Als AGV (französischAutomotrice à grande vitesse ‚Hochgeschwindigkeits-Triebwagen‘) bezeichnet der französische Hersteller von SchienenfahrzeugenAlstom eine Familie von Hochgeschwindigkeitstriebzügen. Die Züge galten zunächst als Nachfolger des TGV[1], den Alstom jedoch parallel weiterentwickelte. Seit 2015 präsentiert Alstom den AGV als Teil ihrer Avelia-Hochgeschwindigkeitszüge, wozu neben dem AGV unter anderem die aktuellen Modelle des Pendolino und der Euroduplex gehören.[2]
Der italienische Betreiber NTV führt seine AGV-Züge unter der Baureihenbezeichnung ETR 575.[3]
Anfänglich wurde das Projekt – wie zuvor schon die Entwicklung des TGV – gemeinsam von Alstom und der SNCF getragen. Nachdem letztere sich zurückgezogen hatte, wurde der AGV allein von Alstom zur Serienreife entwickelt.[1]
Die Entwicklungskosten werden mit 100 Mio. Euro angegeben.
In der Entwicklungsphase der Fahrzeuge wurde besonderer Wert auf das Design der Züge gelegt. Etwa 20 Designer waren nach Herstellerangaben an der Gestaltung des neuen Triebzuges beteiligt.[4] Das Design der Frontpartie wurde an das eines Kampfjets angelehnt.[5]
Prototypen
Bereits im Jahr 2000 war ein als „Automotrice à grande vitesse“ bezeichneter, unterflur angetriebener Zug als Prototyp in Bau. Ein Konsortium von Alstom und CAF bot diese Züge, neben zwei anderen TGV-Varianten, der spanischen RENFE auf eine Ausschreibung von 26 bis 40 Zügen für die Schnellfahrstrecke Madrid–Barcelona an.[6] Die für eine betriebliche Höchstgeschwindigkeit von 350 km/h ausgelegte Garnitur wurde als Gelenktriebzug mit Jakobsdrehgestellen unter einer Radsatzlastung von höchstens 17 t konzipiert. Jede Achse der drei Mittelwagen wurde mit Drehstrom-Asynchronmotoren mit je 600 kW Leistung angetrieben. In den Endwagen, die zur Wahrung der Radsatzhöchstlast dreiachsig ausgeführt wurden, wurden die 6,5 t schweren Transformatoren untergebracht. Ein zehnteiliger Zug sollte 411 Reisenden Platz bieten. Alle neuen Komponenten wurden zuvor in TGV-Zügen erprobt.[7]
2001 Elisa
Im November 2001 begannen die Testfahrten mit dem als Elisa bezeichneten Erprobungsträger für den geplanten AGV, an dem die SNCF nach Medienberichten geringes Interesse zeigte.[8] Er setzte sich zusammen aus einem angetriebenen Endwagen von Alstom, einem angetriebenen Mittelwagen von CAF, vier TGV-Réseau-Wagen und einem TGV-Réseau-Triebkopf.[9] Die Probefahrten wurden im April 2002 in Nordfrankreich fortgesetzt.
2008 Präsentation und erster Kunde
Am 5. Februar 2008 wurde in der Nähe von La Rochelle im Beisein des Staatspräsidenten Nicolas Sarkozy ein Prototyp präsentiert.[10] Die Vorstellung des aus drei Wagen bestehendes Zuges hatte zahlreiche Medienberichte zur Folge, die insbesondere den Vergleich zwischen AGV und ICE, den Nutzen von Hochgeschwindigkeitszügen und die Marktsituation für Hochgeschwindigkeitszüge thematisierten.[11][12][13] Bereits vor der Präsentation des Prototyps wurde Mitte Januar 2008 ein erster Exportvertrag über 25 Züge für 650 Millionen Euro (samt Wartung 1,5 Milliarden Euro) mit dem privaten italienischen Bahnbetreiber NTV abgeschlossen.[14]
2008 Pégase
Die als „Pégase“ (für Prototype Evolutif Grande vitesse Automotrice Standard Européen) bezeichnete siebenteilige Prototyp-Einheit absolvierte ab Mai 2008 auf dem Eisenbahnversuchsring Velim erste lauf- und bremstechnische sowie akustische Versuche, bei Fahrgeschwindigkeiten bis zu 200 km/h und legte dort insgesamt rund 60.000 km zurück. Der 132 m lange Triebzug verfügte über vier Triebdrehgestelle, mit einer Gesamtleistung von 5,6 MW.[4][15][16] Von den sieben Wagen waren nur zwei mit regulären Sitzplätzen ausgestattet. Zwei weitere Wagen dienten als Arbeitsplatz für Ingenieure, ein weiterer Wagen beinhaltete einen Generator, der die Messinstrumente mit Energie versorgt. Die beiden übrigen Wagen dienten als Ersatzteillager sowie als Wohnbereich für die Ingenieure.[5]
