Ebrahim Hussein

Ebrahim Hussein (* 1943 in Lindi, Britisch-Tanganjika) ist ein tansanischer Dramatiker und Dichter, dessen Werke in der ostafrikanischen Sprache Swahili verfasst sind. Sein erstes Theaterstück, Kinjeketile (1969), das auf dem Leben von Kinjikitile Ngwale, einer Leitfigur des Maji-Maji-Aufstands während der deutschen Kolonialherrschaft in Ostafrika, beruht, gilt als „Meilenstein des tansanischen Theaters.“[1] Da Husseins Werke mit Ausnahme von Kinjeketile und eines späteren Stücks nicht übersetzt wurden, ist sein Werk außerhalb Ostafrikas nur wenig bekannt geworden.

Leben und Werk

Hussein wurde in der Küstenstadt Lindi im südöstlichen Teil des Landes geboren. Seine Ausbildung absolvierte er an der Aga Khan Secondary School in Daressalam und an der dortigen University of Eastern Africa, wo er französische Literatur und Theaterwissenschaft studierte. Sein Werk stammt aus einer Theatertradition, die nach der Unabhängigkeit des Landes von Großbritannien 1961 entstand. Die Entscheidung für Swahili als nationale und offizielle Sprache Tansanias im Jahr 1964 ließ eine eigenständige Literatur entstehen, die einen Mittelweg zwischen den Traditionen der Swahili-sprechenden Völkern der Küste und Sansibars und den Konventionen des europäischen Theaters beschritt, nachdem der Unterricht an den Universitäten auch nach der Unabhängigkeit auf Englisch abgehalten wurde.[2]

1967 schrieb Hussein seine ersten Einakter, Wakati Ukuta (dt. Die Zeit ist eine Mauer) und Alikiona (dt. Konsequenzen). Diese frühen Werke behandeln die Spannungen zwischen der alten und der neuen Generation und die Zerrissenheit, die sich aus dem europäischen Kolonialismus ergeben hatte. Obwohl Hussein Elemente der europäischen Konventionen eines klassischen Theaterstücks in der Tradition von Aristoteles übernahm, wie z. B. die Guckkastenbühne, verwendete er auch traditionelle afrikanische Theaterformen.[3] So enthalten einige seiner frühen Stücke wie Alikiona Elemente des kichekesho, einer komischen Einlage mit Liedern, die aus Taarab-Musikaufführungen bekannt sind.[4]

1969 schrieb Hussein Kinjeketile, das auf dem Leben von Kinjikitile Ngwale, einer Leitfigur des Maji-Maji-Aufstands während der deutschen Kolonialherrschaft in Ostafrika, beruht. Das Stück wurde in der Regie des Berliner Theaterwissenschaftlers Joachim Fiebach im Theater der Universität Daressalam aufgeführt und sogleich zum Vorbild des neuen ostafrikanischen Theaters. Die Übersetzung von Kinjeketile ins Englische fertigte Hussein selbst an, und durch die Veröffentlichung in einem tansanischen Verlag wurde das Stück auch außerhalb Tansanias bekannt. Neben Theaterstücken veröffentlichte Hussein auch Gedichte in freien Versen, einer damals neuen poetischen Form für die Swahili-Literatur. Seine literarischen Texte schrieb er in einer poetischen und gleichzeitig modernen Sprache, die auch an den Schulen und Universitäten Ostafrikas gelesen wurden. Sie stellten damit ein ideales Vorbild für das kulturelle Verständnis des damals sozialistischen Tansanias dar, auch wenn sie zweideutige Helden enthielten, die an ihrem Handeln zweifeln.[2]

Anfang der 1970er Jahre promovierte Hussein an der Humboldt-Universität in Berlin mit einer Dissertation über die Entwicklung des Theaters in Ostafrika.[5] Bereits in Kinjeketile hatte er Elemente des epischen Theaters im Stil von Bertolt Brecht verwendet. Später veröffentlichte er Jogoo Kijini und Ngao ya Jadi, zwei Texte für einen einzelnen Schauspieler, in denen er auf die Suaheli-Tradition des Geschichtenerzählens (Hadithi) zurückgriff.[6] Weitere Stücke sind Mashetani und Arusi, in dem Hussein seine Enttäuschung über die tansanische politische Theorie der Ujamaa zum Ausdruck bringt.[7]

