(1) Jeder hat das Recht auf die freie Entfaltung seiner Persönlichkeit, soweit er nicht die Rechte anderer verletzt und nicht gegen die verfassungsmäßige Ordnung oder das Sittengesetz verstößt.
(2) Jeder hat das Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit. Die Freiheit der Person ist unverletzlich. In diese Rechte darf nur auf Grund eines Gesetzes eingegriffen werden.
Erläuterung
Absatz 1
Das Freiheitsgrundrecht garantiert die Handlungsfreiheit[1] und in Verbindung mit Art. 1 GG das allgemeine Persönlichkeitsrecht[2]. Erfasst wird nach der inzwischen völlig herrschenden weiten Auffassung von der allgemeinen Handlungsfreiheit „jede Form menschlichen Handelns ohne Rücksicht darauf, welches Gewicht der Betätigung für die Persönlichkeitsentfaltung zukommt“[3]. Die allgemeine Handlungsfreiheit umfasst neben jeglichen auch banalen Verhaltensweisen auch Verdichtungen in Form der sogenannten Innominatsfreiheitsrechte:[4] zum Beispiel die Vertragsfreiheit[5], die Auswanderungsfreiheit[6] oder den Schutz vor kompetenzwidrigen oder sonst rechtswidrigen Abgaben und Steuern[7]. Das allgemeine Persönlichkeitsrecht umfasst zum Beispiel den Schutz der persönlichen Ehre und das Recht am eigenen Wort und Bild oder die Darstellung der eigenen Person, zum Beispiel in einem Zeitungsartikel. In allen diesen Bereichen hat jeder die Möglichkeit mitzubestimmen, wie weit Informationen über ihn an die Öffentlichkeit gehen dürfen.
Eine Einschränkung erfahren diese Grundrechte durch die Rechte anderer, das Sittengesetz und die verfassungsmäßige Ordnung (Schrankentrias). Unter verfassungsmäßiger Ordnung versteht man „alle Rechtsnormen […], die formell und materiell mit der Verfassung in Einklang stehen“.[8] Der Begriff Sittengesetz ist kein Gesetz im klassischen Sinne, sondern umfasst Regelungen, die der jeweiligen Moral- und Wertvorstellung entsprechen. Teilweise wird den Rechten anderer und dem Sittengesetz schon eine eigenständige Bedeutung abgesprochen, da sie als Teil der verfassungsmäßigen Ordnung schon positiv rechtlich geregelt seien.[9]
Absatz 2
Der Absatz ergänzt und konkretisiert die unverletzlichen Rechte aus Art. 1 GG, die zu achten und zu schützen Verpflichtung aller staatlichen Gewalt ist. Das Recht auf Leben schützt den Grundrechtsträger gegen Verletzungen seines Lebens durch den Staat sowie durch Dritte und verpflichtet den Staat, Eingriffe nicht nur zu unterlassen, sondern aktiv zum Schutz gegen solche tätig zu werden. Das Bundesverfassungsgericht entschied in zwei Urteilen darüber hinaus, dass sich aus Art. 1 und 2 GG eine Schutzpflicht des Staates für das ungeborene Leben ableitet (siehe Schwangerschaftsabbruch).[10][11]
Die Grundrechte des Art. 2 GG gehören zu den Rechten, die häufig in der Rechtsgeschichte der Bundesrepublik Deutschland Gegenstand von Verhandlungen vor dem Bundesverfassungsgericht (BVerfG) waren.