Im Juni 2008 wurde der Zug auf der Testanlage dem Fachpublikum vorgestellt[5] und im September 2008 auf der Innotrans ausgestellt. Der Zug erhielt anschließend in Frankreich die für Fahrten bis 360 km/h notwendige Sicherungstechnik, wo im Dezember 2008 auf der LGV Est européenne Testfahrten begannen. Dabei erreichte der Zug eine Geschwindigkeit von mindestens 340 km/h.[17] Der Hersteller strebte zunächst die Zulassung für Frankreich und Italien an, später eventuell auch für Deutschland.[5] Bis Ende Juli 2009 absolvierte der Prototyp rund 7.500 km bei Testfahrten mit bis zu 360 km/h auf der LGV Est.[18]
Im Sommer 2009 wurde auf dem Versuchsgelände in Velim die kundenspezifische Zulassung durchgeführt.[18]
Am 9. Februar 2010 begannen in Italien Inbetriebnahme- und Zulassungsfahrten. Im März 2010 erreichte der Zug dabei, zwischen Rom und Neapel, erstmals eine Geschwindigkeit von 300 km/h; Fahrten mit bis zu 330 km/h sollten folgen.[19][20]
Kunde und Teilnahmen an Ausschreibungen
Die Bestellung durch den italienischen Zugbetreiber NTV umfasste insgesamt 25 Züge zu je elf Sektionen, mit einer Option auf zehn weitere Triebzüge. Die Züge sind für jeweils 500 Fahrgäste ausgelegt und kosten insgesamt 650 Millionen Euro. Das Auftragsvolumen beträgt inklusive Instandhaltung über 30 Jahre 1,5 Milliarden Euro.[1][21] Mit seinem Angebot setzte sich Alstom gegenüber Siemens und Bombardier durch. Die Züge verkehren seit dem 28. April 2012 unter dem Namen Italo von Mailand nach Turin und Neapel sowie von Rom nach Venedig und Bari.
Die Produktion der 200 m langen und 8,4 bis 9 MW starken Triebzüge begann 2009 im Werk La Rochelle, der erste Zug wurde Ende 2010 ausgeliefert. 2010/11 erfolgten Testfahrten in Italien.[22] 17 der 25 als Baureihe 575 bezeichneten Züge wurden in La Rochelle gebaut, 8 weitere im italienischen Savigliano. Die erste der in Italien gebauten Einheiten wurde im November 2011 präsentiert.[23] Sie bieten in 11 Wagen 450 Sitzplätze und erreichen (unter 25 kV Wechselstrom) eine Höchstgeschwindigkeit von 300 km/h. Die Antriebsleistung von 7,5 MW verteilt sich auf zehn permanenterregte Elektromotoren.[24] Die Züge von NTV beförderten bereits in den ersten 8 Monaten 2 Millionen Personen[25] und hatten bis 2019 100 Millionen Kilometer zurückgelegt.[26]
Alstom beteiligte sich mit diesem Zug auch an einer Ausschreibung der Deutschen Bahn für 15 grenzüberschreitend einsetzbare Hochgeschwindigkeitszüge[13], unterlag aber Ende November 2008 dem Velaro.[27] Alstom hatte 2010 Interesse an einer Ausschreibung für IC/ICE-Nachfolgerzüge gezeigt und erwog, neben dem TGV Duplex auch den AGV anzubieten. Das Unternehmen unterbreitete schließlich kein konkretes Angebot.[28]
Auch die Fluggesellschaft Air France kündigte an, den AGV zukünftig im Bereich des Mittelstreckenverkehrs einzusetzen. Bereits heute mietet die Fluggesellschaft TGV-Züge zwischen dem Pariser Flughafen Charles de Gaulle und Brüssel.[29]
Die Eurostar Group bekundete Interesse am AGV für den Verkehr durch den Ärmelkanaltunnel. Die bisherigen Eurostar-Triebzüge müssten nach 15 Jahren im Einsatz grundlegend überarbeitet oder durch neue Einheiten ersetzt werden.[30] Im Dezember 2010 wurden jedoch Verträge mit Siemens über 16-teilige Velaro-Triebzüge geschlossen, die als Eurostar 320 bezeichnet werden.[31]
Der Vorsitzende von Alstom Transport, Philippe Mellier, erwähnte 2008 das erste Mal einen AGV Duplex, der für die SNCF zum Ersatz von deren doppelstöckigen TGV entwickelt wird.[34] Im Juni 2011 meldete Les Échos dann, dass Alstom einen „AGV II“ entwickelt, der auch in einer doppelstöckigen Konfiguration bis 380 km/h erreichen kann.[35] Der 'AGV II Duplex' sollte voraussichtlich in eine Bestellung der SNCF einfließen, die für 2015 erwartet wurde.[35][36] Im Dezember 2015 wurde dann eine Forschungskooperation bekannt gemacht, bei dem Alstom und die ADEME (Agence de l'environnement et de la maîtrise de l'énergie) unter dem Namen 'SpeedInnov' die Nachfolgegeneration an Hochgeschwindigkeitszügen entwickeln.[37]