1975 nahm Hussein eine Lehrtätigkeit für Theaterwissenschaften an der Universität Daresalaam auf und leitete vorübergehend die dortige Theatergruppe.[8] Bis zu seinem Ausscheiden im Jahr 1986 lehrte er als Professor für Theaterwissenschaft an der Universität Daressalaam. Nach dem Fall der Berliner Mauer schrieb Hussein ein Gedicht über dieses Eregnis. Seither führt er ein Leben ohne viele Kontakte in seinem Haus im Stadtteil Kariakoo.[2]

Werke

Theaterstücke

  • Kinjeketile, 1969, Übersetzung ins Englische 1970, ins Deutsche 1974
  • Michezo ya kuigiza, 1970
  • Mashetani, 1971
  • Jogoo Kijijini und Ngao ya Jadi, 1976
  • Arusi, 1980
  • Jambo la maana, 1982
  • Kwenye ukingo wa Thim, englische Übersetzung At the edge of Thim, 1988
  • Ujamaa

Einakter

  • Wakati Ukuta (dt. Die Zeit ist ein Kampf), 1967
  • Alikiona (dt. Konsequenzen)

Deutschsprachige Hörspielbearbeitung

Rezeption

Nicht zuletzt aufgrund seiner politischen Aussage im Kontext des Maji-Maji-Aufstands wurde Husseins erstes Theaterstück Kinjeketile zu einem der Standardthemen für Prüfungen in Suaheli in tansanischen und kenianischen Schulen und wurde mehrfach neu aufgelegt. Übersetzungen des Stücks erschienen sowohl in Englisch als auch in Deutsch.[10]

Joachim Fiebach veröffentlichte 1974 eine deutsche Übersetzung von Kinjeketile in seiner Anthologie Stücke Afrikas.[11] Weitere Studien Fiebachs über Husseins Werk erschienen in der Zeitschrift Theater der Zeit.[12] Er bezeichnete Husseins Stil als eine „Dramaturgie, die übernommene europäische Modelle eines intimen Theaters mit nicht-aristotelischen und völlig einzigartigen eigenen Techniken zu verschmelzen oder zu vermischen scheint.“[13]

In seiner Studie Ebrahim Hussein: Swahili Theatre and Individualism äußerte sich der französische Literaturwissenschaftler Alain Ricard über die Bedeutung Husseins für das Theater in der Sprache Swahili: „Ebrahim Hussein ist der bekannteste Suaheli-Dramatiker und die vielschichtigste literarische Persönlichkeit Tansanias. Er ist in erster Linie als Dramatiker bekannt, aber auch als Theoretiker, dessen Dissertation über das Theater in Tansania nach wie vor als Standardwerk gilt. Seine Stücke sind ein Korpus an theatralischem Material, das für das Verständnis der politischen und sozialen Entwicklung Tansanias im Zusammenhang mit der Suahili-islamischen Küstenkultur, zu der er gehört, von großer Bedeutung ist.“[4]

Der US-amerikanische Literaturwissenschaftler Robert M. Philipson veröffentlichte 1989 seine Dissertation mit dem Titel Drama and National Culture: a Marxist Study of Ebrahim Hussein.[14] In seiner Rezension von 1999 über Alain Ricards Studie zu Hussein schrieb Philipson: „Ebrahim Hussein ist ein schwieriger Fall. Er ist nach Wole Soyinka und Athol Fugard der interessanteste und begabteste Dramatiker, den Afrika hervorgebracht hat, doch sein Name wird in europäischen Studien über afrikanische Literatur nur selten erwähnt. [...] Der Grund dafür ist einfach: Hussein schreibt auf Suaheli, und sein dramatisches Werk, mit Ausnahme von Kinjeketile, ist nicht in eine westliche Sprache übersetzt worden.“[15]

Ebrahim Hussein Poetry Prize

Der Ebrahim Hussein Poetry Prize ist eine Auszeichnung, die seit 2014 jährlich dem Gewinner des gleichnamigen Lyrikwettbewerbs in Tansania verliehen wird. Der Wettbewerb wurde nach dem Wunsch des verstorbenen kanadischen Filmemachers Gerald Belkin (1940–2012) ins Leben gerufen. Dieser hatte Hussein in den 1960er Jahren in Tansania kennen und schätzen gelernt. Kurz vor seinem Tod hatte Belkin diesen Preis gegründet, um die Karriere von jungen Lyrikern der Suaheli-Literatur zu fördern.[16] Die ausgewählten Gedichte wurden 2017 unter dem Titel Diwani ya tunzo ya ushairi ya Ebrahim Hussein (Anthologie des Ebrahim Hussein Poetry Prize) veröffentlicht.[17]

