Menschenbilder aus drei Jahrzehnten. Collection Rolf Heyne, München 2012, ISBN 978-3-89910-443-1, S. 298–306
Übersetzen über die Flüsse. Caroline Grunwald im Interview mit Goldschmidt, 24. April 2006, ReLÜ, Rezensionszeitschrift, 3, 2006. Unter anderem zur Zweisprachigkeit des Autors und sein Verhältnis zum Deutschen, zur Übersetzungsphilologie und -philosophie.
↑Arthur Goldschmidt: Geschichte der evangelischen Gemeinde Theresienstadt 1942–1945. Neu hrsg. von Thomas Hübner. In: Detlev Landgrebe, Kückallee 37, Rheinbach, CMZ-Verl., 2009, ISBN 978-3-87062-104-9.
↑Vgl. Georges-Arthur Goldschmidt: Wie Grün Rot werden soll oder Die Metamorphose des Übersetzens. In: Alberto Gil, Manfred Schmeling: Kultur übersetzen. Zur Wissenschaft des Übersetzens im deutsch-französischen Dialog. Akademie-Verlag, Berlin 2009, S. 13 f.
↑Vgl. Goldschmidt 2009, S. 9; vgl. zur künstlerischen Anverwandlung dieser Bewegung „zwischen den Räumen“ den Gedichtband zweiträume von Marlon Poggio, mit Zeichnungen von Ursula Krimm und einem Vorwort von Georges-Arthur Goldschmidt. scaneg-Verlag, München 2011, ISBN 978-3-89235-514-4.
↑Vgl. hierzu z. B. Pierre Deshusses, Irène Kuhn: Der Übersetzer: ein Seiltänzer über dem Abgrund der Sprachen. In: Alberto Gil, Manfred Schmeling: Kultur übersetzen. Zur Wissenschaft des Übersetzens im deutsch-französischen Dialog. Akademie-Verlag, Berlin 2009, S. 49 ff.
↑Vgl. zum Deutschen als „Untertanensprache“ das Gespräch von Georges-Arthur Goldschmidt mit Franziska Augstein in der Süddeutschen Zeitung am Wochenende vom 21. Januar 2012.