In Oktober 2015 wurde die Technik in die neue Marke Avelia eingruppiert, die Alstoms bestehende Angebote für Hochgeschwindigkeitszüge umfasst, namentlich Pendolino, Euroduplex und AGV.[2] Zu diesem Zeitpunkt kaufte NTV gerade 8 Avelia Pendolino Hochgeschwindigkeitszüge, die bis zu 250 km/h erreichen.[2] Im August 2016 gaben dann Amtrak und Alstom bekannt, dass zum Ersatz der Acela Express im Nordostkorridor 28 Avelia Liberty bestellt wurden.[38][39] Die Avelia Liberty kombinieren dabei Geschwindigkeitsvorteile durch aktive Neigetechnik für Geschwindigkeiten bis 300 km/h mit einer Höchstgeschwindigkeit ohne Neigetechnik von bis zu 350 km/h. Im Gegensatz zu den AGV und wie bei den TGV ist der gesamte Antriebsstrang in den beiden Triebköpfen konzentriert.
Die Kooperation mit der SNCF mündete schließlich in eine Bestellung von 100 doppelstöckigen Zügen des Typs Avelia Horizon im August 2018.[40] Diese erreichen ebenfalls eine Höchstgeschwindigkeit von 350 km/h und haben Triebköpfe und antriebslose Mittelwagen. Die Produktion dieser Züge begann im Sommer 2020, der Wagenausbau wird im Herbst 2021 beginnen. Fahrtests sollen ab Mai 2022 stattfinden und im folgenden Jahre die Auslieferung starten. Die SNCF will die Züge, die sie als „TGV M“ bezeichnet, im Juni 2024 in Betrieb nehmen.[41] Die Züge wurden 2021 mit dem German Design Award ausgezeichnet.[42]
Die neue französische Eisenbahngesellschaft Proxima bestellte im Oktober 2024 zwölf Avelia Horizon samt Wartung der Fahrzeuge für die Dauer von 15 Jahren in einem Werk in Marcheprime in der Nähe von Bordeaux. Laut Alstom hat der Auftrag einen Gesamtwert von fast 850 Millionen Euro.[43]
Technik
Eine wesentliche Neuerung gegenüber dem TGV ist der verteilte Antrieb, bei dem angetriebene Achsen unter den Wagen verteilt sind und damit auf Triebköpfe verzichtet werden kann.[1] Wie der TGV besitzt auch der AGV Jakobs-Drehgestelle. Die Technik der zu den Mittelwagen gehörenden angetriebenen Jakobs-Drehgestelle wurde beim Rekordfahrten-Programm des V150 erprobt.[44] Ein 11-Sektionen-Zug hat zwölf Drehgestelle, davon sechs angetrieben, und ist etwa 200 m lang. Nach Angaben von Alstom sind Drehgestelle die wartungsintensivsten Teile und das Einsparen eines Viertels der Drehgestelle reduziere die Wartungskosten erheblich.[45]
Nach Angaben des Herstellers führen eine Reihe gewichtsreduzierender Konstruktionen wie eine nur 2,5 mm dicke Außenwand zu einem Gewichtvorteil von 17 Prozent gegenüber gleich langen Zügen der Wettbewerber. Der Energieverbrauch des Zuges sei um 15 Prozent geringer als der Energieverbrauch der nicht näher genannten Wettbewerbsprodukte. Ein Benzinäquivalent von 0,4 Litern je 100 Fahrgastkilometer wird ohne Angabe von Zugkonfiguration und Sitzplatzauslastung als Verbrauch genannt. Der vom Hersteller angegebene CO2-Ausstoß von 2,2 Gramm je Fahrgastkilometer bezieht sich auf den französischen Strommarkt mit hohem Atomstromanteil. Als Leistungskennziffer wird für einen Zug mit 11 Sektionen und einem Antrieb von sechs der zwölf Drehgestelle 22,6 kW/t angegeben. Das sei 23 Prozent mehr als bei dem Hauptwettbewerbsprodukt.[45] Nach Angaben des Herstellers liegt die Sitzplatzzahl im Verhältnis zur Zuglänge 20 Prozent höher als bei früheren Designs, der Energieverbrauch gegenüber dem TGV sei um 30 Prozent gesunken.[5]
Die geplante zulässige Höchstgeschwindigkeit im Regelbetrieb soll bei 360 km/h liegen[1], 40 km/h höher als jene der schnellsten TGV.