Zu einer Kontroverse um das Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit kam es infolge der Terroranschläge am 11. September 2001. Gegenstand der Diskussion war die Frage, ob ein Passagierflugzeug, das von Terroristen mit dem Ziel, ein Gebäude zu zerstören, entführt wurde, präventiv abgeschossen werden dürfe. Hierbei stand nicht die Frage im Vordergrund, ob die Terroristen zwecks Vereitelung eines Anschlags getötet werden dürfen (wie z. B. bei der Diskussion um den finalen Rettungsschuss), sondern die Frage nach den Rechten der Passagiere, die durch die Entführung ihrer Freiheit beraubt, aber (noch) nicht durch den eigentlichen Anschlag getötet wurden. Der damalige Verteidigungsminister Jung berief sich bei der Befürwortung eines solchen Abschusses auf einen „übergesetzlichen Notstand“, der Art. 2 Abs. 2 GG aufgrund eines nicht durch das Gesetz geregelten Notstands faktisch außer Kraft setzen würde. Dieser Argumentation wurde entgegengesetzt, dass den Passagieren das Recht auf Leben bis zu ihrem Tode nicht genommen werden könne, zumal den betroffenen Personen auch die Möglichkeit eigenen Handelns im Sinne Art. 2 Abs. 1 GG genommen würde. Vor allem die Ereignisse im sogenannten 4. Flugzeug, das die Passagiere durch ihre Handlungen vor Vollendung des Terroranschlages zum Absturz gebracht hatten, wurden als Argument einer unabwendbaren Entscheidung zum Wohle Dritter entgegengesetzt. Eine wirksame gesetzliche Regelung wurde bis heute (Stand 2021) nicht getroffen. Das Luftsicherheitsgesetz wurde zunächst zwar angepasst, um die Möglichkeit eines Abschusses durch die Bundeswehr zu ermöglichen (§ 14 Abs. 3 LuftSiG), allerdings ist dieses Gesetz 2005 schon aus formell-verfassungsrechtlichen Gründen vom Bundesverfassungsgericht für nichtig erklärt worden, da der bewaffnete Einsatz der Bundeswehr im Inneren durch Art. 35 Abs. 2 Satz 2 und Abs. 3 Satz 1 GG nicht gedeckt sei. Mit Urteil vom 15. Februar 2006 wurde der Abschuss von Luftfahrzeugen auch materiell für verfassungswidrig erklärt, als dadurch unbeteiligte Menschen an Bord des Luftfahrzeugs betroffen werden. Dies verstoße gegen das Recht auf Leben (nach Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG) in Verbindung mit der Menschenwürdegarantie (nach Art. 1 Abs. 1 GG).[14][15]
Literatur
Wolfgang Kahl et al.: Bonner Kommentar zum Grundgesetz. 158. Aktualisierung, Müller Verlag, Heidelberg 2012, ISBN 978-3-8114-1053-4, 1. Abschnitt.
Theodor Maunz (Begr.), Günter Dürig (Begr.): Grundgesetz. Kommentar. Beck Verlag, München 2012, ISBN 978-3-406-63690-5, Teil B.
Detlef Merten (Hrsg.), Hans-Jürgen Papier (Hrsg.): Handbuch der Grundrechte. In Deutschland und Europa. (Band 4). Müller Verlag, Heidelberg 2011, ISBN 978-3-8114-4443-0, S. 137–289.
Hermann von Mangoldt (Begr.), Friedrich Klein (Hrsg.), Christian Stark (Hrsg.): Kommentar zum Grundgesetz. (Band 1). 5. Auflage, Vahlen Verlag, München 2005, ISBN 3-8006-3187-3, S. 173–280.
Einzelnachweise
↑Heinrich Lang in: BeckOK Grundgesetz, Epping/Hillgruber, 47. Edition, Stand: 15. Mai 2021, GG Art. 2 Rn. 1.
↑BVerfG, Beschluss vom 3. Juni 1980, Az. 1 BvR 185/77, BVerfGE 54, 148.
↑BVerfG, Beschluss vom 9. März 1994 - 2 BvL 43/92 u. a.
↑Heinrich Lang in: BeckOK Grundgesetz, Epping/Hillgruber, 47. Edition, Stand: 15. Mai 2021, GG Art. 2 Rn. 5.
↑BVerfG, Beschluss vom 18. Juli 2019, Az. 1 BvL 1/18, 1 BvL 4/18, 1 BvR 1595/18, Rn. 90 – Mietpreisbremse.