Ebrahim Hussein Fellowship

Das Ebrahim-Hussein-Stipendi für die Erforschung afrikanischer Kulturen (expressive cultures) wurde 2003 am College of Letters and Science der University of Wisconsin-Madison dank eines Stipendiums von Robert M. Philipson, einem Absolventen des College, eingerichtet. Das College vergibt jedes Jahr 7500 US-$ an einen oder mehrere Vollzeitstudenten, die dort Forschungsarbeiten über afrikanische Kultur bzw. Archive außerhalb der Vereinigten Staaten durchführen.[18]

Literatur

Einzelnachweise

  1. Alain Ricard: Ebrahim's Predicament. In: Research in African Literatures. 23. Jahrgang, Nr. 1, 1992, S. 175–178, JSTOR:3819960 (englisch).
  2. a b c Alain Ricard: Hussein, Ebrahim. In: Dictionary of African Biography. Oxford University Press, 2011, ISBN 978-0-19-538207-5 (englisch, oxfordreference.com [abgerufen am 24. Dezember 2024]).
  3. Joachim Fiebach: Ebrahim Hussein's Dramaturgy: A Swahili Multiculturalist's Journey in Drama and Theater. In: Research in African Literatures. 28. Jahrgang, Nr. 4. Indiana University Press, 1997, S. 22–27, JSTOR:3820782 (englisch).
  4. a b Alain Ricard: Ebrahim Hussein: Swahili Theatre and Individualism. Mkuki na Nyota, Daressalam 2000, ISBN 9976-973-81-0, S. 19–21 (englisch, google.com).
  5. Ebrahim Hussein: On the development of theatre in East Africa. Hrsg.: Humboldt-Universität, Gesellschaftswiss. Fak., Diss. A. Berlin 1975 (englisch).
  6. Joachim Fiebach: Ebrahim Hussein's Dramaturgy: A Swahili Multiculturalist's Journey in Drama and Theater. In: Research in African Literatures. 28. Jahrgang, Nr. 4. Indiana University Press, 1997, S. 22–27, JSTOR:3820782 (englisch).
  7. Alain Ricard: Ebrahim's Predicament. In: Research in African Literatures. 23. Jahrgang, Nr. 1, 1992, S. 175–178, JSTOR:3819960 (englisch).
  8. Ebrahim N. Hussein. In: www.bagamoyo.com. Freundeskreis Bagamoyo e.V., abgerufen am 24. Dezember 2024.
  9. ARD-Hörspieldatenbank (Der große Zauber, Rundfunk der DDR 1973)
  10. Hussein, E.N. 1969. Kinjeketile. Kiswahili Version. Dar es Salaam: Oxford University Press; Hussein, E.N. 1970: Kinjeketile. English Version. Dar es Salaam: Oxford University Press.
  11. Joachim Fiebach, Hrsg., Stücke Afrikas, Henschel Verlag, Berlin, 1974, DNB 770096123
  12. Suche: Ebrahim Hussein. Theater der Zeit, abgerufen am 24. Dezember 2024.
  13. Fiebach 1997, S. 26
  14. Robert M. Philipson: Drama and national culture: A Marxist study of Ebrahim Hussein - ProQuest. In: www.proquest.com. University of Wisconsin-Madison, Dissertation, 1989, abgerufen am 24. Dezember 2024 (englisch).
  15. Robert Philipson: Ebrahim Hussein: Theatre swahili et nationalisme tanzanien (review). In: Research in African Literatures. Band 30, Nr. 4, 1999, ISSN 1527-2044, S. 226–227, doi:10.1353/ral.2005.0048 (englisch).
  16. The Ebrahim Hussein Poetry Prize. 1. April 2021, abgerufen am 22. Dezember 2024 (englisch).
  17. Juzuu La Pili: Diwani ya tuzo ya ushairi ya Ebrahim Hussein. Juzuu la pili. Juzuu la pili. Mkuki na Nyota Publishers, Dar es Salaam 2017, ISBN 978-9987-08-326-8 (Suaheli).
  18. Ebrahim Hussein Fellowship. University of Wisconsin, African Cultural Studies Dept, abgerufen am 11. September 2020 (englisch).

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