Nach Angaben des Herstellers konnte der Geräuschpegel des Zuges durch die besondere Konstruktion der Nase und Schallminderungsmaßnahmen an den Drehgestellen erheblich reduziert werden. Bei 360 km/h seien die Schallemissionen in etwa auf dem Niveau von Wettbewerbszügen bei Tempo 300 km/h bis 320 km/h.
Alstom erachtet die konstruktive Struktur des Zuges („articulated architecture“) als sicherheitsmäßig überlegen. Die festere Verbindung der Sektionen über die Jakobs-Drehgestelle verhindere im Falle eines Entgleisens ein ziehharmonikaartiges Falten des Zuges, da dieser in seiner Gesamtstruktur stabil bleibe. Bewegungen der Wagen untereinander seien deutlich reduziert. Die Position der Drehgestelle und Motoren zwischen den Wagen statt darunter minimiere die im Inneren wahrnehmbaren Geräusche und Vibrationen.[45] Energieverzehrer an den Zugenden sollen bei Kollisionen 4,5 Megajoule Energie absorbieren.[5]
Aufbau
Der Zug kann mit 7, 8, 11 oder 14 Sektionen konfiguriert werden, entsprechend etwa 250 bis 650 Sitzplätzen. Die Zuglänge liegt zwischen 135 Meter für einen 7-Sektionen-Zug und 250 Meter für einen 14-Sektionen-Zug. Der Zug ist nach Angaben des Herstellers mit bis zu 2,75 Meter Innenraumbreite geräumiger als Wettbewerbsprodukte[45][4]. Die Wagenkastenbreite liegt bei 2.985 mm[4].
Wagen mit zwei Ebenen für Sitzplätze, wie beim TGV Duplex, sind wegen des Unterflurantriebs beim AGV konstruktiv nur schwer möglich. Einen AGV mit Doppelstockwagen bezeichnete der technische Direktor von Alstom in einem Interview jedoch als denkbar. Gegenüber dem TGV wurde die Dachscheitelhöhe der Wagen erhöht, um die Höhe des Innenraumes zu steigern und um auf dem Dach zusätzliche Komponenten unterbringen zu können, u. a. Klimaanlagen und Bremswiderstände.[4][16]
Charakteristisch für das Design des Zuges sind u. a. die lang gezogene, überhängende Schnauze und Fenster in den Endwagen, die die aerodynamische Kopfform aufnehmen.[4] Zwischen der Nase und dem Übergang zum Fahrgastraum liegen zehn Meter. Die Frontpartie hängt dabei fünf Meter über dem vorderen Drehgestell über.[5]
Innenausstattung, Fahrgastkomfort
Die Reduzierung von Vibrationen und Fahrgeräuschen im Fahrzeuginneren sowie die Verbesserung des Platzangebotes durch eine größere Innenraumbreite waren nach Angaben von Alstom die Hauptziele der Entwicklung. In den technischen Dokumenten des Herstellers werden daneben unter anderem größere Fenster, ein variables LED-Beleuchtungssystem, Verbesserungen für Fahrgäste mit Behinderungen, Videomonitore und Internetanschlüsse für die Verbesserung des Fahrgastkomforts genannt.
Um mehr Platz im Bereich der Armlehnen zu gewinnen, erfolgt die Klimatisierung über Luftöffnungen in der Decke. Die Innenraumbreite erreicht bis zu 2.750 mm. Im Prototyp erreicht die Mittelgangbreite dabei mehr als einen Meter.[5]
Auszeichnungen
Der Alstom AGV ist im Jahr 2008/2009 mit dem Innovationspreis des Privatbahn Magazin ausgezeichnet worden.
Literatur
Christoph Müller: Ferrari auf Schienen. In: eisenbahn magazin. Nr.4/2012. Alba Publikation, April 2012, ISSN0342-1902, S.26–29.
Bernhard Studer: Die Privatgesellschaft NTV macht Tempo. Rasen um die Wette. In: eisenbahn magazin. Nr.3/2013. Alba Publikation, März 2013, ISSN0342-1902, S.28–30.
↑Guillaume Leborgne: Materiel. Philippe Mellier: << Nous ferons l'AGV Duplex >>. 2008, S.12–13: „(Philippe Mellier) .. Il y aura un AGV Duplex .. […] .. Il est normal que la SNCF réfléchisse a l'apres-TGV 2N2. Pour nous, le successeur, c'est l'AGV Duplex.“